Cover
Titel
Im Herbst der Volksparteien?. Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration


Autor(en)
Walter, Franz
Reihe
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft
Anzahl Seiten
132 S.
Preis
€ 14,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Best, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

33,8 Prozent für die CDU/CSU, gerade einmal 23 Prozent für die SPD – das Ergebnis der jüngsten Bundestagswahl scheint Franz Walters Titelgebung seines neuen Buchs „Im Herbst der Volksparteien?“ zu bestätigen. Der Göttinger Parteienforscher, dessen rege Publikationstätigkeit ihresgleichen sucht, legt damit eine Aktualisierung seines 2000 in Koautorschaft mit Tobias Dürr vorgelegten Bandes „Die Heimatlosigkeit der Macht“ vor.1 Allerdings entfaltet er die Diagnose nicht wie 2000 vor dem Hintergrund der Mediengesellschaft, sondern bettet sie in den Kontext der Parteienstaatskritik ein. Er konzentriert sich auf CDU und SPD, nachdem er das Gesamtpanorama der Bundestagsparteien bereits im Vorjahr in der stärker soziologisch akzentuierten Monographie „Baustelle Deutschland“ inspiziert hatte.2 Mehr Raum erhält nun vor allem die CDU, da die SPD-Kapitel in den beiden anderen Werken stark überdimensioniert ausfielen.

Prägnant skizziert Walter die bisherigen Rollen der beiden Volksparteien: „Die CDU stellte die Führung des politischen Konzerns, die Sozialdemokraten bildeten den Betriebsrat.“ (S. 15) Wie schon die Zentrumspartei verfügte Konrad Adenauer mit dem katholischen Milieu – das im Unterschied zum sozialistischen Lager den Nationalsozialismus weitgehend unbehelligt überdauert hatte – über ein Elektorat, wie man es sich als Politiker kaum komfortabler wünschen kann: politisch indifferent, aber hervorragend mobilisierbar (dank eines Vereinswesens, das die anfangs nicht vorhandenen Parteistrukturen kompensierte). Adenauers Patriarchalismus traf den Nerv der politisch erschöpften Deutschen, ganz anders als der agitatorische Sozialdemokrat Kurt Schumacher. Er ermöglichte zugleich die friedliche Koexistenz der im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre dank des „C“ genauso vage wie nachhaltig verklammerten katholischen und protestantisch-bürgerlichen Milieus. Dieser bundesdeutsche Sonderweg ersparte der CDU das Niedergangsschicksal ihrer weiterhin katholisch dominierten europäischen Schwesterparteien. Zum „eigentlichen Klebstoff“ (S. 26) des neuen Bündnisses wurde aber – auch dies in seiner Ausprägung eine westdeutsche Eigenheit im christdemokratischen Parteienspektrum – der Antisozialismus. Als Glücksfall für Adenauer erwies sich daher die verzögerte Neustaatsbildung: Da sich der Sozialkatholizismus 1949 bereits im Abstieg befand, konnte Adenauer eine „römisch-rote Koalition“ nach dem Modell vieler europäischer Nachbarländer zu Gunsten einer kleinen bürgerlichen Koalition abwenden, die eine Polarisierungsstrategie gegenüber den Sozialdemokraten und die Einverleibung kleinerer bürgerlicher Parteien ermöglichte.

Besser als in „Die Heimatlosigkeit der Macht“ arbeitet Walter in seinem neuen Buch heraus, wie lange die CDU aus ihrem „Nimbus [als] Gründerin einer Erfolgsrepublik“ (S. 21) schöpfen konnte, der just im Moment seines Verblassens durch die deutsche Einheit noch einmal aufpoliert wurde, und wie sich die CDU bemühte, die „Erinnerungen an die christdemokratische Heldenzeit“ (S. 22) wachzuhalten. Das jüngste Bundestagswahlprogramm lieferte noch einmal ein prägnantes Zeugnis dieser Geschichtspolitik: Alle wichtigen Weichen auf dem Weg zur Einheit seien von der Union gestellt worden; die neue Ostpolitik Willy Brandts fällt unter den Tisch.3 Neu sind bei Walter zudem die Beschreibung der Polarisierungsstrategie Adenauers, die Kritik der Parteireform der 1970er-Jahre sowie Reflexionen über elektorale Wirkmächtigkeit und politische Bedeutungslosigkeit des „C“ im Parteinamen.

Als Zäsur in der Entwicklung der CDU macht Walter aus, dass sich das christdemokratische Lager Mitte der 1990er-Jahre, als die wirtschaftliche Prosperität versiegt war, in kleinbürgerliche Besitzstandswahrer und neoliberale Fundamentalreformer aufspaltete. Während die erste Hälfte des CDU-Kapitels – gleiches gilt für den SPD-Abschnitt – weitgehend auf Textbausteinen aus „Die Heimatlosigkeit der Macht“ beruht, nehmen die Ausführungen ab diesem Punkt eine deutlich andere Richtung. Im Jahr 2000 glaubten Walter und Dürr die Zeit der forschen Deregulierungspostulate bereits überwunden, sahen die CDU unter dem Eindruck der Landtagswahlen des Vorjahres gar zur „gesamtbürgerlichen Einheitspartei“ aufgestiegen4, die FDP am Rande ihrer Parteiförmigkeit – eine Konstellation, die sie seltsamerweise trotz Spendenaffäre für relativ stabil hielten.

Im vorliegenden Band liest sich die jüngere Vergangenheit ganz anders: Der CDU sei die Balance zwischen Traditionalisten und Modernisierern nicht mehr gelungen – für Walter die zentrale Erklärung dafür, dass die Partei bei den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005 stets unter 40 Prozent blieb. Über eindeutigen Rückhalt verfüge die Union nur noch unter den Rentnern, wobei ihre Kernwählerschaft der 1920er- und 1930er-Geburtsjahrgänge nach und nach verschwinde. Dieser Befund hat sich bei der Bundestagswahl 2009 bestätigt, nicht aber Walters daran anknüpfende These, das „bürgerliche Lager“ habe seine strukturelle Mehrheitsfähigkeit insgesamt eingebüßt.

In diesem zweiten Teil finden sich einige Einsprengsel aus „Baustelle Deutschland“ wieder, etwa die Würdigung von Jürgen Rüttgers’ Anstrengungen, die der CDU bei den Landtagswahlen 2003/04 zugelaufenen Wähler aus der Arbeiterschaft langfristig zu binden, oder die plastische Schilderung des Unverständnisses und Unwillens des „zornigen Bürgertums“ gegenüber der Politik. Insgesamt fällt die Betrachtung der CDU konsistenter aus als in „Baustelle Deutschland“, wo sie durch ein FDP-Binnenkapitel zerrissen wird. Als Schwachpunkt kann man betrachten, dass die CSU erst spät und nahezu ausschließlich in Bezug auf die Landtagswahl 2008 Erwähnung findet.

Die SPD beschreibt Walter als Partei, die auf Grund ihrer prägenden historischen Erfahrungen mit staatlicher Bekämpfung und gesellschaftlicher Ausgrenzung im Wilhelminischen Obrigkeitsstaat sowie – nach vorübergehenden Volksparteitendenzen – in der Weimarer Republik einerseits über „ungeheure Ressourcen“ verfügt habe, andererseits aber über „viele Neurosen“ (S. 55). Im Gegensatz zu „Die Heimatlosigkeit der Macht“ verfolgt Walter den Zerfall sozialdemokratischer Strukturen auch für die NS-Zeit weiter. Hingegen verzichtet er auf die dort vorgebrachte These zum Versagen des sozialdemokratischen Milieus in der SBZ. In Westdeutschland verharrte die SPD nach 1945 zunächst in den Grenzen des eigenen Lagers. Der Erfolg der Parteimodernisierung in den 1960er-Jahren ist für Walter undenkbar ohne die Zähmung der Traditionalisten durch den sich der Parteiraison fügenden Erich Ollenhauer. Die Parteibasis nahm den Öffnungskurs zwar diszipliniert hin, doch wurde Brandt – dessen Bestellung zum SPD-Kanzlerkandidaten Walter bis dahin lediglich als „Bückling vor der Mediengesellschaft“ versteht (S. 66) – erst als Künder der neuen Ostpolitik, die moralische Überlegenheit gegenüber der Union verhieß, zur sozialdemokratischen Heldengestalt. Die „neue Ära utopischen Überschusses“ begann Walter zufolge somit bereits 1966 und nicht erst als Folge der 1968er-Bewegung oder der „überzogenen Aufbruchsrhetorik“ Brandts als Kanzler (S. 71). Letztere bescherte der SPD aber neuen Zulauf und damit eine folgenreiche Verjüngung: „Die neue Generation verdrängte zunächst die Alten, später dann die Jüngeren.“ (S. 74)

Vor allem der Postmaterialismus dieser neuen Generation entfremdete die SPD von ihrer Wählerschaft. Die Partei wurde auch Opfer ihres eigenen Erfolges der Bildungsexpansion der 1960er- und 1970er-Jahre: Viele Facharbeiterkinder stiegen auf; zurück blieb ein marginalisiertes Restproletariat, das sich – wie überall in Westeuropa – von den Sozialdemokraten nicht mehr vertreten fühlte, und sich andernorts populistischen Politikanbietern zuwandte. Während der Ära Vogel verfiel die SPD in eine Depression, verkleisterte die Konflikte. Die Doppelspitze aus Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder, beide mittels Medienprofilierung gegen die eigene Partei aufgestiegen, konnte die heterogenen Anhängerschaften zwar im Wahlkampf 1998 erfolgreich bündeln, doch zum Regieren taugte dieser „kunstvoll ausbalancierte Dualismus“ nicht (S. 84). Schröders Versuch einer aufgezwungenen Modernisierung in Form des „Schröder-Blair-Papiers“ von 1999 kritisiert Walter massiv. An der Agenda-Politik moniert er die fehlende Leitidee, respektiert aber „die eisenharte Anstrengung […], die traditionelle und fatale Kluft […] zwischen Phrase und Praxis zu schließen“ (S. 97). Warum Walter seine frühere Charakterisierung Münteferings als „zeitgemäße Variante Ollenhauers“5 nicht mehr vertritt, verrät er leider nicht. Zu Recht lässt er hingegen die überzogene Polemik gegen die Konzeption des „vorsorgenden Sozialstaats“ aus „Baustelle Deutschland“ weg. Für eine Kehrtwende hat sich die SPD Walter zufolge „sozial, personell, programmatisch […] zu sehr und unter allzu großen Schmerzen verändert“ (S. 96). Sie sei nun, wie er etwas gehässig formuliert, „eine gemäßigt soziale, gemäßigt linksliberale, gemäßigt kosmopolitische Partei der gemäßigt halblinken Mitte“ (ebd.), müsse das aber noch eingestehen – sich selbst und der Gesellschaft gegenüber.

Insgesamt ist Franz Walter mit „Im Herbst der Volksparteien?“ ein sehr lesenswertes Buch zum „Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration“ gelungen, selbst wenn viele Aspekte weitere Vertiefung verdient hätten.

Anmerkungen:
1 Franz Walter / Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000.
2 Franz Walter, Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbindung, Frankfurt am Main 2008.
3 Vgl. CDU-Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Wir haben die Kraft – Gemeinsam für unser Land. Regierungsprogramm 2009–2013, Berlin 2009, S. 58f., <http://www.cdu.de/doc/pdfc/090628-beschluss-regierungsprogramm-cducsu.pdf> (2.10.2009).
4 Walter / Dürr, Heimatlosigkeit der Macht, S. 151.
5 Ebd., S. 109.

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