: Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen »gesellschaftlichem Auftrag« und disziplinärer Eigenlogik. Heidelberg 2007 : Synchron Verlag, ISBN 978-3-939381-03-7 456 S. € 44,80

: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus. Berlin 2008 : Akademie Verlag, ISBN 978-3-05-004411-8 XIII, 774 S. € 98,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Lux, Leipzig

Soviel vorweg: Die beiden vorliegenden Publikationen liefern wichtige Beiträge zur Geschichte der Germanistik, und es steht zu hoffen, dass sie zu Impulsgebern für nachfolgende Studien werden. Die 2008 erschienene Habilitationsschrift von Gerhard Kaiser befasst sich mit der Geschichte der Germanistik während des Dritten Reichs – also einem Sujet, zu dem seit Mitte der 1960er-Jahre bereits eine Vielzahl von Publikationen erschienen sind. 1 Jens Saadhoffs 2007 erschienene Dissertation liefert ihrerseits eine Gesamtdarstellung der Geschichte des Fachs in der DDR bis in die 1980er-Jahre. Er betritt damit ein Terrain, zu dem vor allem seit Anfang der 1990er-Jahre wichtige Arbeiten vorgelegt wurden, das aber keineswegs als erschöpft gelten kann. 2 Beide Monographien sind darauf angelegt, eine differenzierte Gesamtschau auf die jeweiligen Entwicklungen zu geben.

Kaiser und Saadhoff sind dem Siegener Konzept des „Semantischen Umbaus“ verpflichtet. Dieses bietet ihnen die Möglichkeit, die „allgemeine[n] Zusammenhänge zwischen Fachgeschichte und Gesellschaftsgeschichte näher zu analysieren und das komplexe und historisch variable Spannungsfeld zwischen ‚Professionalisierung und Politisierung’, (Selbst-)Anpassung und diktatorischem Zwang, Forschungslogik und politisch-gesellschaftlichen Logiken, ‚Resonanz und Eigensinn’ näher zu vermessen“ (Saadhoff, S. 18). Im Gegensatz zu biographischen, institutsgeschichtlichen und forschungsgeschichtlichen Ansätzen und rekurrierend auf Bourdieu und Fleck geht es ihnen um die „Redeweisen des Fachs“, also um überindividuelle Argumentationsstrategien und Leistungsangebote. Diese richten sich an verschiedene Adressaten. Sie sind zum einen der professionellen Eigenlogik des Fachs verpflichtet und zum anderen auf „außerfachliche Resonanzeffekte“ aus. Unter Verwendung von „Scharnierbegriffen“ und Elementen der „Basissemantik“ changieren so die Akteure zwischen Wissenschaft und Politik, darauf abzielend, ihr Fach zu legitimieren und Forschungsressourcen zu mobilisieren. „Semantischer Umbau“ kann zu jeder Zeit stattfinden, gewinnt jedoch beim Wechsel politischer Systeme an zusätzlicher Bedeutung, gilt es doch nun, sich den jeweils neuen Anforderungen anzupassen, um (fort)bestehen zu können. Das klingt kompliziert und das Vokabular der ‚Siegener’ wirkt an mancher Stelle ermüdend. Doch einmal ‚eingelesen’, belohnt der Erkenntnisgewinn der insgesamt gut geschriebenen Arbeiten die Mühen. Der methodische Ansatz der Arbeiten bestimmt naturgemäß die Wahl der Quellen. Ihr Fokus liegt ausschließlich auf den veröffentlichten Texten der Akteure, die ausführlicher als üblich zitiert werden, was durchaus ein Gewinn ist und eine bessere Kontextualisierung ermöglicht.

Die historischen und methodischen Bezugspunkte der Arbeiten geben auch ihre inhaltliche Gliederung vor. Saadhoffs Arbeit besteht aus drei Hauptteilen. Die ersten beiden verknüpfen Akteur- und Argumentationsgeschichte, der dritte fragt ausschließlich nach den „Redeweisen“ der DDR-Literaturwissenschaftler. Der erste Teil befasst sich mit der Geschichte der Germanistik in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Mit Blick auf die Personalstruktur, die akademische Sozialisation der Akteure und ihre Argumentation weist Saadhoff nach, dass bis Mitte der 1950er-Jahre keineswegs pauschal von einem „Sturm auf die Festung Wissenschaft“ gesprochen werden kann. Vielmehr fühlten sich sowohl die traditionell „bürgerlichen“ Ordinarien (wie H.A. Korff, L. Magon, F.J. Schneider) als auch die (zum Teil marxistischen) Außenseiter (wie A. Kantarowicz, H. Mayer, J. Müller) den fachwissenschaftlichen Traditionen und Standards in einer Weise verbunden, die eher fachliche Kontinuität vorwalten ließ. Saadhoff spricht in diesem Zusammenhang von „moderaten Umbauten“, von der „Beharrungsmacht einer bildungsbürgerlichen Kunstsemantik“ und der „eigentümlichen Nachkriegsmelange aus (bildungsbürgerlichen) Kontinuitäten, Umerziehungskonzepten, ‚Volksfrontstrategie’ und (sozialistischem) Neubeginn“, die eine „geduldete Mehrstimmigkeit“ in der DDR-Literaturwissenschaft möglich machten (S. 133).

Dies änderte sich mit dem Aufstieg der marxistisch-leninistischen Nachwuchselite, mit der sich Saadhoff im zweiten Teil befasst. Als historische Zäsur markiert er das Jahr 1956, den Ungarnaufstand und die damit einhergehende „ideologische Offensive“, die der liberalen Übergangszeit ein Ende setzte. Zügig verdrängte die neue Generation die alte, was Saadhoff anhand von Positionierungs- und Machtkämpfen, damit einhergehend aber durch das Aufkommen neuer Diskurselemente nachweist (S. 155). Durch die Verwendung spezifischer Scharnierbegriffe inszenierte sich die Germanistik in den späten 1950er- und in den 1960er-Jahren als marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaft und legitimierte damit ihr Dasein sowie die Mobilisierung von umfangreichen Ressourcen. Literaturwissenschaft wurde – ganz im Einklang mit der herrschenden Ideologie – zum Bestandteil des Klassenkampfs. Ihre Aufgaben wurden den vorgestellten Bedürfnissen der gesellschaftlichen Praxis unterworfen. Um dies zu zeigen, arbeitet Saadhoff eine Reihe von Leistungsangeboten (wie Lehrerausbildung oder der Anteil der Germanisten am Aufbau einer sozialistischen Kulturgesellschaft) sowie Semantiken (wie die Einheit von Wissenschaft und Politik; die Kritik an nicht-marxistischer Wissenschaft und Abweichlern) heraus, welche die literaturwissenschaftlichen Redeweisen in dieser Zeit prägten (S. 157-205).

Neben ihrer Beschreibung verweist Saadhoff auch jeweils auf die Zeitgebundenheit dieser Angebote und Argumentationsmuster. Sicher, die intensive und routinierte Nutzung der Basissemantik mit Begriffen wie „Klassenkampf“, „Arbeiterklasse“, „Antifaschismus“ prägte die Literaturwissenschaft bis 1989. Doch zugleich profilierte sich die Germanistik in der DDR zu einer Wissenschaft, die sich auch fachwissenschaftlichen Standards und philologischer Genauigkeit verpflichtet sah. Sie war keineswegs eine „willfährige ‚Magd der Politik’, die bruchlos umsetzte, was von Staat, Politik und Gesellschaft an sie herangetragen wurde“ (S. 16). Vielmehr konstatiert Saadhoff ein „Neben- und Miteinander“ von ideologischem und neutral-wissenschaftlichem Diskurs (S. 204).

Um die Modernisierungs- und Ausdifferenzierungstendenzen geht es im dritten Teil. In fünf Unterpunkten behandelt Saadhoff hier die Debatten um umstrittene Themenfeldern der (DDR-)Literaturwissenschaft, so ihr Verhältnis zu Georg Lukács, die Diskussionen im Rahmen der Realismus- und Widerspiegelungstheorie sowie die Wandlungen im Klassik-, Romantik- sowie Moderne- und Avantgardediskurs.

Der letzte Satz der Arbeit fasst als Ergebnis zusammen, dass „bei allen Differenzierungs- und Modernisierungsprozessen von einem ‚pluralistischen’ Fachdiskurs bis zum Untergang der DDR nicht die Rede sein kann“ (S. 398). Eine wesentliche Leistung der Arbeit Saadhoffs liegt jedoch genau darin, diese Erkenntnis differenziert, detailliert und mit Blick auf das bestehende Potential dargelegt und damit das pauschale Urteil einer „blinden Wissenschaft“ (J. Lehmann) widerlegt zu haben. Damit ist seine Arbeit auch ein Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte der DDR und zur Klärung des „vielfach vermittelte[n] symbiotische[n] Verhältnis[es] gegenseitiger Beeinflussung und Durchdringung“ von Wissenschaft und Politik (J. Kocka, zitiert nach ebenda, S. 17).

Die Arbeit von Gerhard Kaiser gliedert sich in vier Teile. Der erste vollzieht eine exemplarische Analyse von zwei programmatischen Texten der Literaturwissenschaft während des Dritten Reichs und führt so in nuce Konzept, Ansatz und Anliegen des Buchs vor. Das zweite Kapitel stellt die Situation dar, in der sich das Fach zwischen 1933 und 1945 befand. Hier diskutiert er die Legitimationsprobleme, denen sich die Literaturwissenschaft seit Ende des 19. Jahrhunderts gegenübersah (angesichts des Aufstiegs der anwendungsorientierten Natur- und Technikwissenschaften, mit Blick auf die sinkenden Studentenzahlen Anfang der 1930er-Jahre und einem generellen Bedeutungsverlust der Literaturwissenschaft als nationalkulturelle sinn- und orientierungsstiftende Instanz). Kaiser legt weiterhin die personelle und strukturelle Situation innerhalb des Fachs während des Dritten Reichs dar und rahmt so den dritten und umfangreichen Hauptteil.

Hier analysiert Kaiser zuerst die zahlreichen Zustimmungsbekundungen von Germanisten im Rahmen der nationalsozialistischen Machtergreifung und rekonstruiert die „argumentativen Nuancen innerhalb dieser prinzipiell positiven Haltung“ (S. 133). Es geht ihm um die „feinen Unterschiede“, bei denen der akademische Status und die Generationszugehörigkeit wesentlich sind. Diese Erkenntnisse belegen, dass fragmentarisches Zitieren oder das pauschale Nebeneinanderstellen von vermeintlich eindeutigen Zitaten wenig zur Klärung des Verhältnisses von Politik und Wissenschaft beitragen können (vgl. S. 127-200). Auch die folgenden vier Unterpunkte zielen auf eine differenzierte Klärung von zeitgenössischen Begriffen und ihre Verwendung. Im Zentrum stehen die literaturwissenschaftlichen Scharnierbegriffe „Leben“, „Rasse“, „Volk“ und „Dichtung“. Ausführlich zeigt Kaiser, was die unterschiedlichen Akteure mit diesen Begriffen meinten und was nicht; ob sie konsensfähig, eindeutig oder unscharf waren; welche Ideen und/oder ideologischen Konzepte hinter ihnen standen; mit welchen Konnotationen sie verbunden waren, in welchem Zusammenhang sie („resonanzstrategisch“) verwendet wurden; in welchem Maße sie innerwissenschaftlich Resonanz erzeugen konnten und/oder nach außen, also politisch und gesellschaftlich, anschlussfähig waren. Die Integrationskraft der einzelnen Begriffe war dabei durchaus unterschiedlich. So partizipierten etwa alle Akteure am Lebensdiskurs; der Rasse-Begriff jedoch blieb auch nach 1933 randständig. Das die Arbeit abschließende vierte Kapitel widmet sich dem „diskursiven Vergangenheitsmanagement“ der Literaturwissenschaft nach 1945, also dem Umgang des Fachs mit seiner Geschichte.

Das Anliegen Kaisers, einen anderen Blick auf ein bereits vielfach beackertes Gebiet zu liefern, überzeugt in seiner Umsetzung. Dies gelingt ihm, indem er die vielen bisherigen Studien kommentierend integriert. Darüber hinaus bietet er mit dem Konzept des „Semantischen Umbaus“ eine spezifische Deutungsperspektive, die einen Gesamtblick auf die Literaturwissenschaft im Dritten Reich möglich macht. Zugleich aber geht es ihm darum, die vielen Differenzen, die „feinen Unterschiede“ und die Nuancen herauszuarbeiten. Aus diesem Grund versteht Kaiser seine Arbeit auch immer als ein Angebot und spricht von „Zwischensynthese“ und „Nuancengewinn“ (S. 7 bzw. 9).

Dass die umfangreiche Arbeit nicht nur mit wissenschaftlichem Gewinn gelesen werden kann, liegt an der sprachlichen Umsetzung. Wie eingangs bereits angedeutet, hält das Konzept vom „Semantischen Umbau“ ein Begriffsarsenal bereit, das zwar pointiert ist und damit gute Chancen hat, in den allgemeinen Wissenschaftsdiskurs aufgenommen zu werden. Zugleich ist es jedoch auch stark theoretisierend. Kaiser gelingt es nun, diesen abstrakten Begriffen eine sinnliche Seite abzugewinnen und sie, ohne an theoretischem Niveau zu verlieren, flexibel einzusetzen und darüber hinaus mit der Begrifflichkeit zu spielen (etwa wenn er die politisch engagierten Germanisten im Zweiten Weltkrieg „Sinnsoldaten“ nennt; die „Erweiterung der Kampfzone“ konstatiert, das „Finstere in klassischen Zeiten“ sucht, das „Militärische mit Maßen“ oder das „Radikale und randständige“ beschreibt). Ein weiteres Beispiel ist der Titel „Grenzverwirrungen“ selbst. Dabei handelt es sich um einen zeitgenössischen Begriff des Berliner Literaturwissenschaftlers und überzeugten Nationalsozialisten Franz Koch, der 1939 feststellte, dass „eine Grenzverwirrung von Wissenschaft und Politik [...] beiden Teilen nicht zum Vorteil gereicht“. Retrospektiv trifft diese Feststellung genau ins Zentrum des von Kaiser favorisierten Deutungs- und Erklärungsmusters, das nach der komplexen Gemengelage von Eigensinn und Resonanzkalkül in der wissenschaftlichen Argumentation fragt. Diese waren offensichtlich nicht festgeschrieben, sondern unterlagen Aushandlungsprozessen und Wandlungen. Und diese konnten – sogar bei Koch – zu Unsicherheiten und eben „Grenzverwirrungen“ führen (S. 1f.).

Man kann den Arbeiten von Kaiser und Saadhoff das Fehlen ungedruckter Quellen vorwerfen oder auch die starke Fokussierung auf Argumentation und Redestrategien, was traditionelle Untersuchungsfelder naturgemäß in den Hintergrund rücken lässt. Man muss aber nicht. Man kann vielmehr die Chancen sehen, die sich durch diesen anderen Blick auf den Gegenstand ergeben – gerade auch für personal-, instituts- oder forschungsgeschichtliche Arbeiten. Und so sind beide Publikationen jedem Wissenschaftshistoriker und jeder Wissenschaftshistorikerin wärmstens zu empfehlen.

Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch: Holger Dainat / Lutz Danneberg (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte und Literatur, Bd. 99), Tübingen 2003.
2 Hervorzuheben sind hier vor allem die Arbeiten von Petra Boden, die sich auf verschiedene Weise mit der Geschichte des Fachs von 1945 bis 1989 befasst hat. Vgl. exemplarisch: Petra Boden, Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR. Personalpolitik und struktureller Wandel 1945-1958, in: Dies. / Rainer Rosenberg (Hrsg.), Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997, S. 119-159. Außerdem sei verwiesen auf Tagungen zur Geschichte des Fachs in der DDR in Rostock (Mai 2008) und Magdeburg (November 2007).

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