T. Etzemüller (Hrsg.): Die Ordnung der Moderne

Cover
Titel
Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Etzemüller, Thomas
Reihe
Histoire 9
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Geulen, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau

Wer über die „Ordnung der Moderne“ redet, sollte dies im transitiven Sinne tun, Ordnung also nicht als gegebene Struktur verstehen, sondern als Prozess und Praxis. Denn gerade dort, wo in der Moderne auf Ordnung verwiesen und gepocht wird, geht es selten um bereits feststehende Ordnungsstrukturen, sondern primär um den Aufruf, Ordnung (wieder) herzustellen. In eben diesem Sinne muss auch der Ordnungsbegriff im Titel des von Thomas Etzemüller herausgegebenen – und unbedingt zu empfehlenden – Sammelbands gelesen werden, der sich in zwei programmatischen und zwölf empirischen Studien mit dem Phänomen des „Social Engineering“ im 20. Jahrhundert beschäftigt.

Das Thema ist hier weder die Moderne als im Horizont der Aufklärung entstandene normative Zielutopie und deren Geltung noch die Epoche der Moderne als Zeitalter der geglückten oder auch missglückten Verwirklichung dieses Ideals. Vielmehr fragen die Autorinnen und Autoren konkreter nach Formen sozialer Ordnung und politischer Gestaltung unter den Bedingungen der Moderne. Zum Social Engineering gehören unter anderem die Rationalisierung der Körper und Bevölkerungen, die Stadt- und Raumplanungen, die Sozialpolitik, die Wohnungs- und Verkehrsplanung, Bildung und Erziehung, die Regulierung von Wirtschaft und Konsum, generell die Schaffung moderner Lebensformen und Lebensräume nach Maßgabe und zum Zwecke ihres effizienteren, den (auch normativen) Ansprüchen der Moderne besser genügenden Funktionierens. Im Prinzip geht es um „Verhaltenslehren“, die in ihrer Summe das ausmachen, was Michel Foucault Gouvernementalität nannte – die Kunst des Regierens, oder genauer: die Kunst, die Gesellschaft so zu gestalten, dass sie so wenig wie möglich direkt regiert werden muss.

Foucault hatte hier eine Metaebene im Blick, indem er nach Herkunft und Geschichte der Relation von Ordnung und Freiheit als Dispositiv vom spätmittelalterlichen Pastorat bis zum modernen Liberalismus fragte. Etzemüllers Band ist viel konkreter und bezieht sich nicht auf die Herausbildung moderner Gesellschaftsbedingungen, sondern auf die Modelle und Entwürfe sozialer Ordnung nach deren Durchsetzung. Deshalb setzt der Band historisch dort ein, wo die Reste ständischer Strukturen im späten 19. Jahrhundert endgültig von modernen Marktbedingungen und der beginnenden Globalisierung überformt wurden. Subjekt und zugleich Objekt des Social Engineering ist das moderne Individuum, das zwar deutlich bestimmte Klassen-, Schicht- und Gruppenpositionen einnimmt, mit denen aber eben keine tradierten Verhaltenslehren mehr einhergehen.

Eine frühe literarische Illustration dieses „neuen Menschen“ findet sich bereits in den 1840er-Jahren in Edgar Allan Poes Kurzgeschichte „The Man of the Crowd“: Der Erzähler, ein Gesellschaftsbeobachter und Menschenkenner, begegnet einem Mann, den er nicht einordnen kann. Er beschließt, diesem Mann zu folgen, um etwas über ihn zu erfahren. Der Mann aber rennt ziellos durch die Stadt, immer dorthin, wo noch Menschen auf der Straße sind, um nach einem vollen Tag wieder dort anzukommen, wo der Erzähler ihn zum ersten Mal sah. Dieser Mann ist der Mann der Masse – „er lässt sich nicht lesen“. Während spätere Analysen (Gustave Le Bon und Folgende) für diesen Massenmenschen immer schon eine Lesart parat haben und ausgerechnet dem Massenmenschen eine klar erkennbare, meist primitive Verhaltensweise zuschreiben, wird bei Poe noch die geradezu unheimliche Herausforderung deutlich, die das moderne Phänomen der Nicht-Zugehörigkeit darstellt.

Auf diese Herausforderung reagierte das Social Engineering – auch und gerade dort, wo es neue Kollektive, neue Zugehörigkeiten und neue Lebensformen zu beschreiben bzw. zu erfinden suchte. Die sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, so hat es Eric Voegelin einmal ausgedrückt, hatten die ungeordnete und unspezifische Bevölkerung als Basis jeder Sozialordnung freigelegt, die die neuen modernen „Leibideen“ – allen voran biopolitische Konzepte – nun zum Ausgangspunkt einer Neuordnung der Gesellschaft erhoben. Etzemüller betont in seiner Einleitung, dass es vor allem Experten und Wissenschaftler waren, die neue, vom Menschen und seinen Grundbedürfnissen ausgehende Ordnungspläne erfanden und sich dabei oftmals daran orientierten, was „von Natur aus“ sinnvoll erschien. Dabei sollten der modernen Gesellschaft neue, ihr entsprechende Formen der Gemeinschaftlichkeit zurückgegeben werden – mit Effekten, die von heute noch geltenden sozialstaatlichen Techniken bis zu totalitären Experimenten reichten. So verweist der Band mehrfach auf die von Wolfgang Schivelbusch beschriebene „entfernte Verwandtschaft“ zwischen dem amerikanischen New Deal und den faschistischen Systemen Europas in den 1930er-Jahren, um deutlich zu machen, dass die Ordnung der Moderne gerade nicht auf politische Systemdifferenzen zurückgerechnet werden sollte.

Entsprechend breit und international ist das Spektrum der Fallstudien, die der Band versammelt. Es reicht von der Verkehrs-, Städtebau- und Sozialplanung in Deutschland, Großbritannien und Schweden über mehrere Studien zu den Vereinigten Staaten (wo das Konzept des Social Engineering erfunden wurde) bis zu Sozialordnungsmodellen in der russischen Sowjet- und in der chinesischen Volksrepublik der 1950er-Jahre. Am Ende stehen noch einmal zwei Aufsätze zum (west)deutschen Fall: zur Harzburger Betriebsführungsschule der 1960er- und 1970er-Jahre sowie zum Gemeinschaftsdenken der frühen grünen Protestbewegung. Auf eine Einzelvorstellung dieser empirisch gesättigten Studien, die nur eine entstellende Verkürzung sein könnte, wird hier verzichtet. Wichtiger ist, dass die Beiträge zum weit überwiegenden Teil belegen, was Etzemüller in der Einleitung skizziert.

Die verschiedenen Formen und Kontexte, in denen die Ordnungsprogramme entworfen und umgesetzt wurden, unterscheiden sich nicht nur entlang politisch-räumlicher Grenzen, sondern durchliefen auch zeitlich unterschiedliche Phasen. Zu dieser historischen Entwicklung macht Anselm Doering-Manteuffel gleich nach Etzemüllers Einleitung einen programmatischen Vorschlag. Er unterscheidet drei sich stark überlappende Phasen des Social Engineering seit etwa 1880. Dabei spricht er von „Zeitschichten“, die faktisch aber nicht nur historische Kontexte markieren, sondern als Orientierungsformen von „Ordnung“ auftreten. Man könnte auch von drei längerfristig geltenden und sich immer nur allmählich ablösenden „Betriebssystemen“ sprechen, unter deren Bedingungen die sozialen Ordnungsprogramme „laufen“ und durch die sie sich als historisch kompatibel erweisen.

Die erste Phase markiert Doering-Manteuffel mit dem Begriff des Anti-Historismus. Sie ist gekennzeichnet von der Krise bzw. dem Niedergang sowohl des Geschichtsbewusstseins wie der klassischen liberalen Fortschrittsidee. An ihre Stelle treten die Idee eines Fortschritts als Naturgesetz und die Suche nach den „haltenden Mächten“ und ewigen Ordnungen, die – inmitten rasanter Veränderungen der gesellschaftlichen Lebensweise – allein noch Stabilität zu garantieren schienen. Diese Phase reicht von den 1880er-Jahren bis in die 1940er-Jahre. Die zweite Phase, beginnend mit der Weltwirtschaftskrise von 1929, reagiert in anderer Weise auf die Krise von Geschichte und Fortschritt, indem sie die neue Idee eines Fortschritts entwirft, der planbar ist und geplant werden muss. Sie reicht bis in die 1980er-Jahre hinein und wird von Doering-Manteuffel vor allem mit dem Modernisierungsparadigma assoziiert. Zugleich wird hier aber schon ein interessanter Effekt dieser Art von Überlappungschronologie deutlich, insofern sich die totalitären Systeme der Mitte des 20. Jahrhunderts in diesem Modell nur über die Leitbegriffe beider Phasen erschließen lassen – anti-historistischer bzw. antiliberaler Naturalismus und planbarer Fortschritt. Je mehr sich die zweite Zeitschicht durchsetzt, desto mehr tritt an die Stelle naturaler Ordnungsmodelle der Begriff der Gesellschaft selbst als Leitfigur ihrer Ordnung. Es ist die Hochphase der sozialwissenschaftlichen Selbstbeschreibungen der Moderne, die nicht erst in den 1960er-Jahren eine Vielzahl von Reformprogrammen hervorbringt.

Ab den 1970er-Jahren setzt dann eine dritte Phase ein, in der die Idee einer planbaren Gesellschaft verabschiedet wird. Doering-Manteuffel nennt sie die poststrukturale Phase und meint damit nicht nur die theoretische Skepsis gegenüber den großen Erzählungen, sondern ebenso die Genealogie des Neoliberalismus, der mit liberal-konservativen Ideen einer Rückkehr zur Verantwortung des Einzelnen unter Thatcher und Reagan begann und in der jüngsten Finanzkrise seine bislang schärfste Erschütterung erlebt. Doch auch diese Phase geht keineswegs mit einer Wiederbelebung der Fortschrittsidee des 19. Jahrhunderts einher. Vielmehr dominiert heute, wie Doering-Manteuffel abschließend bemerkt, ein Kult der Gegenwärtigkeit, der Fragen nach dem Woher und Wohin noch systematischer ausschließt als in den vorangegangenen Phasen. Am Ende deutet Doering-Manteuffel an, dass eine Wiederbelebung der Idee des Fortschritts und eines geschichtlichen Begriffs von Zukunft nötig sein könnte, mithin eine Erinnerung an Liberalismus und Historismus des 19. Jahrhunderts.

So manches an dieser Chronologie wirft Fragen auf, wie etwa die allzu rasche Gleichsetzung von Fortschrittsdenken und historischem Denken – haben sie nicht immer auch einen erbitterten Kampf gegeneinander geführt? Sicher ist zumindest, dass beide am Beginn des 20. Jahrhunderts in eine tiefe Krise gerieten. Und es ist gerade diese Binnenperspektive des Phasenmodells, die das 20. Jahrhundert aus seiner eigenen Phänomenologie her historisierend zu erschließen sucht und das Modell dadurch überzeugend macht. Nicht wenige Befunde aus den Fallstudien des Bandes lassen sich in die Überlappungschronologie einordnen und mit ihrer Hilfe zueinander in Bezug setzen. Damit zeigt der Band insgesamt, dass sich das zunächst sperrig erscheinende Thema des Social Engineering bestens eignet, um nicht nur das 20. Jahrhundert, sondern auch die Moderne selber einer Historisierung zu unterziehen – und das gerade ohne einen künstlichen Standort des Nach-Modernen erfinden zu müssen.