A. Rödder: Radikale Herausforderung

Titel
Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Revolution 1846-1868


Autor(en)
Rödder, Andreas
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts 52
Erschienen
München 2002: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
574 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Schwarz, Universität Duisburg-Essen

Im Jahr 1846 setzte der konservative Premierminister Robert Peel die Aufhebung der Getreidezölle durch, wohl wissend, dass er mit dieser Entscheidung seine Partei spalten würde. Ihm ging es darum, durch eine Annäherung der ländlich-konservativen Aristokratie an einen Teil des aufsteigenden Bürgertums die Macht der konservativen Eliten langfristig zu bewahren und zu festigen. Die Mehrheit seiner Parteifreunde hingegen sah die ureigensten Interessen der englischen Konservativen, d.h. einer agrarisch ausgerichteten Aristokratie, zugunsten der wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen der städtisch-industriellen Mittelschichten verraten. Darüber stürzte der Premier. Darüber spalteten sich die Partei in die Gruppe um Robert Peel und fast die gesamte ministrable Elite einerseits und die Gruppe der protektionistischen, vormodern und ländlich-agrarisch orientierten Konservativen andererseits, die zumeist auf den Hinterbänken des Parlaments ihren Platz hatten. Jahrelang beherrschte eine lähmende Angst die Vertreter der – zunächst weiterhin – protektionistischen Richtung, vor einer ununterbrochenen Erfolgslinie des politischen Gegners und vor dem eigenen, schließlich totalen Machtverlust: „Where it will end, Heaven only knows! I tremble for the future“, schrieb Spencer Horatio Walpole 1853. Es gehört zu den interessantesten Fragen von Politik und Ideengeschichte Englands im 19. Jahrhundert, wie es den Konservativen angesichts einer solchen Ausgangslage gelang, sich innerhalb von zwei Jahrzehnten zur politisch dominierenden Kraft zu entwickeln. Welche Weichenstellungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ebneten den Weg dafür, dass die britische Politik der letzten etwa einhundertdreißig Jahren zum überwiegenden Teil von konservativen Regierungen bestimmt wurde?

Vor diesem Hintergrund untersucht diese solide erarbeitete Stuttgarter Habilitationsschrift die Einstellungen, Thesen und Konzepte, mit denen die ländlich-aristokratischen Konservativen zwischen 1846 und 1868 auf die Herausforderung durch die städtisch-industrielle Moderne und ihre politische Stütze, den bürgerlichen Radikalismus reagierten. Es geht erstens um die Inhalte des politischen Denkens wie Menschenbild, Geschichtsbild und Zukunftserwartung sowie Vorstellungen zu Gesellschaft und Wirtschaft, Staat und Politik, zweitens um die Art, wie sich die Grundkonzepte im politischen Tagesgeschäft niederschlugen, und drittens um die Richtung, in die sich die Konservativen nach der Parteispaltung entwickelten. In den Blick genommen werden dazu die Unterhausabgeordneten und die Mitglieder des Oberhauses, also rund 200 Personen plus rund 100 Bewerber um Unterhausmandate – erweitert um einige Publizisten der gleichen Couleur. Allerdings liegt der Schwerpunkt eindeutig auf den Männern der Parteispitze bzw. solchen, die im Laufe der mittviktorianischen Periode in diese Spitze aufstiegen. Das wird mit dem wenig überraschenden Ergebnis abgestützt, dass die wesentlichen Konzeptionen der Partei von ihrer Elite geprägt worden seien (S. 495f). Um konservative Positionen und konservative Politik der Epoche zu bestimmen, analysiert der Verfasser sechs Arten von Quellen philologisch-hermeneutisch: Reden, Wahladressen, Beiträge in Periodika und einzelne Druckschriften, Selbstzeugnisse, Briefe und Korrespondenz und ausgewählte Akten. Berücksichtigt wurde demnach eine breite und umfangreiche Quellengrundlage. Das ist beeindruckend, wirkt sich jedoch wiederholt hemmend auf den Lesefluss aus, besonders dann, wenn die Wechsel zwischen den – im englischen Original – zitierten Ausdrücken und Passagen und der – deutschsprachigen – Darstellung zu kurz ausfallen.

Wenn der Kern des Konservatismus für die Zeit nach 1846 bestimmt werden soll, so war er, wie die zahlreichen Zeugnisse – und der mitunter überbordende Anmerkungsapparat – belegen, in der Abwehrhaltung gegen den radikalen Liberalismus zu finden. Der Radikalismus übernahm die Funktion eines Feindbildes, das die nach der Spaltung verbliebenen Konservativen zu integrieren vermochte. Selbst nach 1852, als die Partei den Protektionismus aufgab und eine inhaltliche Neuorientierung folgte, blieb der Anti-Radikalismus prägend. Unter maßgeblichem Einfluss von Benjamin Disraeli, jenem in der Forschung kontrovers beurteilten Politiker, der hier überzeugend als Machtpolitiker und Streiter für konservative Grundprinzipien zugleich dargestellt wird, richtete sich die Partei darauf aus, den „Toryismus“ auf nationaler Ebene (wieder-)herstellen zu wollen. Die Konservativen sollten sich nach Disraelis Vorstellung den gesamtgesellschaftlichen Tendenzen öffnen, ohne jedoch auf ihre Grundprinzipien zu verzichten. Das gelang, so ein zentrales Ergebnis der Untersuchung, durch eine soziale und inhaltliche Erweiterung des societas civilis-Konzepts, durch eine Ausweitung des Verständnisses von der politischen Nation, deren Führung künftig auch aus anderen gesellschaftlichen Gruppen als der ländlich-agrarischen Aristokratie bestehen konnte, und schließlich durch die Verlagerung der Auseinandersetzung mit dem Radikalismus von der sozioökonomischen auf die politische Ebene. Die von den Konservativen 1867 eingebrachte Gesetzesvorlage zur Änderung des Wahlrechts war demnach kein Opportunismus, keine Kapitulation vor einer vermeintlich unabwendbaren politischen und gesellschaftlichen Tendenz zur Demokratisierung. Vielmehr handelte es sich um eine Art Vorwärtsverteidigung, die ihre Energien aus einer gewandelten und dennoch in der Substanz erhaltenen konservativen Auffassung der Sozial- und Verfassungsordnung unter aristokratischer Führung beziehen sollte, eine Politik und Konzeption, die der Autor mit dem Begriff des „anti-radikale(n) Radikal-Konservatismus“ (S. 502) umschreibt.

Blickt man mit dem heutigen Wissen auf den Wandel, den die Konservativen in den mittleren Dekaden des 19. Jahrhunderts vollzogen, so scheint Disraelis Strategie aufgegangen zu sein. Die Konservativen nahmen die radikale Herausforderung der viktorianischen Epoche nicht nur an, sondern bewältigten sie schließlich in einer Weise, die zum Schlüssel für spätere Anpassungen und von herausragender Bedeutung wurde.

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