A. Bellagamba u.a. (Hrsg.): Beside the State

Cover
Titel
Beside the State. Emergent Powers in Contemporary Africa


Herausgeber
Bellagamba, Alice; Klute, George
Reihe
Topics in African Studies 10
Erschienen
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Lisa Schlegel, Institut für Afrikanistik, Universität Leipzig Email:

Neben – (noch) nicht unterhalb oder jenseits – des Staates agieren jene politischen und gesellschaftlichen Kräfte in Afrika, denen sich der vorliegende Sammelband widmet. So zumindest die Einordnung der Herausgeber: Die Terminologie „beside“ soll Formen politischer Organisation ins Zentrum rücken, die sich parallel zum Staat entwickeln und früher oder später den Staatsapparat und dessen Politiken aufrechterhalten oder sich seiner Souveränität bemächtigen. Dabei sei es auch notwendig zu diskutieren, unter welchen Umständen und für wie lange solche Machtbildungsprozesse überlebensfähige Alternativen zur dominanten Macht und Organisation des Staates schaffen – „Beside may […] become ‚below’, […], or ‚beyond’ […]“ (Bellagamba & Klute S.11). Mit der Benennung des Untersuchungsgegenstands als „emergent powers“ wird auf die Analyse von Brüchen und Krisenmomenten verwiesen, wenn Machtordnungen durch interne oder externe Kräfte herausgefordert werden (vgl. S.11).

Bezug nehmend auf einen konkreten Kontext – den Konflikt in der Grenzregion Nordmalis - verweisen Bellagamba und Klute in ihrer Einleitung auf die tief greifenden Veränderungen, die viele Teile des afrikanischen Kontinents in den vergangenen 20 Jahren erfahren haben. Die jüngere Geschichte Malis zeigt die Komplexität gegenwärtiger politischer Phänomene. Anhand ihrer lässt sich die Entstehung neuer Machtschauplätze beschreiben und es wird die Pluralität konkurrierender Machtzentren deutlich.
Der erklärte Fokus des Sammelbandes sind die politischen und gesellschaftlichen Kräfte neben dem Staat in Afrika, wie bspw. die para-souveräne Macht der Tuareg-Rebellen in Kidal. Es ist Ziel und Anspruch der Beiträge, die durch die „emergent powers“ entstehenden und entstandenen „blurred zones of [the state’s] sovereignty“ (S. 11) zu untersuchen. Die Herausgeber distanzieren sich von herkömmlichen Erklärungsmustern zur Entstehung alternativer Machtformen: Alternativen zur Macht des Staates sind zuvor als Ersatz für abnehmende staatliche Organisation oder als spezifische afrikanische Abweichungen vom modernen Staatsmodell interpretiert worden. Beide Argumente heben jedoch implizit oder explizit darauf ab, dass informelle und nicht-staatliche politische Akteure (wieder) verschwinden sobald staatliche Strukturen erneut aufgebaut und interne Probleme überwunden sind (vgl. S. 10). Vermeiden wollen die Herausgeber insbesondere auch die häufigen Stereotypisierungen von „weak“ und „failing [African] states“.

Der Sammelband umfasst eine stark empirische Bestandsaufnahme und Analyse vielfältiger Formen von „emergent powers“. Es wird dabei grob unterschieden in „old fellows“ und „new guys“. Doch soll es sich bei dieser Unterscheidung nicht um die Einteilung in zwei Kategorien handeln, sondern vielmehr um die beiden Pole eines durchaus komplexen Kontinuums.

Die Beiträge von John G. Galaty, Luca Jourdan und Miriam de Bruijn befassen sich mit neuen Phänomenen politischer (und gesellschaftlicher) Kräfte: „non-governmental“ und „community-based organizations“ der Masai in Kenia, die nach Galaty einen dritten politischen Raum zwischen Gesellschaft („ethnic-based regional collectivities“ S. 52) und dem Staat geschaffen haben und jenseits von Patronagebeziehungen kollektiv agieren; die politische Ordnung Eugene Serufulis in North Kivu (Demokratische Republik Kongo), welche parallel zum Staat politische, ökonomische und militärische Organisationsstrukturen umfasst (Jourdan); und drei Fallbeispiele aus einer Vielfalt zivilgesellschaftlicher Organisationen im Tschad, deren Spielraum und Chancen de Bruijn jedoch als sehr begrenzt beschreibt.
Die Besonderheit Somalilands, so zeigt Luca Ciabarri, liegt in der erfolgreichen Kombination vieler, sowohl neuer als auch historisch gewachsener, Elemente – Milizen, traditionelle Autoritäten, Protestbewegungen, Handelsnetzwerke und Geldüberweisungen der einflussreichen Diaspora. Der Autor beschreibt auch die große politische Bedeutung, die der internationalen Diaspora bei den Parlamentswahlen im Jahr 2005 zukam. Kooperation wie gewaltvolle Auseinandersetzung charakterisieren die gegenseitigen Beziehungen der differenten Kräfte. Der Staat Somalilands tritt als ein Akteur unter diesen in Erscheinung, wobei viele Dynamiken nahezu vollständig außerhalb seiner Regulierungsmacht liegen. So agieren die zahlreichen Akteure weitgehend autonom neben dem Staat.
Der Vergleich zweier Grenzregionen von Paul Nugent – Agotime (zwischen Ghana und Togo) und Darsilami (zwischen Gambia und der Casamance/ Senegal) – thematisiert die immer wieder vollzogenen und von offizieller Seite geduldeten Verletzungen der territorialen Souveränität. Internationale Staatsgrenzen zeigen sich hier als kreative Interaktionsorte: Lebenspraktiken und Politiken in den Grenzregionen formen die Konturen des Staates selbst.
Muslimische Gelehrte in Gambia (Alice Bellagamba) und “chieftaincy/ chiefdoms” in Ghana (Pierluigi Valsecchi), in Mozambique/ Sussundenga Distrikt (Helene Maria Kyed) und in Nordghana/ Nanumba Distrikt (Peter Skalník) sind Beispiele für neo-traditionelle Institutionen bzw. politische Akteure. Komplex ist das Verhältnis dieser chiefs als „old fellows“ und dem heutigen Staat in Afrika. Seit den 1990er-Jahren erfahren diese politischen Kräfte einen neuerlichen und erheblichen Bedeutungszuwachs (wobei dieser nur teilweise als positiv für die Funktionsweise dieser Institutionen erachtet wird). Diese Entwicklung reflektiert zum einen innergesellschaftliche Orientierungen – „the more the state in Africa fails to fulfil the expectations of its citizens, the more people seems to turn to solutions to former institutions among which are chiefdoms and chiefs” (Skalnik S. 183). Zum anderen ist sie auch dem internationalen Imperativ der Demokratisierung seit Beginn der 1990er-Jahre geschuldet: afrikanische Staaten instrumentalisierten die zuvor marginalisierten chiefs, um die lokale Bevölkerung zu mobilisieren (vgl. Kyed S. 179). In diesen Fällen war der Prozess der Wiederbelebung traditioneller Strukturen vor allem vom Staat gefördert. Staaten sahen in der Stärkung und Inkorporierung neo-traditioneller Kräfte eine Chance ihre Existenz zu sichern.

Die gewählten Beispiele zeigen sehr unterschiedliche Beziehungen und Verflechtungen zwischen den „old fellows“ bzw. „new guys“ und dem vermeintlichen Staat: Die Konstellationen reichen von gegenseitiger Unterstützung und wechselseitigem Nutzen über die Aufrechterhaltung des Staates durch lokale Kräfte und die Parallelität von Staat und „emergent powers“ unter geringer gegenseitiger Einflussnahme bis zur Konfrontation.
Im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit der Beispiele fällt es etwas schwer, all diese in gleichem Maße als bloße Akteure neben dem Staat eingeordnet zu sehen. Die Herausbildung von neuen Machtformen zu untersuchen, diese aber zunächst ausschließlich als politische Kräfte neben dem „dominanten Staat“ (vgl. Bellagamba & Klute S. 11) zu klassifizieren geht in Anbetracht der politischen und sozialen Ordnungsformen wie bspw. in Somalia/ Somaliland oder in der Demokratischen Republik Kongo möglicherweise nicht weit genug und wird einer umfassenden Beschreibung und Analyse afrikanischer Realitäten nicht vollständig gerecht.
Trotz des Anspruchs des Sammelbandes nicht „den Staat“ sondern seine Nebenspieler ins Zentrum zu rücken, wird „der dominante Staat“ dennoch häufig als deren feststehender Gegenpol impliziert. Zum einen lässt sich das wohl auf ein terminologisches Problem zurückführen. Andererseits fehlt es ein Stück weit an Klärung wer oder was den Staat unter den gegebenen Bedingungen herausgeforderter Souveränität darstellt bzw. ausmacht.
Aus manchen Beiträgen ließen sich durchaus deutlichere Schlussfolgerungen ziehen, zwar nicht was die mittel- oder langfristige Entwicklung einzelner Akteure angeht, aber zumindest und entscheidend was das Spezifikum von Raumordnungen im afrikanischen Kontext betrifft, für die die interessanten und detaillierten Beispiele Ausdruck sind.

Zutreffend – ein bereits gänzlich verändertes und lokale afrikanische Kontexte reflektierendes Verständnis von Staatlichkeit in Afrika voraussetzend – erscheint das von Bellagamba und Klute benannte Kontinuum staatlicher und nicht-staatlicher sowie formeller und informeller Politikstrukturen: der Staat existiert innerhalb dieses Kontinuums als ein Akteur (in unterschiedlicher Präsenz und Reichweite) neben und/oder in Interaktion bzw. Konfrontation zu einer Bandbreite anderer politischer Akteure, die irgendwo zwischen „old fellows“ und „new guys“ eingeordnet werden können.
Trotzdem stellt sich die Frage wer oder was hier letztendlich den Staat darstellt. Ist es der vormalig als zentralstaatlicher Gewaltmonopolist gedachte Akteur, der nun, stärker oder schwächer, ein Akteur unter vielen ist?
„Legitimacy through governanvce“ benennen Bellagamba und Klute als eine Weise der „emergent powers“ Anerkennung und Legitimität zu konstruieren und zu behaupten (vgl. S. 20). Legitimität ergibt sich also unter anderem durch die Fähigkeit „state-effects“ zu produzieren. Wenn diese Produktion von „state-effects“, wie im Falle Somalilands, dadurch erfolgt, dass eine Vielzahl von Akteuren (innerhalb des oben beschriebenen Kontinuums) sich (partiell/ temporär) vernetzen, ist es dann nicht vielmehr die Gesamtheit der konkurrierenden und interagierenden, neue Machtkonstellationen aushandelnden Akteure, die den Staat in Afrika konstituieren? Staatlichkeit in Afrika zeichnete sich dann, zumindest gegenwärtig und auch im Rückblick auf historische Formen afrikanischer gesellschaftlicher Organisation, durch „divided sovereignty“ 1 (die „para-sovereignty“ 2 einzelner Kräfte bzw. Kräftekonstellationen), die Entkoppelung von Souveränität und Territorialität und die kontinuierliche Aushandlung von Macht- und Akteurskonstellationen aus.

Im Epilog thematisiert Stephen Ellis Staatlichkeit im afrikanischen Kontext und nimmt Bezug auf den kolonialen und postkolonialen Staat. Er betrachtet den
gegenwärtigen Bedeutungszuwachs historisch gewachsener Institutionen und die Entstehung neuer Entitäten neben dem Staat im Kontext von Globalisierung und zunehmender politischer Fragmentierung. Die gegenwärtigen Krisen und Konflikte Afrikas werden jedoch all zu oft auf eine Unzulänglichkeit des Staates in Afrika zurückgeführt – „The idea that certain states may have failed calls out for clarification of the criteria used to judge success or failure, […]. It seems that leading powers are increasingly preoccupied with the phenomenon of state failure […]” (Ellis S. 203). Entgegen der normativ überhöhten Diskussion um Staatszerfall, der der Universalismusgedanke des westlichen Staatsmodells immanent ist, betont Ellis, wie wichtig ein tieferes empirisches Wissen von afrikanischen Gesellschaften ist, um die “actually existing politics” (S. 202) in Afrika verstehen zu können.
Ellis gelangt zu dem Schluss, dass, wenn es überhaupt eine Zeit gegeben habe in der das Handeln afrikanischer Chiefs für Außenstehende ausschließlich von lokaler Bedeutung erschien, diese nun zu einem Ende gekommen sei: „The forms by which Africa is governed in the end concern the entire world. If there was ever a time where the actions of chiefs in an African country seemed to outsiders a matter of purely local concern, […], then that time has now passed. This is the world in which we live now“ (S. 204).

Afrikas „emergent powers“ sind Ausdruck einer sich vom westeuropäischen Staatsmodell unterscheidenden Raumordnung. Was bedeuten also Afrikas neue soziale Räume und die Parallelität von Raumordnungen für diese vernetzte Welt, in der wir heute leben, und für deren beibehaltenes Selbstverständnis von einer internationalen Staatengemeinschaft? Antworten auf solche Fragen zu geben wäre selbstverständlich über das Vorhaben dieses Sammelbandes hinausgegangen. Diese Frage zu stellen verdeutlicht aber, wie relevant die von Alice Bellagamba und Georg Klute vorgelegte Auseinandersetzung mit Afrikas neuen (und alten) politischen Kräften bzw. Machtformen neben dem Staat ist – für eine Perspektive auf Afrika jenseits von Scheitern, Abweichung und Kollaps, für den internationalen Umgang mit Afrikas Herausforderungen und für die Frage der Positionierung von Afrika (von Afrikas neuen sozialen Räumen) in der globalen Ordnung.

Anmerkungen:
1 Maria H. Brons, Society, security, sovereignty and the state in Somalia: From statelessness to statelessness? Utrecht 2001.
2 Georg Klute, De la chefferie administrative à la parasouveraineté régionale, in: André Bourgeot (Hrsg.), Horizons nomades en Afrique sahélienne. Sociétés, développement et démocratie, Paris 1999, S 167-181; Georg Klute, Trutz v. Trotha, Roads to peace. From small war to parastatal peace in the North of Mali, in: Marie-Claire Foblets, Trutz v. Trotha (Hrsg.), Healing the wounds. Essays on the reconstruction of societies after war, Oxford 2004, S. 109-143.

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