C. Schweikardt: Krankenpflege im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Titel
Die Entwicklung der Krankenpflege zur staatlich anerkannten Tätigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Das Zusammenwirken von Modernisierungsbestrebungen, ärztlicher Dominanz, konfessioneller Selbstbehauptung und Vorgaben preußischer Regierungspolitik


Autor(en)
Schweikardt, Christoph
Erschienen
München 2008: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bettina Blessing, Stuttgart/Regensburg

Die vorliegende Studie von Christoph Schweikardt liefert einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der Krankenpflege, die sich in den letzten Jahren zu einem innovativen Forschungsfeld entwickelt hat. Bisher gibt es zwar eine Reihe von Einzeluntersuchungen zur Geschichte der Pflege, ein themenübergreifender Zugriff aber fehlt. Gegenüber bereits vorliegenden Publikationen zeichnet diese Arbeit aus, die Entwicklung der Krankenpflege über einen gut hundertjährigen Zeitraum in Preußen nachzuzeichnen und unterschiedliche Pflegeinstitutionen in den Blickwinkel zu rücken. Vor allem aber findet das von der Forschung noch vollkommen vernachlässigte Verhältnis von Staat und Krankenpflege Berücksichtigung. Erklärtes Ziel der Studie ist es, die Entwicklung der Krankenpflege zu einer staatlich anerkannten und somit auch zu einer qualifizierten Tätigkeit zu untersuchen und hierbei die politischen Rahmenbedingungen in den Fokus zu rücken.

Christoph Schweikardt verschafft dem Leser zunächst einen kurzen Überblick über das Medizinalwesen Preußens im 17. und 18. Jahrhundert und beschreibt das Hospitalwesen sowie die Situation der Krankenpflege am Ende des 18. Jahrhunderts. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er der Institutionalisierung der Krankenpflegeschule an der Charité (1832), die bis zum Ersten Weltkrieg die einzige war, die der preußischen Regierung unmittelbar unterstand.

Im 19. Jahrhundert waren es vor allem die religiösen Genossenschaften, die katholischen Kongregationen und die evangelische Diakonie, die sich in der Krankenpflege engagierten. Sowohl ihre Arbeitsaskese als auch ihre materielle Enthaltsamkeit entwickelten sich zu einem günstigen Finanzierungsmodell für den Staat bzw. ließen ihn nicht in die Verantwortung treten. Allerdings hatte die kirchliche Krankenpflege auch Gegner. Zu ihren Widersachern gehörte in Preußen z.B. Rudolf Virchow, der der Ansicht war, Leitung und Oberaufsicht der Krankenpflege bedürften keiner religiösen Institutionen. Als Vorbild diente ihm das von Florence Nightingale eingeführte englische Krankenpflegesystem. Wenngleich er die Leistung der katholischen Orden anerkannte, hielt er das Gedeihen der Krankenpflege nur durch eine Initiative der Bürger für möglich. Sein Ziel war es, die „bürgerliche Frau“ für die Krankenpflege zu gewinnen. Virchows Reformentwurf war jedoch wegen mangelnder Attraktivität zum Scheitern verurteilt. Er hielt an den christlichen und humanitären Dienstidealen fest und forderte keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Mit der Herausbildung der Rotkreuzschwesternschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der das kirchliche Mutterhaussystem als Vorbild diente, wurde aber dahingehend eine Veränderung in die Wege geleitet, dass die Motivation zur Ausübung der Krankenpflege nicht mehr allein auf der „christlichen Liebestätigkeit“ beruhte. Die Rotkreuz-Krankenpflege wurde als ärztlicher Hilfsberuf mit Schwerpunkt auf praktischen Tätigkeiten und mit einer „begrenzten theoretischen Qualifikation mit hauswirtschaftlicher Kompetenz definiert.“ (S. 273) Zwar führte das Mutterhaussystem weiterhin zu einer strengen Kontrolle der Schwestern und schränkte ihre Freiheiten erheblich ein (S. 89), aber Lohnzahlung und Einführung einer Pensionsanstalt bildeten erste Voraussetzungen für die „Verberuflichung“.

Erst nach der Jahrhundertwende wurde die Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands (B.O.K.D.) als „freier“ Verband zur Wahrnehmung der beruflichen Interessen der Mitglieder gegründet. Sie orientierte sich an dem Krankenpflegesystem in England und Amerika. Die B.O.K.D. verfolgte das umfassendste Professionalisierungsprogramm aller Verbände. Wie die Geschichte der Krankenpflege zeigt, war die Einführung von Kursen an der „Hochschule für Frauen“ in Leipzig eine Pionierleistung.

Das Verdienst Christoph Schweikardts besteht nicht darin, die einzelnen Einrichtungen anhand von Primärquellen untersucht zu haben, hier beruft er sich auf bereits erschienene Arbeiten, wie etwa von Relinde Meiwes1 und Dieter Riesenberger2, sondern er vergleicht einen Teil der daraus zu gewinnenden Erkenntnisse, um einen Überblick über die gesellschaftlichen und politischen Handlungsmuster zu erhalten. In diesem Kontext stellt er dann die zentrale Frage seiner Studie, nämlich welche Leistungen der preußische Staat zur Etablierung der Krankenpflege erbrachte.

Während des ganzen 19. Jahrhunderts blieb die Krankenpflege, wie die Untersuchung zeigt, ein „Stiefkind der Gesundheitspolitik“ in Preußen. Weder die Einigungskriege noch der Kulturkampf oder gar die verheerende Choleraepidemie führten zu einer Veränderung. Das Kultusministerium versuchte den Eindruck zu erwecken, es bestehe kein Handlungsbedarf, und sah die Versorgung durch die konfessionellen Verbände als ausreichend an. Die Ausbildung oblag den Genossenschaften, vereinzelt den Kommunen, eine Institutionalisierung der Krankenpflegeausbildung an staatlichen oder kommunalen Krankenhäusern war jedoch weitgehend unterblieben. Die Untätigkeit des Staates hinsichtlich der Ausbildung wurde unter anderem aber eben auch durch das Fehlen einer pflegerischen Standesvertretung gefördert.

Anhand der von Christoph Schweikardt herangezogenen Statistiken wird zudem deutlich, dass sich die Krankenpflege im 19. Jahrhundert nicht zu einem bürgerlichen Beruf entwickelte. Erwähnenswert ist, dass in Preußen, wo nur ein Drittel der Bevölkerung der katholischen Religion anhing, die Katholiken den größten Anteil des Pflegepersonals stellten. 1876 belief sich der Anteil der Mitglieder der katholischen Krankenpflegeverbände auf 65,2 Prozent; am Ende des Jahrhunderts noch auf 47,5 Prozent. Die Diakonie sowie die übrigen Genossenschaften, etwa die der Rotkreuzschwestern, spielten demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Eine absolut marginale Rolle nahmen jedoch die „frei“ praktizierenden Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen ein. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag ihr Anteil noch unter 10 Prozent, wenn auch, wie Christoph Schweikardt zu Recht anmerkt, nicht alle Krankenwärter und Krankenwärterinnen in den Statistiken erfasst wurden.

Als Erklärung für den geringen Prozentsatz der in der „freien“ Krankenpflege tätigen Menschen beruft sich der Autor auf die in der Forschung allgemein anerkannten Gründe, wie Ansteckungsgefahr, Arbeitsüberlastung, mangelnde Arbeitszeitregelungen usw., und legt dar, dass diese Voraussetzungen für die bürgerliche Frau nicht attraktiv waren. Als problematisch erweist es sich meines Erachtens jedoch, ohne Bezugnahme auf entsprechendes Quellenmaterial, die Krankenwärter und Krankenwärterinnen dem Proletariat zuzuordnen (S. 126-129) sowie auch einen Teil der Mitglieder der B.O.K.D. als „Elite unter dem Krankenpflegepersonal“ zu bezeichnen (S. 159, 171). Hier wäre eine Begriffsdefinition ratsam gewesen.

Für die Geschichte der Pflegeforschung ist es natürlich auch von Interesse, welche politischen Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten die Pflegenden selbst ausübten. Ausführlich beschäftigt sich der Autor mit diesem Aspekt und resümiert, dass das Gestaltungsbedürfnis der Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen sehr gering ausgeprägt war. Sieht man einmal von der B.O.K.D. ab, vertrat das Pflegepersonal seine politischen Belange nicht selbst. Aber auch die B.O.K.D. spielte für das Zustandekommen eines staatlichen Examens nur eine ganz untergeordnete Rolle. Für die katholischen Kongregationen führte der preußische Episkopat die Verhandlungen mit dem preußischen Ministerium, für die Diakonie das Präsidium der Kaiserswerther Generalkonferenz. Das Rote Kreuz wurde von den Ärzten des Kriegsministeriums vertreten. Die schwächste Position nahmen jedoch die Wärter und Wärterinnen ein. Ihnen gelang keine einheitliche Interessenvertretung.

Anschaulich legt Christoph Schweikardt dar, wie auch von Seiten der Ärzte alles daran gesetzt wurde, dass aus der Krankenpflege dem ärztlichen Betätigungsfeld keine Konkurrenz erwuchs. Seit den 1890er-Jahren bemühten sich die Mediziner darum, die Krankenpflege wissenschaftlich voranzutreiben. Da ihnen aber die wissenschaftliche Weiterentwicklung allein überlassen war, führte dies dazu, dass sie ihr nur die Rolle eines ausführenden Organs zuwiesen. Allerdings verfügten auch nur die Ärzte über die notwendigen Netzwerke, um die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Krankenhäusern einzuführen. Ihre Position wurde zudem noch dadurch gestärkt, dass sie die Referenten in der Medizinalabteilung des preußischen Kulturministeriums sowie im kaiserlichen Gesundheitsamt und im Reichsgesundheitsrat stellten. Gebremst wurde der ärztliche Einfluss anscheinend nur durch die religiösen Institutionen, die durch die Einmischung der Ärzte um ihre Autorität bangten. Schwesternschaften, bürgerliche Frauenbewegung und Gewerkschaften hatten hingegen keinen Zutritt zum Zirkel der inneren Macht.

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zur Regulierung der Krankenpflegeausbildung. 1907 wurde in Preußen das Krankenpflegeexamen eingeführt; der Erlass zeichnete sich aber nicht durch eine Festschreibung verbindlicher Standards in der Krankenpflege aus. Die Entwicklung des Berufsstandes lag in „fremden“ Händen und eben nicht in der Verantwortung der in der Pflege tätigen Menschen. Erreicht worden war ein „Minimalziel“, nämlich eine Unterscheidung zwischen dem Pflegepersonal, das eine Prüfung ablegte und somit eine „Mindestqualifikation“ besaß, und denjenigen ohne Examen (S. 288).

Zuletzt sei noch der flüssige Stil des Autors erwähnt; Christoph Schweikardt bedient sich keiner Worthülsen, sondern formuliert die zu benennenden Thematiken in einer klaren Sprache. Allerdings hätte man sich manchmal anstatt einer chronologischen Darstellung mehr Analyse gewünscht, den Ergebnissen tut das aber keinen Abbruch. Der vom Autor gewählte Ansatz bietet künftigen Forschern ein breites und gut vorbereitetes Terrain, um detaillierten Fragestellungen genauer auf den Grund zu gehen und darüber hinaus die gewonnenen Erkenntnisse mit anderen Staaten zu vergleichen.

Anmerkungen:
1 Relinde Meiwes, „Arbeiterinnen des Herrn“. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006; dies., Katholische Frauenkongregationen und die Krankenpflege im 19. Jahrhundert, in: L’ homme 19 (2008), S. 39-60.
2 Dieter Riesenberger, Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864-1990, Paderborn 2002.

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