J.-P. Renouard: Die Hölle gestreift

Titel
Die Hölle gestreift. Aus dem Franz. von Rainer Fröbe und Marie-Claude Stehr


Autor(en)
Renouard, Jean-Pierre
Erschienen
Anzahl Seiten
177 S.
Preis
€ 19,94
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Ingrid Schupetta

44 Jahre nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen schrieb Jean-Pierre Renouard seine Erlebnisse als politischer Häftling in Neuengamme, Misburg und Bergen-Belsen sowie das Fortleben dieser Erinnerungen in seinem späteren Leben nieder. Un Uniform rayé d' Enfer erschien 1993. Die Veröffentlichung erhielt noch im gleichen Jahr einen Preis der Académie française. Die deutsche Ausgabe, sorgfältig übersetzt und kommentiert, kam in diesem Jahr heraus.

Das Buch hat ungewöhnliche Qualitäten, durch die es eine Heraushebung aus der Menge der Erinnerungsliteratur verdient. Eine Besonderheit ist schon die Form. Jean-Pierre Renouard entschied sich für kurze Geschichten in chronologischer Reihung. Er verzichtete auf allgemeine Ausführungen zum französischen Widerstand, dem NS-Regime im Allgemeinen und dem KZ-System im Besonderen. Bewußt konzentrierte er sich auf seine persönlichen Erfahrungen, die er in der Darstellung extrem zuspitzt. Keineswegs erscheint er immer als Held der Handlung - genausowenig wie seine Mithäftlinge. Das Kondensat enthält zumeist eine Prise getrockneten Humors der Sorte "Trotz alledem".

Der Hauptteil des Buches spielt in Misburg bei Hannover in der Zeit zwischen Juli 1944 und April 1945. Das Zwangsarbeiterlager in Misburg war eines jener KZ-Außenlager (in diesem Fall des Konzentrationslagers Neuengamme), die über das gesamte Deutsche Reich verteilt waren. Es stellte die international zusammengewürfelten Arbeitskräfte, die in einer Erdölraffinerie (der Deurag-Nerag) Trümmer beseitigen sollten, um nach den gezielten Luftangriffen der Alliierten die Produktion von Benzin und Schmierölen möglichst schnell fortführen zu können. Das Lager lag neben der Hauptstraße nach Hannover auf einem Gelände zwischen dem Mittellandkanal und dem Werk, etwa einen Kilometer vom damaligen Ortskern entfernt.

Die Häftlinge hatten - neben der Konfrontation mit Wachmannschaften und Vorarbeitern - sowohl Kontakt zu anderen Werksangehörigen, als auch zur Misburger Bevölkerung, den "ganz normalen" Deutschen. Der KZ-Häftling Jean-Pierre Renouard war gleichermaßen ihr genauer Beobachter. Und dies ist eine andere Besonderheit seiner Erinnerungen. Sie geben den Lesenden nicht nur einen Einblick in die besondere Welt der Konzentrationslager, sondern sie spiegeln auch das Verhalten der Zivilbevölkerung gegenüber den Häftlingen. Daß dieses zwischen Fanatismus (selten) und Gleichgültigkeit (zumeist) changiert, im Einzelfall auch an Hilfeleistung grenzt, ist keine Überraschung. Selten aber wird so deutlich geschildert, wie eng auch die normalen Deutschen mit der Welt der Lager auf Tuchfühlung waren. Auschwitz war ein Ort am Ende der Zivilisation. Aber Misburg war überall.

Kommentare

Von Struve, Kai28.07.2004

Reaktion und Kommentar von Kai Struve

Ingrid Schupetta, NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld" schrieb:

> Der Hauptteil des Buches spielt in Misburg bei Hannover in der Zeit zwischen Juli 1944 und April 1945. [...]
> Das Lager lag neben der Hauptstrasse nach Hannover auf einem Gelaende zwischen dem Mittellandkanal und dem Werk, etwa einen Kilometer vom damaligen Ortskern entfernt. [....] Selten aber wird normalen Deutschen so deutlich geschildert, wie eng auch die mit der Welt der Lager auf Tuchfuehlung waren. Auschwitz war ein Ort am Ende der Zivilisation. Aber Misburg war ueberall.

Zur Kritik provoziert der Vergleich in den Schlusssaetzen. Inwieweit Auschwitz in diesem Zusammenhang wirklich als ein Ort "am Ende der Zivilisation" zu beschreiben ist, ist zumindest in zweifacher Hinsicht fraglich:

1. Dass das Geschehen, das mit der Metapher "Auschwitz" gefasst wird, vielleicht eher als Kehrseite der modernen Zivilisation zu begreifen ist, ist ja von Zygmunt Bauman ausgefuehrt worden.

2. Wenn es nun aber um den konkreten Ort Auschwitz geht, dann kommt hier eine "mental map" zum Vorschein, auf der dieser Ort viel weiter von Hannover entfernt liegt, wenn man diese Stadt nach dem Vorschlag der Rezension als Zentrum "unserer Zivilisation" nimmt, als es die geographischen, politischen und oekonomischen Realitaeten der ersten Haelfte dieses Jahrhunderts angemessen erscheinen lassen. Damals war Auschwitz kein "Ort am Ende der Zivilisation", sondern lag in Ostoberschlesien, das 1939 dem Deutschen Reich eingegliedert worden war, und befand sich damit auf Reichsgebiet. Es war bis 1918 oesterreichische Grenzstadt zum Deutschen Reich gewesen und lag auch nach der Teilung Oberschlesiens 1921 nur wenige Kilometer von der Reichsgrenze entfernt auf polnischem Gebiet. Wenn auch im Unterschied zu Misberg die Bevoelkerung in der Umgebung Polen waren, so waren doch auch in Auschwitz in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Tausende von Deutschen anwesend, nicht nur in den SS-Einheiten, sondern auch als zivile Beschaeftigte bei den IG Farben Werken und anderen Industriebetrieben.

Somit koennte man vermuten, dass Auschwitz im Bewusstsein der Hannoveraner (oder Marburger) in den dreissiger und vierziger Jahren im allgemeinen nicht weiter entfernt war als heute etwa Kuestrin oder Stettin.

Kai Struve
Herder-Institut Marburg
struve@mailer.uni-marburg.de
http://www.uni-marburg.de/herder-institut


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