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Titel
Riten, Gesten, Zeremonien. Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit


Herausgeber
Bierende, Edgar; Bretfeld, Sven; Oschema, Klaus
Reihe
Trends in Medieval Philology 14
Erschienen
Berlin 2008: de Gruyter
Anzahl Seiten
XXXVIII, 409 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Brauner, Sonderforschungsbereich 496, Universität Münster

Interdisziplinäre Forschungen zum Thema „Riten, Gesten, Zeremonien“ zusammenzuführen, ist das Ziel des Sammelbandes, der einer Ringvorlesung am Berner Mittelalter-Zentrum entspringt. Diese angestrebte Interdisziplinarität spiegelt sich zugleich auch in dem Herausgebergremium, in dem sich ein Mediävist, ein Kunsthistoriker sowie ein Religionswissenschaftler zusammengefunden haben, ebenso wie in vielen Einzelbeiträgen, die angestammte Fach- und Quellengrenzen deutlich überschreiten. Besonders sind hier etwa die Beiträge von André Holenstein und Barbara Schellewald hervorzuheben, die ihre historischen Analysen fruchtbar durch ikonographische Untersuchungen erweitern (Holenstein) bzw. kunsthistorische und theologische Aspekte gekonnt verweben (Schellewald). Im Hinblick auf die jeweilige Theoriebildung finden ebenfalls, wie es der Komplexität und dem Facettenreichtum des Gegenstandes angemessen ist, Ansätze aus Ethnologie, Theater- und Religionswissenschaft, Semiotik usw. Verwendung.

Dieser Vielfalt an Ansätzen entspricht das Anliegen der Herausgeber, lediglich eine pragmatische Arbeitsdefinition zu formulieren und damit auch eine gewisse Offenheit zu garantieren. Allerdings lässt bereits ihre gemeinsam verfasste Einleitung auch die Grenzen interdisziplinärer Zusammenarbeit aufscheinen. Hier bleibt aufgrund der Vielfalt der Ansätze, Definitionen und Konzepte eine kohärente Begriffsbildung zu den titelgebenden Begriffen auf der Strecke. So wird der Leser, nachdem ihm eine Fülle von Begriffen, Vorschlägen und Gegenvorschlägen – angefangen vom Lexikon des Mittelalters bis hin zu Victor Turner – präsentiert wurde, mit einer recht spärlichen Arbeitsdefinition Peter Burkes allein gelassen. Burke versteht „Rituale als ‚Handlungen oder Handlungsfolgen, die zugleich kollektiven, repetitiven und symbolischen‘ Charakter besitzen“ (S. XVIII). Wiewohl die grundsätzliche Zielsetzung einer möglichst offenen Konzeption sehr nachzuvollziehen ist, macht sich das Fehlen einer trennscharfen Begrifflichkeit, die insbesondere die Abgrenzung der drei Titelbegriffe voneinander betrifft, doch schmerzlich in der Kohärenz der Beiträge bemerkbar.

Die Einleitung breitet die Forschungslage zum Thema nicht nur ausführlich aus, sondern ordnet die Ritualforschung zudem geschichtlich ein. Als Erklärung für ihre zunehmende Attraktivität verweisen die Herausgeber auf die „Ablösung der 68er-Perspektive“. Dazu wird ein Modernisierungstableau entworfen, demzufolge seit dem 18. Jahrhundert im Namen der bürgerlichen „Egalität“ zunehmend das ständische „System von Riten, Gesten und Zeremonien“ bekämpft wird. Dies münde gleichsam in einen ‚Ritualverfall‘, gar in die „sukzessive Aushöhlung und Auflösung von gesellschaftlichen Systemen und Strukturen […], deren Folgen wir heute immer stärker spüren, wie etwa die Häufung von Singlehaushalten, Kirchen- und Parteienaustritten usw. deutlich machen“ (S. X). Verantwortlich hierfür zeichne – unter anderem, darf man wohl ergänzen – der Verlust der „positive[n] Sozialeigenschaften“ der Riten und Zeremonien, sprich: deren sozialer Kohäsionskraft. Das wachsende Interesse an Ritualen nun entstamme dem Wunsch nach einer konfliktfreie(re)n Gesellschaft und harmonischerem Zusammenleben. Stellt die Ritualforschung nun also ein Produkt eines konservativen Wiederaufblühens harmonistischer Gesellschaftskonzeptionen dar? Dagegen spricht bereits auf den ersten Blick, dass sich gerade Ritualforscher häufig mit Konflikten beschäftigen – Rangstreitigkeiten, Legitimitätskonflikten, Schandritualen usw., wie dies im Weiteren unter anderem Werner Senn am Beispiel der Herrschaftsrituale bei Shakespeare vorführt. Hinzu kommt, und das scheint mir der gewichtigere Grund, dass dem hier entworfenen Tableau ein verkürzter Ritualbegriff zugrundeliegt. Sicherlich haben die Herausgeber in ihrer Aussage recht, dass viele der Rituale der ständischen Gesellschaft heute nicht mehr existieren. Dies sollte aber nicht dazu führen, jene Rituale mit Ritualen überhaupt zu identifizieren – vielmehr sollte das Augenmerk gerade auch den Ritualen in der modernen Gesellschaft gelten, den Zeremonien der Demokratie und Gesten der ‚bürgerlichen Egalität’ und somit dem Fortwirken wie auch der Veränderung der vermeintlich vormodernen Phänomene.

Der erste Teil des Sammelbandes soll anhand von konkreten Fallbeispielen in die „methodische Spannbreite der Thematik“ (S. XXXI) einführen. So stellt Axel Gampp die Transformationen der (rhetorischen) Gesten im Übergang von der Antike zum Frühmittelalter vor, indem er untersucht, wie sich die entsprechende Ikonographie bei der Bebilderung von Terenz-Handschriften veränderte. An der Verwandlung von „ideographischen“ in hinweisende Gesten stellt Gampp eine Verschiebung fest, die zum Verlust des Wissens um ideographische Gesten überhaupt geführt habe, so dass schließlich nur noch zwei einfache Klassen von Gesten zur Verfügung gestanden hätten. Auf die Suche nach möglichen eigenständigen Gesten im Frühmittelalter begibt er sich indes nicht. Daher muss die Frage offen bleiben, inwieweit sich umfassende Schlüsse über frühmittelalterliche Gestenkultur aus dem begrenzten Quellenfundus ziehen lassen. Mit seinem Aufsatz über Blutsbrüderschaft scheint Klaus Oschema auf den ersten Blick genau jene Faszination des Fremden einzulösen, die die Ritualforschung – ganz im Gefolge des ‚ethnographischen Blicks’ – gemeinhin umgibt. Sein Aufsatz entpuppt sich jedoch als scharfsinnige Analyse eines Motivs, das schon im Mittelalter, ja in der Antike, der Fremdheitskonstruktion diente. Durch seine Verknüpfung mit Freundschaft aber weist es zugleich eine Ambivalenz auf – so charakterisiert seine Zuschreibung die Skythen zum einen als fremd-barbarisch, zum anderen als zu aufopferungsvoller Freundschaft fähig. Die Schwierigkeit, Rituale in Bildquellen zu identifizieren, zeigt anschaulich der Beitrag von Marie Aschehoug-Clauteaux. Anhand einer Miniatur aus einem frühmittelalterlichen Manuskript der Pariser Bibliothèque Nationale diskutiert sie verschiedene Interpretationen und damit zugleich das Problem der Kontextabhängigkeit von Deutungen, die hier von einem Treueeid über ein Versöhnungsritual bis hin zu einem Doppelbild von Kampf und Versöhnung reichen.

Den Beginn des zweiten Teils, der mit „Liturgie“ überschrieben ist, bildet der Aufsatz von Urs von Arx über die Liturgie der Osternacht. Dabei setzt er deren Erscheinungsbild in der Spätantike, nach der die Feier fast vollständig verschwand, mit ‚Wiederbelebungsversuchen’ in Beziehung. Thomas Richter wendet sich mit den instrumenta pacis der materiellen Dimension von Ritualen zu. Richter vergleicht verschiedene Typen, Formen und Bildprogramme und kann so unterschiedliche theologische Ausdeutungen des Friedenskusses erhellen, betont aber auch die Repräsentationsfunktion irdischer Dinge, die den teils kostbar ausgestalteten instrumenta zukommen konnte. Die Veränderungen theologischer Positionen, hier der byzantinischen Kirche, sind auch Gegenstand von Barbara Schellewalds Essay. Sie geht dem Verhältnis von Bildlichkeit und Ritual anhand von Liturgieformularen und Bildprogrammen verschiedener Kirchen nach und belegt, dass die Bilder als Beitrag zu theologischen Debatten gelesen werden können. Zugleich vermitteln sie zwischen dem einzelnen Ritus und seinem ‚Urbild‘, spiegeln also die irdische Liturgie gleichsam als Abbild der himmlischen.

In dem dritten Teil, „Recht“, beschäftigen sich Ulrich Rehm und André Holenstein mit vergleichsweise weniger prunkvollen Ritualen: Rehm untersucht, wie Strafrituale in Bildern inszeniert werden, und zwar zunächst anhand spätmittelalterlicher Beispiele aus Italien, sodann in einem Parforceritt durch verschiedene Jahrhunderte und Quellengattungen. Dabei gelingt es ihm eindrucksvoll, die Ambivalenz jener Darstellungen zwischen gerechter Strafe und Martyrium für die Gerechtigkeit herauszuarbeiten. Auch Holenstein bezieht in seinen gelungenen Essay über den Eid vor Gericht als ‚Wahrheitsritual‘, der einen souveränen Überblick über dessen Entwicklung vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert liefert, ikonographische Quellen ein und betont insbesondere deren didaktische Funktion.

Dem Teil „Politik“ (welche Definition hier zugrundeliegt, sei dahingestellt) sind drei Aufsätze zugeordnet: Während Lucas Burkart sich den Zusammenhängen zwischen Reichsschatz und Herrschaftsverständnis widmet, gilt das Interesse Therese Brugisser-Lankers dem Krönungsritus der Ottonen- und Salierzeit, den sie exemplarisch anhand einer Rekonstruktion der Krönung Heinrichs II. darstellt. Werner Senn erörtert anschaulich, welche Rolle Macht- und Herrschaftsrituale in den Dramen Shakespeares spielen. Dabei wird deutlich, dass gerade den fehlenden und gestörten Ritualen eine große Aussagekraft zukommt, sind sie doch geradezu ein Spiegel der Legitimität und Illegitimität von Herrschaft.

Die Abschiedsvorlesung des Berner Germanisten Hubert Herkommer, die den Band abschließt, thematisiert passenderweise das urloup nehmen in der mittelalterlichen Literatur. Anhand eines weiten Quellenspektrums, vom Tristan über die Elisabeth-Legende bis zum Tagelied, eröffnet er ein Panorama der Abschiedsgesten und -riten, das in einer kurzen Typologie resümiert wird.

Dem Sammelband gelingt es, eine Vielfalt unterschiedlicher Disziplinen, Methoden und Gegenstände zusammenzubringen und somit erneut die fachübergreifende Fruchtbarkeit von Ritualforschung im kulturwissenschaftlichen Sinne zu demonstrieren. Dabei geht allerdings in mancherlei Hinsicht die Vielfalt auf Kosten der Kohärenz, da eine trennscharfe Begriffsbildung und Gesamtkonzeption in den Hintergrund treten.

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