B. Heidenreich (Hg.): Politische Theorien

Titel
Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus - Liberalismus - Sozialismus


Herausgeber
Heidenreich, Bernd
Erschienen
Berlin 2002: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
666 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hermann-Josef Große Kracht, Wiss. Assistent am Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster, Hüfferstr. 27, 48149 Münster

Das 'lange 19. Jahrhundert', das viele Historiker mit guten Gründen von 1789 bis 1914/18 dauern lassen, ist kaum fein säuberlich in Schubladen und Rubriken einzuordnen, auch nicht in solche, die von ihm selbst erst hervorgebracht wurden. Dies gilt nicht zuletzt auch für die politisch-philosophischen Denkansätze und Theoriemuster, die diese Zeit geprägt haben. Wer es also unternimmt, ein Handbuch der politischen Theorien des 19. Jahrhunderts vorzulegen, ist gut beraten, nicht auf ein allzu einfaches Klassifizierungsschema zurückzugreifen, wenn er nicht grandios scheitern will.

Genau in diese Falle ist aber Bernd Heidenreich mit seinem hier zu besprechenden Handbuch geraten. Der Untertitel verweist zurecht auf die drei wesentlichen Strömungen der politischen Philosophie, die das 19. Jahrhundert gekennzeichnet haben, auf Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus. Diese drei Strömungen werden aber nicht als solche behandelt; vielmehr dienen sie nur als Überschriften und Sammelrubriken zur Einordnung verschiedener politischer Theoretiker des 19. Jahrhunderts, denen das Handbuch ausführliche Artikel zu Leben und Werk widmet. Dass sich aber viele der wesentlichen politiktheoretischen Denker dieses Jahrhunderts kaum stimmig in diese schlichte Trias einfügen lassen, scheint der Herausgeber durchaus geahnt zu haben, denn schon im Inhaltsverzeichnis wird dieses Schema vielsagend aufgeweicht: statt von 'Sozialismus' ist dort von 'Sozialismus und andere Antworten auf die soziale Frage' die Rede, was die Sache allerdings nicht wirklich verbessert. Ich vermute, dass eindeutig sozialkonservativ zu verordnende Denker wie Franz von Baader, Hermann Wagener und Lorenz von Stein, die Heidenreich nicht beim Konservatismus, sondern in dieser hybriden Mischkategorie einsortiert, sich diese Zuweisung heftig verbitten würden, wenn sie es denn noch könnten. Und ob sich ein durchaus konservativer Kirchenmann wie Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der sich trotz allen Engagements für die 'sociale Frage' stets als entschiedener Gegner der Sozialdemokratie verstand, in dieser Kategorie richtig aufgehoben fühlte, darf man ebenfalls bezweifeln.

Heidenreichs Handbuch präsentiert insgesamt 26 Einzelportraits politischer Denker des 19. Jahrhunderts, wobei allerdings nicht klar wird, wie und wo der Herausgeber die nationalen Grenzen zieht. Insgesamt dominieren deutsche Autoren, aber auch Edmund Burke, Joseph de Maistre, Louis de Bonald, Adam Smith, Alexis de Toqueville und John Stuart Mill sind vertreten. Englische und französische Vertreter des Sozialismus, etwa Thomas Carlyle oder Jean Jaurès, die man dann eigentlich auch hätte erwarten können, fehlen dagegen. Überhaupt hält die Auswahl der behandelten Autoren des 19. Jahrhunderts einige Überraschungen bereit: man wundert sich, wieso Adam Smith und der Abbé Sieyès aus dem 18. kommentarlos ins 19. Jahrhundert vorrutschen und sich hier platzieren konnten; man fragt sich, warum die eigentlich recht bedeutungslosen Brüder Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach ein eigenes Kapitel erhalten, einflussreiche Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts wie der konservativ-reaktionäre Heinrich von Treitschke, der Katheder-Sozialist Gustav Schmoller und der 'sozial-liberale' Hermann Schulze-Delitzsch jedoch nicht; und außerdem stellt man mit Bedauern fest, dass die ja auch zum politischen Denken des 19. Jahrhunderts gehörenden sozialdarwinistischen Ansätze politischer Theorie ausgeklammert wurden. Vollends unverständlich und unverzeihlich ist jedoch das Fehlen eines Beitrags über denjenigen Denker, der die Entwicklung der politischen Theorien des 19. Jahrhunderts zumindest in Deutschland wie kein zweiter geprägt hat: Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Ihm wird ohne Angabe von Gründen ein eigener Beitrag verweigert.

Natürlich hat dieses Handbuch aber auch seine starken Seiten. Dazu gehören zum einen die luziden und präzisen Einführungen zu den drei Grundströmungen, die allesamt aus der Feder von Gerd Göhler stammen. Und dann ist hier vor allem die starke Aufmerksamkeit für die in anderen Handbüchern oft allzu geringschätzig behandelten Traditionen des politischen Konservativismus, der Sozialromantik und des antiindividualistisch-organologischen Staatsdenkens hinzuweisen – Traditionen, deren Antworten heute zwar zurecht als hoffnungslos obsolet gelten, die aber nicht nur als erste die 'sociale Frage' von Pauperismus und Verelendung entdeckten, sondern auch die heute wieder breit diskutierten Fragen nach Gemeinsinn, Kohäsion und den soziomoralischen Wertgrundlagen des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf die Tagesordnung setzten. Eine größere Vertrautheit mit den sozialromantisch-konservativen Traditionen des 19. Jahrhunderts kann heute nur von Vorteil sein; und sei es nur zu dem Zweck, etwa den von vielen Zeitgenossen begrüßten Konzepten des us-amerikanischen Kommunitarismus und seiner Gemeinschaftseuphorie mit einer historisch desillusionierten Skepsis zu begegnen.

In der Thematisierung sozialkonservativen Denkens liegt ohne Frage der besondere Wert dieses Bandes: Hans-Christoph Kraus präsentiert einen wertvollen und umfangreichen Überblicksartikel zum politischen Denken der deutschen Spätromantik (ein Wiederabdruck aus dem 'Literaturwissenschaftlichen Jahrbuch' 1997), alle relevanten Theoretiker aus dem Umfeld der breiten sozialromantischen Tradition (von Adam Müller bis Wilhelm Emmanuel von Ketteler) sind vertreten und erhalten z.T. ausufernd viel Platz. So darf Hans-Christoph Kraus auf nahezu 50 Seiten Werk und Bedeutung von Hermann Wagener würdigen, während sich etwa Eduard Bernstein mit weniger als 20 Seiten begnügen muss.

Wer sich also für die Traditionen des Konservatismus in Deutschland interessiert, ist mit diesem Handbuch an einer guten Adresse. Wer aber vor allem etwas Repräsentatives über die liberalen oder über die sozialistischen Denkbewegungen des 19. Jahrhunderts erfahren will, wird mit diesem Werk wohl nur partiell glücklich werden. Hier sollte der am Liberalismus und seinen Konzeptionen des Politischen Interessierte auch in Zukunft noch zu Lothar Galls und Rainer Kochs vierbändiger Textsammlung aus dem Jahr 1981 1 oder zu den einschlägigen Gesamtdarstellungen von James J. Sheehan und Dieter Langewiesche 2 greifen; und wer nach einer gründlichen Einführung und einem zuverlässigen Überblick zum sozialistischen Denken in Deutschland sucht, wird in Zukunft ohnehin nicht an Walter Euchners vorzüglichen Beitrag in Helga Grebings neuer Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland vorbeikommen 3.

Anmerkungen
1 Lothar Gall u. Rainer Koch (Hg.), Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert, 4 Bde., Frankfurt - Berlin 1981.
2 James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770-1914, München 1983; Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988.
3 Walter Euchner, Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland. Teil I, in. Helga Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik, Essen 2000, 15-350.

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