C. Müller-Botsch: Biographien von unteren NSDAP-Funktionären

Cover
Titel
"Den richtigen Mann an die richtige Stelle". Biographien und politisches Handeln von unteren NSDAP-Funktionären


Autor(en)
Müller-Botsch, Christine
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
369 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Werner, Friedrich-Schiller-Universität Jena,

Für die wissenschaftliche Untersuchung der NSDAP unterhalb der Kreisebene gibt es – der ausgesprochen schwierigen Quellenlage zum Trotz – vielversprechende Ansätze. Die Einschätzung der NSDAP-Ortsgruppen als „Fundament der Diktatur“1 erweitert das Verständnis des Nationalsozialismus als einer fest in der deutschen Gesellschaft verankerten Diktatur. Zugleich ermöglicht der Blick auf die Parteibasis eine differenzierte Betrachtung der Motive politischer Akteure vor Ort.2 Auf diese Motive konzentriert sich auch die Dissertation der Politikwissenschaftlerin Christine Müller-Botsch. Ihre Studie fragt mit einem anspruchsvollen methodischen Ansatz nach den Beweggründen und Handlungsweisen unterer NSDAP-Funktionäre und versucht, diese anhand biografischer Selbstzeugnisse zu analysieren. Die Quellenbasis bilden von den Funktionären verfasste Lebensläufe aus den Beständen der Stuttgarter NSDAP sowie schriftliche Äußerungen aus Spruchkammerverfahren nach 1945.

Als Methode wählt Müller-Botsch die so genannte Fallrekonstruktion, ein unter anderem von der Göttinger Soziologin Gabriele Rosenthal entwickeltes Verfahren, das bisher vor allem bei der Auswertung narrativer Interviews angewendet wurde.3 Im Zentrum steht dabei die Absicht, „einer Lebensgeschichte nicht mit vorab festgelegten Kategorien zu begegnen“, sondern sie aus ihren eigenem „Regelsystem“ heraus zu verstehen, um eine „Analyse nicht nur der dargestellten Geschichte, sondern auch der erlebten Geschichte“ zu erreichen (S. 75f.). Anhand eines Lebenslaufs werden Hypothesen über Schwerpunkte und Beweggründe des dargelegten Lebens gebildet, deren Plausibilität dann immer wieder an weiteren Selbstaussagen überprüft wird. Dieses „sequenzielle“ Vorgehen soll gewährleisten, dass den Selbstzeugnissen keine Deutungsmuster übergestülpt werden, sondern ihre eigene Logik erkannt wird.

In einem umfangreichen methodischen Kapitel wirbt Müller-Botsch für diese Vorgehensweise, ohne sie allerdings ausreichend zu problematisieren. Denn ob die in der Sozialforschung schon bei narrativen Interviews keineswegs unumstrittene Methode auf schriftliche Quellen anwendbar ist, scheint zumindest fraglich. Eine vermeintlich völlige Offenheit gegenüber dem Forschungsobjekt stellt grundsätzlich eine Illusion dar, die umso schwerer aufrecht zu erhalten ist, je stärker sich die zu rekonstruierende Vergangenheit allein über Sprache erschließt. Müller-Botsch wendet die Methode der Fallrekonstruktion auf schriftliche Selbstpräsentationen von vier beispielhaft ausgewählten Funktionären an. Ihre Deutungen politischer Beweggründe und Handlungsweisen scheinen häufig plausibel, manchmal beliebig, immer aber bleiben sie spekulativ. Entsprechend oft wird der Konjunktiv bemüht, wird vermutet und angenommen, und relativierende Wörter wie „möglicherweise“ sind Legion.

Am Beispiel eines Stuttgarter Blockleiters und späteren Ortsgruppenleiters legt Müller-Botsch ihre Vorgehensweise detailliert dar, und hier werden auch die Schwierigkeiten des gewählten Ansatzes besonders deutlich. Wenn etwa die politische Karriere des NS-Funktionärs als „Familienprojekt“ (S. 118) gedeutet wird, da er in den Lebensläufen seine Frau erwähnt und öfter das Wort „wir“ gebraucht, dann ist das auf den ersten Blick zwar naheliegend. Es könnten aber auch ganz andere Gründe dafür verantwortlich sein, die sich über die schriftlichen Ausführungen allein nicht erschließen. Auch wenn die Methode den sukzessiven Ausschluss nicht tragfähiger Hypothesen vorsieht, bedeutet die durchgängige Schlüssigkeit einer Annahme noch nicht, dass wir es mit historischen Fakten zu tun haben, die wir als gesetzt betrachten sollten.

In psychologisierenden Deutungen wird zudem erkennbar, dass Müller-Botsch keineswegs ohne vorab festgelegte Kategorien arbeitet. Die Tatsache etwa, dass der erwähnte Funktionär die Umfangsvorgaben eines NSDAP-Lebenslaufs einhielt, wertet sie als Haltung, nach der der Verfasser „Anforderungen zu erfüllen sucht und die Partei als Autorität wahrnimmt […], deren Vorgaben er sich unterordnet“ (S. 124). Dies spreche „nicht für ein starkes Selbstbewusstsein gegenüber der Partei“ (ebd.). Sein „Drauflosschreiben“ beim Verfassen des Lebenslaufs weise zudem „auf ein nicht unerhebliches Vertrauen gegenüber der NSDAP hin“ (S. 123).

Schießt Müller-Botsch mit solchen Mutmaßungen über das Ziel einer vorsichtigen Analyse hinaus, so bleibt an anderen Stellen unklar, worauf sie mit einzelnen Annahmen hinaus will, beispielsweise wenn sie von der Verwendung von Abkürzungen in einem Lebenslauf darauf schließt, der Verfasser sei mit dem gebotenen Raum auf dem Formular nicht zufrieden gewesen. Mitunter sind die präsentierten Einzelfälle sehr interessant, etwa wenn die Rolle körperlicher Gewalt problematisiert oder die Frage aufgeworfen wird, in welchem Maße persönliche Eigenwilligkeit der geforderten Funktionsausübung entgegenstehen konnte. Immer aber stehen schlüssige Annahmen neben reinen Spekulationen, was nur unzureichend reflektiert wird. Hier wäre eine kritische Abwägung der Grenzen der Fallrekonstruktion wünschenswert gewesen. Zudem hätte im Sinne einer gebotenen Methodenoffenheit der Stellenwert des gewählten Ansatzes gegenüber der historischen Auswertung serieller Quellen herausgearbeitet werden können.

Denn dass Müller-Botsch mit ihrer Studie auf einen bedeutsamen Bestand bisher kaum ausgewerteter Massenquellen verweist, steht außer Frage. Im letzten Kapitel, in dem die Autorin auf breiterer Quellenbasis eine Typisierung politischer Beweggründe von unteren Funktionären im Nationalsozialismus entwickelt, ist ihre Studie denn auch überzeugender. Zudem erweitert sie die eher strukturgeschichtlich angelegte Arbeit von Carl-Wilhelm Reibel um biografische Aspekte der politischen Arbeit nationalsozialistischer Funktionäre.4 Müller-Botsch arbeitet insgesamt drei Typen biografischer Bedeutung der NSDAP-Tätigkeit heraus: die Parteitätigkeit als „biographische Chance“, als Anpassung an veränderte Herrschaftsverhältnisse und schließlich als „Instrument zur Fortsetzung anderer biographischer Handlungsorientierungen“.

Der erste Typus umfasst Funktionäre, die in ihrer Parteitätigkeit zentrale biografische Impulse auslebten, die sich vorher zumeist nur sehr eingeschränkt entfalten konnten, wie etwa eine ausgeprägte Gewalttätigkeit oder eine besondere ideologische Affinität. Dem zweiten Typus werden Funktionäre zugeordnet, die ihre bisher gelebten Handlungsorientierungen aufgrund besonderer Flexibilität anpassen konnten und damit Verhaltensmuster fortführten, die vor 1933 in anderen politischen Kontexten – wie der Sozialdemokratie oder der Gewerkschaftsbewegung – wirksam gewesen sind. Der dritte Typus schließlich bezieht sich auf Funktionäre, die mit ihrer Parteitätigkeit andere Lebensschwerpunkte – zum Beispiel berufliche Ambitionen oder ein spezifisches soziales Selbstverständnis – verwirklichen konnten.

Mit diesem Spektrum zur Deutung politischer Tätigkeit im Dritten Reich bietet Müller-Botsch diskussionswürdige Anknüpfungspunkte für künftige Forschungen. Allerdings wird die Methode der Fallrekonstruktion den interessanten Quellen kaum gerecht, vor allem wenn sie isoliert angewendet wird. Zudem ist die Illusion hinderlich, man könne sich dem Forschungsobjekt unvoreingenommen nähern. Hier scheint vielmehr die präzise Selbstvergewisserung der eigenen Voreingenommenheit geboten zu sein.

Anmerkungen:
1 Carl-Wilhelm Reibel, Das Fundament der Diktatur. die NSDAP-Ortsgruppen 1932-1945, Paderborn 2002.
2 Detlef Schmiechen-Ackermann, Der „Blockwart“. Die unteren Parteifunktionäre im nationalsozialistischen Terror- und Überwachungsapparat, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), S. 575-602.
3 Gabriele Rosenthal, Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung, Weinheim 2005.
4 Vgl. Reibel, Fundament (wie Anm. 1).

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension