R. v. d. Hoff: Konstruktionen von Wirklichkeit

Cover
Titel
Konstruktionen von Wirklichkeit. Bilder im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr.


Herausgeber
von den Hoff, Ralf; Schmidt, Stefan
Erschienen
Stuttgart 2001: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Sommer, Orientalisches Seminar/ Seminar für Alte Geschichte, Universität Freiburg i.Br.

Auf dem Titel prangt ein Bild: Ein Symposiast streichelt ein Kaninchen, den Blick versonnen empor gerichtet. Daß sich hinter dem Bild ein ganzer Kosmos von Ideen und Vorstellungen verbirgt, kann der unbefangene Betrachter nur ahnen. Die Ahnung verdichtet sich nach der Lektüre des Bandes zur Gewißheit: Bilder und Texte, von den Historikern schnöde als "Quellen" benutzt, geben umfassenden "Konstruktionen von Wirklichkeit" - eben "Bildern" in einer umfassenderen Bedeutung - Ausdruck, Sinn- und Lebenswelten, die uns meist völlig fremd sind. Sie harren der Entdeckung und Entschlüsselung, und dazu hat der vorliegende Sammelband zu Bildern im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. einen Anfang gemacht, der sich sehen lassen kann.

Der 1. Abschnitt ("Konstruktion des Politischen und kollektive Identität") hat verschiedene Möglichkeiten zum Gegenstand, einem Wir-Gefühl auf unterschiedlichen Ebenen medial Ausdruck zu verleihen bzw. gar es zu generieren. Nicht zufällig beschäftigen sich drei der fünf Studien direkt oder indirekt mit Mechanismen der Ausgrenzung, mit der Konstruktion von Alterität - die, wie wir seit der epochalen Arbeit von Erving Goffman wissen,1 aufs engste mit der Konstruktion von Identität, personaler wie kollektiver, gekoppelt ist. Erst die Bewußtwerdung des Fremden verleiht der eigenen Gruppe schärfere Konturen, nicht selten in Prozessen "'kontrastiver' oder 'antagonistischer' Solidarisierung".2 Ein Archetypus der Alteritätskonstruktion begegnet in der von Egon Flaig untersuchten Abwertung des Sklaven zum Untermenschen in der Philosophie: Kein Mensch wurde zum Sklaven, er war es von Natur aus. Indes prägte weit über den elitären Zirkel der Philosophenschulen hinaus die elementare Opposition Polisbürger-Sklave das politische Klima. Für die polis, für deren politisches Gefüge die Sklaverei ökonomische conditio sine qua non war, stiftete sie auch eine wesentliche Komponente ihrer sozialen Kohäsion: Gerade wer am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie stand, bezog sein Selbstwertgefühl als freier Bürger maßgeblich aus der Abgrenzung zum Subproletariat der Unfreien.

Die von Detlev Wannagat untersuchte attische Oinochoe, auf der eine durch Kleidung und Barttracht als Orientale ausgewiesene Person dargestellt ist, die in offenkundig sexueller Absicht von einem "Griechen" verfolgt wird, birgt Abgrenzungspotential auf einer anderen Ebene. Wannagats Studie weist nach, daß es bei dem Bild nicht um die naheliegende Konfrontation "Grieche vs. Perser" geht, denn der dargestellte Grieche ist keineswegs Identifikationsfigur. Vielmehr steht er, mit Fellumhang und Zottelbart, stellvertretend für marginale Gruppen in der Polis: Hirten, die als Leichtbewaffnete dienten, auf welche die Hopliten herabsahen.

Abgrenzungsbemühungen gegen die unmittelbaren Nachbarn verraten die von Stefan Ritter untersuchten Münzbilder aus Elis, die mit ihrer Ikonographie Verlust und Wiederinbesitznahme des Heiligtums in Olympia zum Thema haben. Eher auf Integration denn auf Abgrenzung zielt die ikonographische Behandlung des attischen Helden Theseus und seines Sieges über den Minotaurus, mit der sich Ralf von den Hoff auseinandersetzt: Ihr Wandel seit den Perserkriegen reflektiert die fortschreitend aggressive Tendenz in der athenischen Außenpolitik. Integrativ im panhellenischen Maßstab schließlich wirkte das Apollon-Heiligtum von Delphi, wo Schatzhäuser und Weihgeschenke einen medialen Raum zur Demonstration von Macht und Einfluß der poleis boten (Veit Rosenberger).

Damit ist bereits die Brücke geschlagen zum Feld der Religion, dem Thema des 2. Abschnitts. Religion bot mit ihrem transgressiven Potential stets Möglichkeiten, scheinbar feste Grenzen zu verwischen. Das zeigen die von Anja Klöckner untersuchten Weihreliefs aus Athen, auf denen im Auftrag wohlhabender Bürger (in Akten bewußt provozierender Selbstinszenierung?) Götter und Menschen ikonographisch aneinander angenähert werden. Eine andere Grenze, jene zwischen Leben und Tod, verschwimmt in den Jenseitskonstruktionen der bakchischen Mysterien, die den Eingeweihten bakchisches Vergnügen über den Tod hinaus verhießen (Renate Schlesier). Religion konnte aber, wie die "gefährlichen Frauen" Kai Trampedachs bitter erfahren mußten, soziale Grenzen auch zementieren: Gegen das Unabhängigkeitsstreben unverheirateter, vormundfreier Frauen zog die athenische Männergesellschaft bisweilen mit dem Mittel der Asebieprozesse die Notbremse. Abweichung von der sozialen Norm wurde, im symbolischen Koordinatensystem der polis, unverzüglich in religiöse Kategorien übersetzt - mit für die Betroffenen im Extremfall letalen Folgen.

Mit Rollenbildern setzt sich der 3. Abschnitt auseinander. Auch sie waren auf vielfältigen Ebenen Gegenstand der Konstruktion in Literatur und Bildwerken: so etwa die Rolle des Kindes, die - je nach Art und Gattung der von Jens-Arne Dickmann in den Blick genommenen Bilder - von Fall zu Fall variieren konnte, aber meist streng auf Erwachsene bezogen war. Ist Dickmanns Beitrag eher ein Plädoyer zur - bislang vernachlässigten - Auseinandersetzung mit Kinderrollen in oikos und polis, so bietet Susanne Moraw bereits Erklärungen für die scheinbar "unvereinbaren Gegensätze" zwischen divergenten Frauenrollen in der Literatur und auf Vasenbildern. Der aphrodisische Zug, der Frauengemachbildern auf Vasen des 4. Jahrhunderts anhaftet, entsprach - so arbeitet Moraw heraus - keineswegs der realen Lebenswelt der griechischen Frau, sondern war lediglich einer von mehreren alternativen Entwürfen idealer Weiblichkeit.

Bilder und Texte als "unterschiedliche diskursive Formationen" (S. 207) legt auch Adrian Stähli seiner Untersuchung homosexueller Männlichkeit zugrunde. Die Knabenliebe, so wie sie auf klassischen Vasenbildern dargestellt war, entschlüsselt Stähli als ein komplexes Ritual, in der jüngere und ältere Angehörige der leisure class in einem Raum sozialer Exklusivität ihre geschlechtliche Rolle fanden. Männlichkeit und soziale Exklusivität verbinden die eromenoi und erastai der Vasenbilder mit den "jungen Reitern" des Parthenonfrieses, die Günter Fischer untersucht. Vor dem historischen Hintergrund einer erstarkenden athenischen Reiterei leistete der Fries die visuelle Integration der latent oppositionsverdächtigen Jungaristokraten in den Solidarverband der demokratischen polis. Ihre Probleme mit der polis hatten nicht selten auch jene Athleten, die siegreich von einem der panhellenischen Spiele heimkehrten. Mit dem Niedergang der aristokratischen polis seit spätarchaischer Zeit war ihre Stellung zunächst nicht klar definiert. Einen Ausweg aus dem Dilemma wies, wie Martin Bentz und Christian Mann anhand von Heroenlegenden und Sepulkralmonumenten plausibel machen, die Heroisierung der Athleten im Dienst des Bürgerverbands.

Buchstäblich ans Eingemachte geht es im 4., den Band beschließenden Abschnitt ("Strategien der Wirklichkeitskonstruktion"). Im Mittelpunkt der vier Beiträge steht jeweils die Frage: Wie wirken Bilder, wie leisten Texte und Bildwerke den Aufbau von Sinnwelten? In diesem Zusammenhang von "Strategien" zu sprechen, geht vielleicht eine Idee zu weit; angebrachter wäre wohl eher der Begriff "Mechanismen", da Konstruktion ja nicht unbedingt ein bewußter Akt sein muß. Zweimal richtet sich der Blick auf die Tragödie: Peter von Möllendorff untersucht, am Beispiel des sophokleischen Aias, die Konstruktion eines Helden mit dem Mittel der Intertextualität: Unverkennbar waren für den Zuschauer des 5. Jahrhunderts die Bezüge auf die Figur des Hektor. Zusammenhänge zwischen Bild und Text scheinen deutlich dort auf, wo die Tragödie das Mittel der Körpersprache zu Hilfe nimmt. Körper gerinnen so nachgerade zu Bildern, die Handlung hält inne (Susanne Gödde).

Bildern im materiellen Sinn widmen sich die beiden letzten Beiträge: Stefan Schmidt fragt - am Beispiel von Musendarstellungen auf attischen Gefäßen - gerade nach der Intentionalität von Wirklichkeitskonstruktion. Im 5. Jahrhundert, so Schmidt, setzte sich allmählich die Auffassung durch, daß Bilder über das bloß Darstellende hinaus als "Medien" zur Übermittlung von Sinnbotschaften eingesetzt werden konnten. Daß Bilder nicht im luftleeren Raum existierten, sondern in vielfältige Kontexte eingebunden waren und, je nach Zusammenhang, unterschiedlichen Interpretationen offenstanden, ist Gegenstand des Beitrags von Barbara Borg. Da die Antike die Frage "Was ist Wahrheit?" grundsätzlich anders als die Moderne beantwortete, taten sich für die Deutung von Bildwerken ganz andere Spielräume auf. Entsprechend anders waren auch die Möglichkeiten, Personifikation und Allegorie als expressive Mittel in der Bildkunst zu nutzen.

Aus unterschiedlichsten Perspektiven erschließen die von von den Hoff und Schmidt zusammengebrachten Aufsätze die mentale Topographie einer Epoche antiker Geschichte, mit der wir bestens vertraut zu sein meinen. Doch ist es, wie hier eindrucksvoll vor Augen geführt wird, eine Frage von Blickwinkel und Methodik, die griechische Klassik in ganz neuem Gewand zu zeigen. Wenn zudem der Band mehr ist als die Summe seiner Beiträge (und das wäre schon viel), ist dies das Verdienst der Herausgeber: Sie haben eine außerordentliche editorische Umsicht an den Tag gelegt, haben dem Material durch eine sinnvolle Gliederung zu mehr Geltung verholfen und vor allem mit einer Einführung, die an Gehalt und Dichte nichts zu wünschen übrig läßt, dem Band eine glänzende Ouvertüre vorangestellt. Transdisziplinär belesen und methodisch versiert, bieten von den Hoff und Schmidt dem Leser eine Handreichung beim Einstieg in Wissenssoziologie und Konstruktivismus, in Foucault und Berger/Luckmann, nicht zuletzt in ganz neue Forschungsfelder wie die Bildwissenschaft,3 die auch eingefleischten Quellenpositivisten, sofern sie das Buch überhaupt zur Hand nehmen, Appetit auf mehr machen sollte. Im schillernden Begriff des "Bildes" - im wörtlichen und übertragenen Sinn - bündeln sich die in den einzelnen Beiträgen aus sehr unterschiedlichen Quellengattungen und Lebensbereichen gewonnen Erkenntnisse geradezu mustergültig. Der Band hat fraglos für die Altertumswissenschaft neue Maßstäbe gesetzt; er wird, so ist zu hoffen, zur Auseinandersetzung mit "Konstruktionen der Wirklichkeit" auch in anderen historischen Zusammenhängen, in und jenseits der Antike, anregen.

Anmerkungen

1 Goffman, E.: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main 1967.
2 Assmann, J.: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl., München 1997, 134.
3 Unentbehrlich Belting, H. (Hrsg.): Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000; ders.: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, 2. Aufl., München 2002. Vgl. auch, in der Anwendung auf den Alten Orient, die Beiträge in Heinz, M./ Bonatz, D. (Hrsg.): Bild - Macht - Geschichte. Visuelle Kommunikation im Alten Orient, Berlin 2002 (im Druck).

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