Titel
"Affäre Walter". Die vergessene Verhaftungswelle


Autor(en)
Heitzer, Enrico
Erschienen
Berlin 2008: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Müller-Enbergs, Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes

Die Oktober 1948 gegründete Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) reagierte auf die politischen Repressionen in der DDR. Über zehn Jahre später, im März 1959, löste sie sich wieder auf. Dazwischen liegen Jahre des Widerstandes in der DDR, dessen Gestalt maßgebend von der KgU geprägt war. Die KgU klärte vielfältig über die SED-Diktatur auf1 und war geneigt, ihr das Leben zu verkürzen. Dieser Kampf kostete Opfer: Allein 1951 wurden in der DDR über 200 Menschen verhaftet, Todesurteile und langjährige Haftstrafen, teils in Schauprozessen, verhängt. Die KgU selbst, aus vielen Töpfen gefördert, zumeist vom amerikanischen Geheimdienst CIA, war Ziel geheimdienstlicher Arbeit. Die DDR-Staatssicherheit verfügte Mitte der 1950er-Jahre eigens über eine „Linie KgU“, für die Gerhard Finn, aktives KgU-Mitglied und Chronist, auf 105 inoffizielle Mitarbeiter hinweist, von denen er fünf in bzw. in der Nähe der KgU benennt.2

Obgleich der Stellenwert der KgU unstreitig sein dürfte, ist das publizistische Interesse nach ihrer Auflösung merkwürdig mau. „Mit einigem Recht“, stellt Kai-Uwe Merz 1987 fest, muss von einem „Mantel des Schweigens“ die Rede sein.3 1971 präsentierte zwar Karl Heinz Roth die Widerstandsorganisation als „fünfte Kolonne des Kalten Krieges“4, doch wird diese Arbeit unschwer in den Fundus entsprechender propagandistischer Schriften aus der DDR einzusortieren sein.5 Im Jahr 2000 stellte der erwähnte Zeitzeuge Gerhard Finn seine Forschungen unter Einblendung von Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes vor.6 Aber für die Zeit vor der Herbstrevolution 1989 liegt lediglich eine nennenswerte, die grundsolide Arbeit von Merz vor, die jedoch noch nicht das umfängliche Archiv der KgU sowie die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes berücksichtigen konnte. Insoweit ist es verdienstvoll, eben auf dieser Basis einen wichtigen Abschnitt in der KgU-Geschichte in den Mittelpunkt zu rücken: „Die vergessene Verhaftungswelle“ aus dem Jahre 1951, wesentlich ausgelöst durch den einstmaligen KgU-Mitarbeiter Hanfried Hieke, ist das Thema von Heitzers Studie. Wohl in Reaktion darauf erschien ebenfalls 2008 von Jochen Staadt ein umfassender Aufsatz in dieser Sache7, der aufmerken lässt.

Enrico Heitzer schließt eine Forschungslücke auf vermintem Terrain, wenn er eine Facette ins Zentrum stellt, die durch die gegenwärtig vorhandene Quellenlage nicht ohne weiteres zu schließen ist: Die nachrichtendienstliche Komponente des Widerstandes der KgU, oder genauer, die unter dem Namen KgU. Im Mittelpunkt steht Hanfried Hieke. Er arbeitete zunächst in der Zentralkartei der KgU, wechselte 1950 zu deren Anlaufstelle und war dann Sachgebietsleiter für Sachsen. In dieser Funktion kooperierte er mit V-Leuten, die unter den Bedingungen der SED-Diktatur konspirativ Informationen beschafften. Zum Ende des Jahres 1950 begann Hieke eine „parallele, streng geheim gehaltene Organisationsstruktur aufzubauen“, wohl um vor seiner beabsichtigten Lösung von der KgU „ungefähr zwei Dutzend V-Leute samt der an sie angeschlossenen Gruppen aus der KgU“ ohne deren Wissen herauszulösen und mit ihnen weiterhin für den amerikanischen Militärnachrichtendienst MID zu arbeiten (S. 62f.). Im Juli 1951 kündigte er sein Arbeitsverhältnis bei der KgU. Sein Informationsnetz war enorm und reichte von Pirna, Heidenau, Weißwasser, Riesa, Oschatz, Chemnitz bis nach Radebeul, Dresden, Zwickau, Leipzig, Reichenbach, Kamenz und Bautzen (S. 75 f.). In erheblicher Kleinarbeit rekonstruiert Heitzer die Gruppen, die darüber hinaus recht anschaulich in einer beigefügten, Zeitzeugeninterviews enthaltenden DVD dargestellt werden. Die Akteure, ihr Motivation und Widerstandsformen werden dargestellt.

Das Wirken blieb ostdeutscher und sowjetischer Staatssicherheit nicht verborgen. Sie bekam Hieke zu fassen, der in der Literatur zweifelsfrei verantwortlich gemacht wird für die am 8. September 1951 einsetzende Verhaftungswelle mit tödlichem Ausgang. Heitzer macht eine operative Methodik der Staatssicherheit in der DDR plausibel, die auch späterhin üblich war: Weitere angeworbene Quellen im Netz der KgU sollten im Verratsschatten Hiekes unbemerkt bleiben (S. 113-120). 185 Personen werden binnen fünf Monaten im Kontext der „Affäre Walter“ verurteilt, 250 KgU-Mitglieder hatten sich vor den sowjetischen Militärtribunalen zu verantworten, etwa 70 Todesurteile wurden verhängt und bis zu 46 Personen wurden ermordet (S. 143-146). Den Opfern dieser Verhaftungswelle ein würdiges Denkmal zu setzen ist ein Verdienst Heitzers.

Im Kontext der Diskussion individueller Motivationen der KgU-Widerständler erörtert Heitzer deren nationalsozialistische und damit auch antikommunistische Sozialisation und wirft hier die relevante Frage auf, ob antikommunistischer Widerstand immer das Eintreten für Demokratie mit einschloss. Heitzer verficht eigene wertende Positionen aus heutiger Perspektive, was zu sehr interessanten Einschätzungen führt. Allerdings pointiert er hier zu stark; der ein oder andere von ihm kritisierte (ehemals) braune Aktivist wird durchaus den Weg zu den Demokraten gefunden haben.

Heitzer wählt einen methodischen Weg, für den es in der akademischen Welt kaum Diskussionen, Verfahren und Standards gibt: Wie ist mit Informationen aus der Welt der Nachrichtendienste und Geheimpolizeien zu verfahren, die nicht klassisch durch Urkunden quellengestützt sind? Die Informationen von Zeitzeugen oder vom Hörensagen sind kaum oder lediglich eingeschränkt überprüfbar, und oft ist unklar, ob diese Teil einer Desinformation oder freie Erinnerungsleistungen sind - die allenfalls Plausibilitätskriterien ausgesetzt werden können. Die Methodendiskussionen der Oral History wurden bisher nicht für die spezifischen Probleme der Nachrichtendienstgeschichte und –psychologie erörtert. (Wie) dürfen mündliche Informationen mit einem unmittelbar beteiligten Nachrichtendienstler herangezogen werden? Diesem sogar Anonymität gewährt werden? Und welchen Nutzen bringen derlei Informationen? Enrico Heitzer machte im September 2007 Hanfried Hieke ausfindig, der für das Verständnis des Zusammenhanges ausgewählte Einlassungen macht, die auch durch das bemerkenswert umfängliche Aktenstudium nicht ohne Weiteres zu fassen sind. Er gewährt ihm gegen Informationen bürgerliche Anonymität. In diesem Fall verliert diese jedoch in dem Moment ihren Wert, da Hieke samt Deckname „Walter“ in der Literatur bekannt ist8, und durch den Buchtitel „Affäre Walter“ deutlich dekonspiriert wird.

Was mit der Arbeit Enrico Heitzers so erfreulich erscheint, findet in Jochen Staadt einen aufmerksamen Zeitgenossen, der wohl auf bedrohliche Entwicklungen in dieser Arbeit hinzuweisen versucht.9 Es sei ein „Skandal“, schreibt Staadt, wenn sich ein Doktorand „von einem Spitzel und skrupellosen Verräter die Feder führen lässt“, das „wichtigtuerische Herumwedeln mit der Anonymität seines Kronzeugen“ sei „Schaumschlägerei“ (S. 74). Er merkt an, dass es zur SED-Mär gehöre, den Widerstand in der DDR als „das Werk von unverbesserlichen Nazis“ zu betrachten. Zur Illustrationen zieht er die Ausführungen Heitzers zu dem jungen KgU-Aktivitisten und in Moskau hingerichteten Günter Malkowski heran, dem Staadt verdienstvoller Weise an der Freien Universität Berlin mit zu einem würdigen Andenken verholfen hat. Heitzer schlage hier „dem Faß den Boden aus“, „verbreitet … Lügen“ unter „Verfälschung der Biographie“ (S. 76). Allein, weil er Zweifel („zumindest fragwürdig“) an der demokratischen Einstellung Malkowskis vermerkt (S. 160).

Staadts Anliegen, Widerstandskämpfer gegen Diskreditierungen aufgrund nationalsozialistischer Sozialisation zu verteidigen, ist ehrenwert. Doch was er mit der einen Hand erbaut, reißt er – wie es wirkt - unglücklicherweise mit dem Hintern wieder ein. „Stellvertretend für andere“, wohl demokratisch gesinnte Kämpfer der KgU, führt Staadt teilanonymisiert den auch von Hanfried Hieke verratenen und langjährig in Workuta inhaftierten „Gerhard C.“ an (S. 72), der jederzeit für die „Freiheit und Menschenwürde“ eintreten würde, wie der ehemalige Häftling erklärte. Gerhard C., mehrfach vorbestraft, war seit 1931 NSDAP-Mitglied und ab März 1934 Angehöriger einer KZ-Wachmannschaft in Hohnstein, „eines der schlimmsten frühen KZ“, wie Carina Baganz feststellt.10 Ist nicht zumindest fragwürdig, wenn Staadt einen KZ-Wärter als „stellvertretend für andere“ im Widerstand in der DDR ansähe? Denn - bleiben wir in der Gedankenwelt des geschätzten Kollegen - das würde einer SED-Mär Vorschub leisten. Das wird er kaum wollen.

Die hier beschriebene Auseinandersetzung ist für die deutsche Zeitgeschichtsforschung inhaltlich relevant. Zu verbessern wäre meines Erachtens der Umgang unter Kollegen, damit junge Wissenschaftler wie Enrico Heitzer unter solchen Schlägen nicht die Lust verlieren, dem Erbe jener, die wirklich Opfer im Kampf gegen den Kommunismus erbracht haben, einen würdigen Platz in der Geschichte zu geben - freilich unter Berücksichtigung ihrer gesamten, jeweils differenziert zu betrachtenden Biographie, ein Bemühen, das bei Enrico Heitzer offenkundig ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. Gerhard Finn, Die politischen Häftlinge der Sowjetzone 1945–1959, Pfaffenhofen 1960; ferner Friedrich-Wilhelm Schlomann, Mit Flugblättern und Anklageschriften gegen das SED-System, Schwerin 1998.
2 Vgl. Gerhard Finn, Nichtstun ist Mord. Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, Berlin 2000, S. 72.
3 Vgl. Kai-Uwe Merz, Kalter Krieg als antikommunistischer Widerstand. Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit 1948 – 1959, München 1987, S. 247.
4 Vgl. Karl Heinz Roth unter Mitarbeit von Nicolaus Neumann und Hajo Leib, Invasionsziel: DDR. Vom Kalten Krieg zur Neuen Ostpolitik, Hamburg 1971, S. 85-145.
5 Vgl. Hanfried Hieke, Deckname Walter. Enthüllungen eines ehemaligen Mitarbeiters der sogenannten „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, Berlin 1953; Kalte Krieger gehen unter. Dokumentarisches Material über die verbrecherische Tätigkeit der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, Berlin 1955; Unmenschlichkeit. Tatsachen über Verbrecher der „Kampfgruppen gegen Unmenschlichkeit“, Berlin 1955; SED-Zentralkomitee, Abt. Agitation und Presse/Rundfunk: In Sachen Benkowitz und andere, Berlin 1955; Unmenschlichkeit als System. Dokumentarbericht über die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, Berlin 1957.
6 Vgl. Finn, Nichtstun.
7 Vgl. Jochen Staadt, Vergeßt sie nicht! Freiheit war ihr Ziel – Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2008), Nr. 24, S. 60–79.
8 Vgl. Hieke, Deckname Walter; Merz, Krieg, S. 184; Unmenschlichkeit als System, S. 103; Finn, Nichtstun, S. 84.
9 Vgl. Staadt, KgU.
10 Vgl. Carina Baganz, Hohnstein, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 2, München 2005, S. 129; BArch ZA I 11651 A. 10, Bl. 44; SSHStAD 13471, ZB II Nr. 4340/1.

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