Titel
Los nazis en Chile.


Autor(en)
Farías, Víctor
Erschienen
Barcelona 2000: Seix Barral
Anzahl Seiten
586 S.
Preis
DM 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr, Frank-Rutger Hausmann, Romanisches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität

Víctor Farías, aus Chile stammender Philosoph, der seit 1974 an der Freien Universität in Berlin lehrt, ist vor einigen Jahren durch sein in über zehn Sprachen übersetztes Heidegger-Buch bekannt geworden 1. Jetzt widmet er sich einem zwar weniger spektakulären, darum aber nicht minder fesselnden Gegenstand von hoher Aktualität, dem Ausmaß der Nazifizierung der deutschen Kolonie in Chile in der Zeit von 1933-1945 sowie dem Grad der Hinwendung der Chilenen zu Nazi-Deutschland.

In einem umfangreichen Kapitel werden die Aktivitäten der Auslandsorganisation (AO) der NSDAP untersucht, die sich vor allem auf Schulvereine, evangelische Kirchengemeinden und Kaufmannsverbände stützen konnte und große Teile der deutschstämmigen Chilenen bzw. der Auslandsdeutschen an sich band. Die Idee der 'Fünften Kolonne' war hier nahezu verwirklicht. Die wissenschaftliche Betreuung Chiles und anderer lateinamerikanischer Länder erfolgte durch die sog. Ibero-amerikanischen Institute in Deutschland, von denen das in Berlin am wichtigsten war. Da große Teile seiner Aktenbestände im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin erhalten sind, konnte das Wirken dieses Instituts plastisch herausgearbeitet werden. Es stand vom 1.4.1934 bis zum 20.11.1936 und dann wieder ab dem 1.3.1938 unter der Präsidentschaft des ehemaligen Generals Wilhelm Faupel, der 1911-1914 und erneut 1926 als Militärberater in Argentinien und von 1936 bis 1930 als Generalinspekteur der peruanischen Armee im Range eines Generalleutnants gedient hatte und Land und Leute weiter Teile Lateinamerikas sehr gut kannte. Seine Tätigkeit als Botschafter bei Franco (20.11.1926-27.8.1937) blieb hingegen nur Episode, da er selbst dem Caudillo zu reaktionär war 2. Daß ihm die Beziehungen zu chilenischen Militärs, den 'Preußen Südamerikas', besonders am Herzen lagen, versteht sich von selber.

Farías zeigt die engen Verflechtungen, die zwischen der chilenischen Armee und der großdeutschen Wehrmacht bestanden. Sie betrafen insbesondere die Entsendung von deutschen Ausbildern und Waffenkäufe. Nicht anders verhielt sich die chilenische Diplomatie, die vom einfachen Konsul bis zum Berliner Botschafter offen mit den Nazis kollaborierte. Botschafter Tobías Barros Ortiz gab sogar regelmäßig die ihm vom chilenischen Außenministerium überlassenen Dienstinformationen an deutsche Amtsstellen weiter und erfüllte damit den Tatbestand des Hochverrats. Auch hier war Faupel eine der treibenden Kräfte. Ob die militärische und die diplomatische Kollaboration aber wirklich Einfluß auf den Gang der politischen Ereignisse nahm, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Eher marginal war auch der kulturelle Austausch, sieht man von den namenlosen chilenischen Stipendiaten ab, für die 1937 in Berlin sogar ein 'Chilenisches Haus' eröffnet werden sollte, das dann mangels finanzieller Mittel bzw. wegen des bald ausbrechenden Weltkriegs nicht mehr realisiert wurde. Immerhin entsandte Chile mit der Sängerin Rosita Serrano, die chilenische "Nachtigal", und dem Pianisten Claudio Arrau zwei populäre Kulturträger nach Deutschland, die das international weitgehend isolierte Land in der NS-Zeit nicht nur aufwerteten, sondern ihm auch einen Hauch von Weltläufigkeit verliehen. Die Serrano, die mit der Schwedin Zarah Leander oder der Ungarin Marika Rökk zu den bekanntesten Vertreterinnen der leichten Muse gehörte, fiel 1943 in Ungnade und kehrte in ihre Heimat zurück. Arrau verließ Deutschland bereits 1941, aber er hatte durch seine Auftritte bewußt viel zur Aufwertung des Nationalsozialismus beigetragen.

Episodenhaft blieb auch die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Rassenhygiene und des Volksgerichtshofs, wo sich die Chilenen als gelehrige Schüler der Deutschen erwiesen. Um das 'bastardisierte' Chile im Sinne deutscher Rassenhygiene 'aufzubessern', führten chilenische Ärzte mehrere Tagungen mit der eigens 1935 gegründeten 'Deutsch-iberoamerikanischen Ärzteakademie' durch und kamen zu Hospitationen nach Deutschland. Da verwundert es nicht, daß der nach dem Krieg nach Chile geflüchtete SS-Standartenführer Walther Rauff, der Erfinder der mobilen Gaskammern, die im Vernichtungslager Chelmno eingesetzt wurden, weder von der christdemokratischen Regierung Frei noch von der linkssozialistischen Regierung Allende ausgeliefert wurde. Die Flucht deutscher Nazis nach Lateinamerika, die nur noch indirekt zum Thema des Buchs gehört, hätte durchaus eine Vertiefung verdient. Rauffs Untaten galten nach chilenischem Recht als verjährt. Die auf Betreiben des Deutschchilenen Max Junge noch kurz vor Kriegsausbruch durchgeführte Expedition nach Patagonien und in die Antarktis, während der 350.000 Quadratkilometer vermessen wurden, sorgte in beiden Ländern für ein gewisses Aufsehen.

Die hier besprochene Untersuchung verdient selbstredend eine deutsche Übersetzung. Allerdings eignet sich der spanische Text in der vorliegenden Fassung nicht für eine solche. Wichtiges wird nicht von Unwichtigem geschieden, manche Informationen mögen für ein hispanophones Publikum nötig sein, sind aber für deutschsprachige Leser entbehrlich, z.B. die gelegentlichen Verweise auf Heidegger (S. 45, 60, 87 u.ö.) oder die breiten Ausführungen zu NS-Eugenik. Andererseits sind einige Kapitel zu episodisch, um generelle Aussagen zu ermöglichen, z.B. Kap. III,2, IV,5, VI,6. Der Verfasser wäre in jedem Falle gut beraten, wenn er sein Manuskript grundlegend überarbeitete und die auffälligsten Mängel beseitigte. Diese betreffen zunächst einmal kleinere sachliche Fehler (z.B. S. 85 die Gleichsetzung von Deutsch-Südwestafrika mit Kamerun, S. 107 die Bezeichnung des REM als 'Kultusministerium', S. 327 Anm. 37 die Gleichsetzung von Polen mit dem Generalgouvernement usw.) und Verschreibungen (durchgehende Falschschreibung von Max Planck als Plank, S. 24 erscheint das Deutsche Auslandsinstitut in Stuttgart als 'Deutsch Auslands Institut', S. 29 wird aus Görlitz 'Götlitz', S. 79 Anm. 135 aus Franz Werfel 'Wertel', S. 107 Anm. 27 aus dem Findbuch ein 'Pfindbuch', S. 227 Anm. 144 aus dem Heiligen ein 'Heitliger' Vater, S. 239 Anm. 8 aus Heinz Höhne 'Höhe' usf.), Dutzende von Trennungsfehlern, Auslassungen und Verdrehungen in den Angaben deutscher Primär- und Sekundärliteratur sowie schlampige Zitierweisen (das immer wieder zitierte Buch von Gaudig/Veit 3 wird nicht mit Tiel nachgewiesen, S. 25 Anm. 10 wird ein Aufsatz von Oliver C. Gliech als nicht bibliographierbare Monographie ausgewiesen usw.).

Das Buch besteht über weite Strecken aus dem Abdruck von Originaldokumenten (z.B. S. 242-274, ein einziges Memorandum, und zwar 'Informe confidencial sobre el problema nazi en Chile. Elaborado por don Marcial Martínez Prieto') bzw. Namenslisten (S. 455-586), die meist die Mitgliedschaft von Deutschchilenen in NS-Organisationen betreffen. Soweit der Leser sie nicht überschlägt, muß er sich durch diese sperrigen Seiten hindurchquälen. Sicherlich, der Originalwortlaut von Dokumenten hat etwas Beschwörendes und erleichtert gelegentlich das Verständnis der angesprochenen Sachverhalte, aber hier wird eindeutig zu viel des Guten getan. Die Aushebung der Materialien ist zweifellos das größte Verdienst des Verfassers, insbesondere solcher aus chilenischen Archiven. Was die deutschen Archive angeht, so ist durch die Neuordnung der einzelnen Teile des Bundesarchivs eine große Veränderung eingetreten, der der Verfasser nur selten Rechnung trägt. Die den Untersuchungszeitraum betreffenden Stücke aus den auf S. 16f. angegebenen Archiven Document Center Berlin-Dahlem, Bundesarchiv Berlin, Bundesarchiv Koblenz sowie das nicht vermerkte, aber häufig zitierte Bundesarchiv Potsdam dürften jetzt alle im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde konzentriert sein. Das Bundesarchiv Aachen ist wohl das Bundesarchiv Aachen-Kornelimünster; das Geheime Staatsarchiv Berlin müßte den Zusatz 'Preußischer Kulturbesitz' erhalten.

Doch die Zusammenstellung von Archivmaterialien ergibt noch kein kohärentes Buch. So fehlen selbst Ansätze einer Ursachenforschung, um zu erklären, warum die Auslandsdeutschen in Chile, wie übrigens die Auslandsdeutschen in den meisten anderen Ländern auch, so schnell und vorbehaltlos den Verlockungen des Nationalsozialismus anheimfielen. Hier wäre an das Trauma von Versailles und den Verlust der Weltmachtstellung Deutschlands zu erinnern, aber auch daran, daß die meisten Auslandsdeutschen noch durch die Staatsvorstellungen des Kaiserreichs geprägt waren und Demokratie nie wirklich kennengelernt hatten. Pangermanismus 4 und Kolonialismus 5 lauten die Schlagwörter. Da die USA aufgrund der Monroe-Doktrin Lateinamerika als ihren Vorhof betrachteten, neigten viele Staaten des Subkontinents einer Annäherung an Deutschland zu, und sei es nur, um ihre Unabhängigkeit zu dokumentieren. Dies erklärt ihre lange Neutralität und ihren späten, eher formellen Kriegseintritt auf Druck der Vereinigten Staaten.

Die chilenisch-deutschen Beziehungen im 'Dritten Reich' können nur schwerlich isoliert betrachtet werden. Spätestens am 'Día de la Raza' (12. Oktober) 1937 hatte Bernhard Rust, Reichsminister für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung, in einem Festvortrag im Ibero-Amerikanischen Institut Berlin eine verstärkte Beschäftigung der deutschen Universitäten, Schulen und sonstigen Bildungs- und Forschungseinrichtungen mit Lateinamerika gefordert. Diese Bestrebungen sind im Rahmen einer von mehreren Ministerien (Auswärtiges Amt, Propaganda-, Erziehungs-, Wirtschaftsministerium u.a.) getragenen auswärtigen Kulturpolitik zu betrachten, die selbst in den Kriegsjahren, als der Verkehr mit Übersee außerordentlich schwierig war, nicht ganz zum Erliegen kam 6. Hinzu kommt, daß spätestens seit der Gründung der 'Überseedeutschen Forschungsgemeinschaft' im Jahr 1934, einer von fünf Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften, die Betreuung des Überseedeutschtums eine hohe Priorität besaß 7. Während Deutschland in ökonomischer, technischer und militärischer Hinsicht in Lateinamerika schon immer anerkannt war, während seine Musik und seine Philosophie hohes Prestige genossen, waren die kulturellen Beziehungen ansonsten eher flüchtig, da sich die lateinamerikanischen Eliten nach Frankreich und England ausgerichtet hatten. In dieser Hinsicht bestand demzufolge Nachholbedarf, und dies wollte Rust mit seiner Rede 1937 zum Ausdruck bringen. Diesbezüglich hätte man sich von Farías noch mehr Aufschlüsse gewünscht, zumal es ja in Santiago ein Deutsch-chilenisches Kulturinstitut gab 8.

Doch das Bild, das Farías zeichnet, ist sicherlich zu 'braun'. Nicht alle Deutschen in Chile waren Nazis. Irmtrud Wojak hat gezeigt, daß immerhin 13000 deutsch-jüdische Flüchtlinge und 300 politische Emigranten ihr Fluchtziel Chile zwischen 1937 und 1939 erreichten. Im Nationalarchiv in Santiago befinden sich Visaanträge von etwa 10000 Flüchtlingen, die durchaus auf Sympathien linker Kreise im Lande zählen konnten 9.

Das Fehlen einer Bibliographie wie auch eines Namensregisters erschwert den Überblick ungemein. Dennoch gewinnt man den Eindruck, daß dem Verfasser, der ohne Zweifel eine wichtige Pionierarbeit vorgelegt hat, der Stand der Forschung, wie ihn z.B. das voluminöse Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde dokumentiert 10, eher gleichgültig war. Darin kann man genau erkennen, daß es in fast allen Bereichen der Kultur seit Beginn des 19. Jahrhunderts einen lateinamerikanisch-deutschen Austausch gab, der sozusagen die Pré-histoire der von Víctor Farías nachgezeichneten Beziehungen im 'Dritten Reich' darstellt, die zu kennen für deren Verständnis unabdingbar scheint.

Anmerkungen:
1 Víctor Farías, Heidegger und der Nationalsozialismus. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 1989.
2 Vgl. jetzt: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945. Band 1: A-F. Bearbeiter: Johannes Hürter u.a., Herausgeber: Auswärtiges Amt - Historischer Dienst -, Maria Keipert u. Peter Grupp, Paderborn usw. 2000, S. 544-545.
3 Olaf Gaudig / Peter Veit, Der Widerschein des Nazismus: das Bild des Nationalsozialismus in der deutschsprachigen Presse Argentiniens, Brasiliens und Chiles 1932 - 1945, Berlin-Mannheim 1997.
4 Michel Korinman, "Deutschland über alles". Le pangermanisme 1890-1945, Paris: Fayard, 1999.
5 Vgl. z.B. den Beitrag von Oskar Schmieder / Herbert Wilhelmy, Das deutsche Landvolk in Südamerika. Begleitworte zu zwei Karten, in: Lebensraumfragen europäischer Völker. Bd. II: Europas koloniale Ergänzungsräume, hrsg. von K.H. Dietzel / O. Schmieder / H. Schmitthenner, S. 354-373. Es handelt sich bei diesem Aufsatz zu einem Beitrag im sog. Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften (Aktion Ritterbusch) vom Jahr 1941, der alle außereuropäischen Gebiete unter dem Titel 'koloniale Ergänzungsräume' abhandelt!
6 Einzelheiten bei Frank-Rutger Hausmann, "Vom Strudel der Ereignisse verschlungen". Deutsche Romanistik im "Dritten Reich", Frankfurt a.M. 2000 (Analecta Romanica, 61), S. 468-515.
7 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die 'Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften' von 1931-1945, Baden-Baden 1999, S. 440-468 u.ö.
8 Thomas Bräutigam, Hispanistik im Dritten Reich. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie, Frankfurt a.M. 1997 (Editionen Iberoamericana A, 13), S. 229-250.
9 Irmtrud Wojak, Chile, in: Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945. Hrsg. von Claus-Dieter Krohn, Patrik von zur Mühlen, Gerhard Paul und Lutz Winckler, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1998, S. 193-203 (vgl. dort auch die Einträge zu Argentinien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, übriges Lateinamerika, Uruguay). Die Ausführungen über die deutsch-jüdische Einwanderung, zu der Farías (S. 181-190) einige Aussagen macht, wären in dieser Hinsicht noch zu differenzieren.
10 Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde. Hg. von Nikolaus Werz, Freiburg i.Br.: Arnold-Bergstraesser-Institut 1992 (Freiburger Beiträge zur Entwicklung und Politik, 11), passim.

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