M. Doering: 1848/49 in Schulgeschichtsbüchern

Titel
Das sperrige Erbe. Die Revolutionen von 1848/49 im Spiegel deutscher Schulgeschichtsbücher (1890-1945)


Autor(en)
Doering, Michael
Reihe
Internationale Hochschulschriften 518
Erschienen
Münster 2008: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
562 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin C. Wald, Studienseminar Braunschweig

„1848“ war noch kaum vergangen, da machte das Schmähwort vom „tollen Jahr“ die Runde, vor allem durch das konservative, revolutionsfeindliche Deutschland. Es wäre zu erwarten gewesen, dass vor allem im Kaiserreich dieser Topos von Schulbüchern aufgegriffen wurde, um die Revolutionserinnerung im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wenn nicht zu löschen, so doch völlig zu entwerten. Es ist eine der Überraschungen der Münsteraner Dissertation von Michael Doering, der etwa 120 Schulbücher aus Wilhelminismus, Weimarer Republik und Nationalsozialismus auf ihr Bild von den Revolutionen von 1848/49 überprüft, dass genau dies selbst in den einfachsten, liebedienerischsten Büchern für die Volksschule nicht mehr geschah. Auch Schulbücher sind in einen „Prozess der Verarbeitung“ involviert: „von der Verdrängung über die Abqualifizierung zur vorsichtigen Aufwertung als ein die deutsche Geschichte strukturierendes Ereignis“.1

Sympathisch und sinnvoll ist es, dass Doering nicht gezwungen den Anschluss an neuere Tendenzen der Kulturgeschichte sucht, sondern sich als Zeitgeistforscher in der Tradition Hans-Joachim Schoeps’ verortet, der die ersten, immer noch einschlägigen Analysen von Schulbüchern als „typische und repräsentative Quelle“ für „die Bewußtseinsanalyse einer Epoche“ anregte.2 Doerings deskriptiv-analytischer Ansatz geht zweischrittig vor: Nach der gewissenhaften Auswertung der statistischen Befunde, die bereits signifikante statistische Parameter, und somit Gewichte, Verschiebungen und Auffälligkeiten dokumentiert, folgt die eigentliche Textanalyse nach epochenspezifischen, schulformbezogenen und regionalgebundenen (preußischen und bayerischen) Zugriffen. Das Quellenkorpus problematisiert der Autor vorbildlich nach Repräsentativität und Quellenwert und gliedert es in sechs, die Schulformspezifik klugerweise gleichrangig neben die Epochenspezifik stellende Korpussegmente, um „sowohl die Geschichtsbilder der später staatstragenden Eliten wie der regelschulpflichtigen Massen“ (S. 21) zu erfassen.

Den Hauptteil, dem kompakte Überblicksdarstellungen zum Rang von „1848“ in der Geschichtswissenschaft und den Lehrplänen vorangehen, gliedert Doering sinnvoll in zwei Abteilungen. Die Sachkategorie „Die Ereignisse der Revolution“ stellt einen chronologischen Längsschnitt durch die Schulbuchthemen dar und fasst die Geschehnisse in Österreich und Preußen, die Paulskirchenversammlung als Bewegung ‚von unten’, die obrigkeitlichen Reformprojekte, die Verfassungsfrage, den Kampf um Schleswig-Holstein sowie den Seitenblick auf die Revolutionen in anderen europäischen Ländern zusammen. Eine valide und detaillierte statistische Auswertung mit übersichtlichen Grafiken führt in diese jeweiligen Unterkapitel ein. Doering stellt Rangfolgen dieser Sachkategorien durch alle drei Epochen fest, wobei von Monarchie über Republik in die Diktatur alles in allem die Vielfalt der dargestellten Inhalte rückläufig sei. Nicht ausgesprochen und infolgedessen fraglich bleibt, ob diese Entwicklung auf weltanschauliche Prozesse zurückzuführen oder den Erfordernissen didaktischer Reduktion geschuldet ist.

Der Autor kann in dieser Abteilung freilich nur wenig Überraschendes zutage fördern. Dass der Anteil österreichischer Geschichte in Büchern des Dritten Reiches einen Höhepunkt erreicht, ist ebenso erwartbar wie die Tatsache, dass der preußische Verfassungsoktroi in Büchern des Wilhelminismus, die Paulskirchenverfassung aber in Büchern der Weimarer Republik am gründlichsten und positivsten besprochen wird – ist in allen diesen Fällen doch auch ein deutlicher Gegenwartsbezug herstellbar. Dennoch macht Doering bereits hier die Konstante der Darstellungen deutlich, dass nämlich die Bücher aus allen sechs Korpussegmenten innere Widersprüche aufweisen und klare Bewertungsmaßstäbe vermissen lassen. Die „Bewegung von unten“ – durchgängig die dominierende Sachkategorie – bedeute in der Schule „ein beklemmendes Faszinosum, einem Naturereignis vergleichbar, dem man in plötzlicher Passivität ausgesetzt ist“ (S. 241). Seltsam kontrastiere auch – in Bezug auf das Paulskirchenparlament – „der hochgeschätzte Genius der individuellen Einzelperson mit dem bescheinigten Dilettantismus eines scheinbar monolithischen Parlaments“ (S. 242).

Mit der Deutungskategorie „Die Revolution als Ereignis“ ändert sich die Perspektive in Richtung eines problematisierenden Querschnitts. Einordnung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts sowie Ursachen, Charakter, Gründe für das Scheitern und Nachwirken der Revolution werden in stärker qualitativer und sprachlicher Analyse unter die Lupe genommen. Dass die Revolution in zwei Epochen als „ein Phänomen der dritten Ordnung“ erscheint, ist im Kaiserreich auf den „martialischen“ Zug kriegsgeschichtlicher Darstellung und den Abweichendes geradezu vertuschenden „dynastischen“ Zug in Büchern für das Niedere Schulwesen zurückzuführen. Im Dritten Reich kommt aber zusätzlich der „providentielle“ Zug hinzu: Vor dem Hintergrund der numerischen Abfolge und historischen Vorsehung vom Ersten über das Zweite zum Dritten Reich, durch die Klammer des „Reichsschmiedes“ Bismarck zusammengehalten, konnte die schwächliche 1848er-Revolution nur als „Irrweg“ erscheinen. In der Weimarer Republik wurde die Randständigkeit vorübergehend aufgehoben. Neu und die Darstellung auffrischend war hier der „kulturgeschichtliche“ Zug. Der „internationalisierende“ Zug der Bücher wird immer schwächer, seitdem er im Kaiserreich als „zentrifugaler Zug“ übersteigert erschien: Kulturpessimistisch ist vom grassierenden und pathologischen „Rundgang der Revolution durch Europa und Amerika“ zu lesen. Die vorgeschaltete Gliederung ist „anarchieverheißendes Stakkato“, „nur eine weitere Facette der drohenden, schier unaufhaltsamen Apokalypse“ (S. 386). Doering ist immer dann am stärksten, wenn er solche den Inhalt vorstrukturierende Textbilder in seine Überlegungen miteinbezieht.

Hinsichtlich der Ursachen wird in Monarchie und Republik das Einheitsstreben am höchsten gewertet. Die Diktatur wartet sodann am stärksten mit Verschwörungstheorien auf und sieht den Hauptantrieb in emanzipatorischen Bestrebungen – beurteilt diese aber negativ. Auch die Schuld des Scheiterns wird keineswegs monokausal betrachtet. Aus der Vielzahl der Erklärungen in Monarchie und Republik sticht Friedrich Wilhelms Ablehnung der Kaiserwürde hervor, was ein „Nein“ zur nationalen Einheitsbewegung bedeutet habe. Im Dritten Reich wird die Frage pauschal mit Verweis auf den „Willen zur Macht“ gelöst, der den Paulskirchenvertretern gefehlt habe. Stellungnahmen zu langfristigen Wirkungen der Revolution kommen in Lehrbüchern hingegen so gut wie gar nicht vor; sie sind eine Domäne der didaktischen Handreichungen für Lehrer. Gilt „1848“ im Wilhelminismus noch als „unfruchtbare Episode“ (S. 514), sieht Weimar hier zumindest den „Siegeszug des Konstitutionalismus“ (S. 515) besiegelt. Allen Epochen gemeinsam ist jedoch, dass sie die Revolution eher als „retardierendes“ Moment im deutschen Freiheits- und Einheitsstreben auffassen.

Kulturgeschichtlich am interessantesten ist vielleicht der Hang dazu, die Revolution lächerlich zu machen (S. 466-474). Häufig wird das „befremdlich-pittoreske Erscheinungsbild der Aufständischen“ (S. 466) hervorgehoben. Dieses „karnevalistische“ Element scheint ein Ausläufer jener Wertung als „tolles Jahr“ zu sein, der die Bücher ansonsten aus dem Weg gehen. Doch hätte Doering diese beziehungsreiche Form historischer Strukturierung – als Atempause und befreiendes Lachen zwischen den ehrfurchtsheischenden Epochenjahren 1813 und 1871 – vielleicht noch klarer herausarbeiten sollen. Fraglich hingegen ist, ob der Abdruck von zeitgenössischen Karikaturen tatsächlich ebenfalls in diesem Sinne zu interpretieren ist. Denn auf der anderen Seite war die Revolutionszeit auch eine klassische Epoche der politischen Karikatur; ihr Abdruck könnte also ebenso im Sinne einer Aufwertung der Kulturgeschichte interpretiert werden. Im heutigen Geschichtsunterricht spielen Karikaturen als quellenkritischer Zugang zur Geschichte gerade für diese Epoche eine herausragende Rolle und niemandem würde es einfallen, diesen Umstand als Versuch zu deuten, diese Epoche zu „ridikülisieren“. Der Nachweis, dass zwischen „Karikatur“ und „Karnevalisierung“ so etwas wie ein reziprokes Verhältnis besteht, wäre noch zu führen.

Leider fehlt in der ansonsten hervorragend belegten Studie eine quantitative Erfassung des Bildmaterials. Doerings Beschwichtigung, dass sowieso unklar sei, „inwieweit die Illustrationen einen eigenständigen Anteil am vermittelten Geschichtsbild beitrugen“ (S. 521), ist nicht überzeugend. Über die erschöpfend gedeuteten Bilder hinaus (Paulskirchenplenarsaal, S. 169-176; Bilderzyklus „Auch ein Totentanz“ Alfred Rethels, S. 496-500) gab es weiteres Bildmaterial. Recht unvermittelt und nur einmal spricht Doering davon, dass in der Weimarer Republik vergleichende Synopsen und Schaubilder zu den Verfassungsorganen „die im Kaiserreich beliebten Genealogien“ ablösten (S. 296). Dabei wäre an dieser neuen Schwerpunktsetzung vielleicht ablesbar gewesen, ob und inwiefern ein stärker strukturgeschichtliches Paradigma einen rationaleren, gemütloseren Ton in die Geschichtsdarstellung brachte, was auch die Gestalt der Schulbücher und somit ihren Gebrauchswert betreffen würde. Diese Veränderung hätte Doering jedenfalls transparenter machen können.

Insgesamt leistet Doerings Studie auf dem Feld der Schulbuchanalyse mit einem seit langem erfolgreich eingeführten Instrumentarium Beachtliches. Was fehlt, ist eine irgendwie geartete Öffnung der Perspektive auf den Erinnerungs- bzw. Geschichtsdiskurs zu „1848“ und die nähere Bestimmung des Ortes, den Schulbücher darin einnehmen. An dieser Stelle ist auch das Literaturverzeichnis mit dem fast völligen Verzicht auf Schriften, die im Umfeld des Gedenkjahres 1998 entstanden und speziell das Nachleben der Revolution fokussieren, eindeutig zu schmal.3 Hier verspricht der starke Verweis des Titels auf das lebendige „Erbe“ mehr als das Buch halten kann.

Anmerkungen:
1 Thomas Mergel, Sozialmoralische Milieus und Revolutionsgeschichtsschreibung. Zum Bild der Revolution von 1848/49 in den Subgesellschaften des deutschen Kaiserreichs, in: Christian Jansen / Thomas Mergel (Hrsg.), Die Revolutionen von 1848/49. Erfahrung – Verarbeitung – Deutung, Göttingen 1998, S. 247-267, hier S. 247.
2 Hier zitiert Hans Julius Schoeps, Das Schulbuch als Quelle der Geistesgeschichte, in: Ernst Horst Schallenberger (Hrsg.), Das Schulbuch – Aspekte und Verfahren zur Analyse (Zur Sache Schulbuch 2), Ratingen 1973, S. 7-13, hier S. 8f.
3 Wichtige Titel in diesem Zusammenhang: Christof Dipper / Ulrich Speck (Hrsg.), 1848: Revolution in Deutschland, Frankfurt am Main 1998 (darin S. 11-52 über Revolutionsbilder); Wolfram Siemann, 1848/49 in Deutschland und Europa. Ereignis, Bewältigung, Erinnerung, Paderborn 2006.