J. Herres u.a. (Hg.): Politische Netzwerke

Titel
Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert


Herausgeber
Herres, Jürgen; Neuhaus, Manfred
Reihe
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen, Sonderbd. 8
Erschienen
Berlin 2002: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marion Leffler, Vaxjö Universität, Institut für Humaniora/Geschichte, Schweden

Kulturhistoriker sehen Quellen anders. So gehören Briefe und Tagebücher zwar seit langem zum Quellenrepertoire politischer Biographen. Doch diese nutzten die persönlichen Hinterlassenschaften auf andere Weise und zu anderen Zwecken als Kulturhistoriker wie Robert Darnton oder Carlo Ginzburg. Während in Biographien die Absichten einzelner Akteure interpretiert werden, wollen Kulturhistoriker die Tagebuch- oder Briefschreibenden als Träger und/oder Erneuerer einer spezifischen Kultur hervorheben. Mit dem Vorwort der Herausgeber wird der vorliegende Band der letzteren Richtung zugeordnet. Die theoretischen Folgen dieser Entscheidung sind aber nur angedeutet oder sollen sich von selbst verstehen, indem Stichworte wie „Gegenöffentlichkeit“, „Briefkultur“, „kulturgeschichtliche Dimensionen“, „Erfahrungshorizonte“ und „Netzwerke“ in die Debatte geworfen werden. Doch bleibt zu fragen, inwieweit die Beiträge diese theoretische Perspektiven entwickeln.

Die Herausgeber betonen einleitend, dass „die ausgeprägte Briefkultur des Bürgertums“ bekannt und „weitläufig erforscht“ sei, während die Bedeutung von Briefen für die frühen Oppositions- und Arbeiterbewegungen, besonders in den Jahren nach 1848, bisher wenig Beachtung gefunden habe. Der Band soll somit erstens eine Forschungslücke füllen. Er soll zweitens eine Ergänzung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) erbringen, da sich diese trotz „kaum noch zu überbietender Vollständigkeit“ doch auf das Netzwerk dieser beiden führenden Persönlichkeiten konzentriert und somit die Netzkarte der europäischen Arbeiterbewegung nicht mit allen ihren Knotenpunkten aufzeichnen kann. Er soll drittens auf die Notwendigkeit der kritischen Auswertung von Briefen hinweisen und das „Neben- und Gegeneinander der Forschungsrichtungen und Editionen“ überwinden, was besonders für die auf Marx und Engels ausgerichtete Forschung zu gelten scheint. Ein methodisch-kritisches Vorgehen soll politische Polemik ersetzen, eine kulturgeschichtliche an die Stelle einer autorenzentrierten Perspektive treten. Der dialogische Charakter von Briefen und ihre Eigenschaft als gruppenbildendes Kommunikationsmittel soll herausgestellt werden.

Weder der Titel des Buches noch das Vorwort der Herausgeber beschreiben die verschiedenen Inhalte der Beiträge zutreffend. Es bleibt unklar, warum die an sich zwar interessanten, aber im Hinblick auf politische Oppositionsbewegungen und frühe Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts wenig relevanten Artikel von Ingo Schwarz über den Briefwechsel Alexander von Humboldts bzw. von Lars Hendrik Riemer über die Korrespondenz Karl Josef Anton Mittermaiers in den Band aufgenommen wurden. Ein weiterer Zweifel an den Ankündigungen der Herausgeber stellt sich ein, wenn man die autorenzentrierte Darstellungsweise der meisten der Beiträge beachtet. Eben diese sollte ja vermieden werden. Doch nur Thomas Welskopp gelingt es wirklich, das Netzwerk der jeweiligen Briefschreiber in den Mittelpunkt zu stellen. Auch die Reihenfolge der Beiträge scheint ungeplant und zufällig. Nur wenig verbindet sie miteinander. Zwei Aufsätze behandeln Briefe von und an Frauen, während die übrigen zehn Briefnachlässe von Männern analysieren.

Aus dem ersten Beitrag von Gisela Schlientz erfahren wir, wie sich George Sand, die gefeierte französische Autorin und Demokratin, während der Revolution verhielt. Ihre politischen Freunde, von denen sich viele im Exil oder im Gefängnis befanden, wandten sich mit Gesuchen um Hilfe an sie - in Einzelfällen auch mit Vorwürfen. Interessant dargestellt ist, wie diese Briefe verschlüsselt wurden und welche Wege sie gehen mussten, um nicht von der Zensur entdeckt zu werden. Verschlüsselt oder nicht, die Briefe sprachen stets die Frau George Sand an, von der zeitgemäß weibliche Fürsorge erwartet wurde. Mit einem geschlechtstheoretischen Ansatz wäre dieser Beitrag noch spannender gewesen.

Gisela Schlientz’ Artikel lässt sich mit dem von Alexa Geisthövel vergleichen. Obwohl sie nur zwei Briefe einer einzelnen Briefschreiberin analysierte, kann sie dennoch eine plausible Interpretation eines viel weiter reichenden Zusammenhanges vorstellen: des politischen Verhaltens bürgerlicher Frauen vor dem Hintergrund „der parlamentarischen Ordnung der Geschlechter“ (S. 312) in der ersten deutschen Nationalversammlung 1848. Das gelingt ihr, indem sie eine ausführliche Diskussion der Literatur in bezug auf Frauen in der deutschen Revolution 1848/49 und darin enthaltene geschlechtertheoretische Ansätze auf ihre eigene Analyse bezieht. Gegen diesen Hintergrund kann sie die Begrenzungen traditioneller Biographien überschreiten.

Die Mehrzahl der Beiträge behandeln die Korrespondenzen von Männern und dadurch entstehende bzw. aufrechterhaltene männliche Netzwerke, ohne sich auf Geschlechtertheorien zu beziehen. Welche Bedeutung diese Netzwerke für männliche Identitätsentwicklung(en) und damit zusammenhängende politische Handlungsbereitschaft hatten, wird daher nicht gefragt. Es geht eher – auf recht konventionelle Weise – um politische und in einigen Fällen wissenschaftliche Gruppierungen, die uns durch die Korrespondenzen deutlicher und intimer als auf der Grundlage von anderen Quellen entgegen treten. So bietet Christian Jansen eine neue Interpretation der Kontroverse zwischen Marx und Vogt. Marx’ Behauptung, Vogt sei ein Agent Napoleons gewesen, erweist sich als falsch. Rolf Dlubek bringt uns Johann Philipp Becker, den Präsidenten der Sektionsgruppe deutscher Sprache der Internationalen Arbeiterassoziation, näher. Haila Ochs und Sabina Wiedenhoeft vermitteln anhand der Briefe des Architekten Adolf Club dessen Eindrücke von der amerikanischen Gesellschaft der 1850er Jahre, die er u.a. auch an Karl Marx weiter gab. Erhard Hexelschneiders Beitrag beschäftigt sich mit dem Briefwechsel zwischen Ferdinand Lassalle und dem F.A.Brockhaus-Verlag Leipzig. Hier treten neben den politischen, wissenschaftlichen und geschäftlichen Interessen der Beteiligten auch deren menschliche Eigenschaften hervor. In allen diesen Beiträgen spielen Einzelpersonen die Hauptrolle. Das ist auch der Fall in den beiden Beiträgen, die nicht politische, sondern wissenschaftliche Netzwerke im Auge haben. So erlaubt uns Ingo Schwarz einen Einblick in den sehr umfangreichen Briefnachlass Alexander von Humboldts und lässt uns erkennen, wie und zu welchen Zwecken der Forschungsreisende und Wissenschaftler sich Kontakte verschaffte und wie er sie benutzte. Dabei werden auch die Konventionen dieser Kommunikation deutlich. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Beitrag von Lars Hendrik Riemer über die Korrespondenz Karl Josef Anton Mittermaiers.

Eine etwas andere Position nimmt der Beitrag von Martin Hundt über den Briefwechsel zwischen Arnold Ruge und Jakob Venedey ein. Hier stehen weniger die Autoren der Briefe als ihre politischen Kontroversen als Beispiele für verschiedene Richtungen der Vormärz-Opposition im Mittelpunkt. Die Konsequenzen verschiedener politischer Stellungnahmen treten deutlicher hervor als die Persönlichkeiten. Eine noch mehr untergeordnete Rolle spielen Persönlichkeiten in dem Beitrag von Thomas Welskopp, der die Briefkommunikation in der frühen deutschen Sozialdemokratie in den Mittelpunkt stellt und sich dabei vor allem für den Organisationsalltag und die Mitglieder vor Ort interessiert.

Die beiden abschließenden Beiträge, von Georgij Bagaturija bzw. von Galina Golovina, stellen Orientierungen in den Quellen dar und dürften daher für zukünftige Forschungsprojekte von großem Wert sein. Georgij Bagaturija liefert eine gut strukturierte und informative Übersicht über die Briefpartner von Karl Marx und Friedrich Engels. Galina Golovina berichtet über die Provenienz der Sammlungen im Rubländischen Staatlichen Archiv für Sozial- und Politikgeschichte (RGA). Auch die anderen Beiträge enthalten ausführliche Angaben und Kommentare zu der jeweiligen Quellenlage. In dieser Hinsicht ist die Edition als beispielhaft zu bezeichnen. Wünschenswert wäre aber, die Diskussion über diese Quellen nicht nur methodisch, sondern auch theoretisch zu führen. Mit welchen theoretischen Begriffen kann diese Art von Kommunikation erfasst werden? Wie können diese Begriffe ihrerseits praktisch verwendet werden? Was konstituiert beispielsweise „Briefkultur“, „Gegenöffentlichkeit“, „Erfahrungshorizonte“? Diese Fragen werden in der Mehrzahl der Beiträge weder deutlich gestellt noch ausreichend beantwortet. Deshalb reichen die meisten von ihnen über zwar interessante, aber autorenzentrierte, traditionelle Beschreibungen nicht hinaus. Die Edition verbleibt im Grenzland zwischen Kulturgeschichte und traditioneller biographischer Geschichte.

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