N. Bulst u.a. (Hrsg.): Gewalt im politischen Raum

Cover
Titel
Gewalt im politischen Raum. Fallanalysen vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert


Herausgeber
Bulst, Neithard; Gilcher-Holtey, Ingrid; Haupt, Heinz-Gerhard
Reihe
Historische Politikforschung 15
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Häberlen, Department of History, University of Chicago

Politische Gewalt ist schon lange ein Thema der Geschichtswissenschaften. Dies bezieht sich nicht nur, wie in der Einleitung des hier zu besprechenden Bandes angedeutet, auf militärische Gewalt und ihre Organisation, sondern vor allem auf gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten politischen Gruppierungen, etwa in der Weimarer Republik.1 Die Beiträge im vorliegenden Band konzentrieren sich hingegen auf gewaltsame politische Auseinandersetzungen zwischen der Obrigkeit und sozialen oder politischen Akteuren. Ganz im Sinne des Sonderforschungsbereichs 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ an der Universität Bielefeld, in dessen Rahmen der Band entstand, wird dabei „Gewalt als Form der kommunikativen Auseinandersetzung über gesellschaftliche Probleme“ (S. 8) verstanden. Gewaltakte werden in diesem Sinne selbst als Akte der Kommunikation begriffen, deren kommunikativer Gehalt zu entschlüsseln ist. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die „Diskussionen um Gewalt und Gewalteinsatz“ (S. 8), sowohl von Seiten des Staates wie auch von politischen Akteuren, in den Blick rücken, und gefragt wird, welche Folgen diese Diskussionen für die „Konstruktion des politischen Raumes“ (S. 8) hatten. Damit werden, wie die Herausgeber des Bandes Neithard Bulst, Ingrid Gilcher-Holtey und Heinz-Gerhard Haupt (alle Professoren an der Universität Bielefeld) in der äußerst informativen Einleitung deutlich machen, „Ansätze der Kommunikations- und Mediengeschichte für die Gewaltforschung nutzbar gemacht“ (S. 9).2

Wie funktionieren diese theoretisch informierten Ansätze in der Praxis der Beiträge des Bandes? Unterschiedlich gut; und, dies sei vorweg betont, viele der Beiträge gehen in diesen Ansätzen nicht auf und liefern wertvolle Einsichten darüber hinaus, so etwa Rüdiger Hachtmanns Beitrag „Hinabgestiegen von den Barrikaden? Revolutionäre und gegenrevolutionäre Gewalt 1848/49“. Daher soll im Folgenden an drei Beträgen herausgearbeitet werden, wie diese methodischen Ansätze in der Praxis funktionieren.

Vor allem Bettina Bommersbachs Beitrag „Gewalt in der Jacquerie von 1358“ sticht in dieser Hinsicht hervor. Entgegen der Auffassung, dass die Gewalt der Jacquerie, ein französischer Bauernaufstand im Jahre 1358, eine Gewaltorgie war, begangen von „wein- und bluttrunkenen Rohlingen“ (S. 47; Bommersbach zitiert hier Jules Flammerot, La Jacquerie en Beauvais), argumentiert Bommersbach, dass sowohl die Gewalt der Aufständischen als auch die Gewalt der Obrigkeit einen kommunikativen Gehalt hatte. Schriftlich formulierte Forderungen der Jacques sind nicht erhalten, was einige Historiker dazu veranlasste zu meinen, die Jacques hätten nicht gewusst, was sie wollten. Dem hält Bommersbach eine sehr gekonnte Analyse der Gewalttaten entgegen. Keineswegs nämlich handelte es sich um blinde Gewalt; vielmehr wurden nur Adelige und ihre vermuteten Verbündeten Opfer der Gewalt. Gerade das Niederbrennen von Schlössern und Burgen der Adligen, Symbole ihrer gesellschaftlichen Funktion, kann als eine Kritik am Versagen des Adels gelesen werden, so Bommersbach, da dieser nicht mehr in der Lage war, inneren wie äußeren Frieden zu gewähren.

War die Gewalt der Aufständischen noch zielgerichtet und damit beschränkt, so schlug der Adel mit großer Härte und Willkür zurück. Auch hierin kann mit Bommersbach ein kommunikatives Element gesehen werden: Die Brutalität sollte gewährleisten, dass der Aufstand vergessen wurde und es zu keiner Wiederholung kam, die die Autorität des Adels in Frage stelle würde. Schließlich analysiert Bommersbach die Darstellung der Gewalt in den Chroniken, in denen die Gewalt der Bauern auf ein rein kriminelles und blutrünstiges Verhalten reduziert wurde, und ihr somit ihr politischer Charakter genommen wurde. Diese Kommunikation über Gewalt ist insofern bedeutend, als dass damit die gesellschaftliche und politische Stellung des Adels, die in den Aufständen herausgefordert wurde, legitimiert und bekräftigt wurde.

Mit dieser Analyse wird einerseits deutlich, welchen kommunikativen Gehalt Gewalt haben kann, andererseits aber auch die Schwierigkeit, diesen zu bestimmen. In Anbetracht des Fehlens schriftlicher Quellen bleibt eine solche Lesart der Gewalt immer spekulativ, wie es auch Formulierungen wie es sei „nicht unwahrscheinlich“ (S. 61), dass die Landbevölkerung die Adligen für ihre Situation verantwortlich machte, ausdrücken. Auch wenn aus Sicht des Rezensenten hier den Bauern teils ein recht hohes Maß an politischer Rationalität unterstellt wurde, so offenbart insbesondere dieser Beitrag die Chancen, die sich beim Lesen von Gewalt als Kommunikationsmittel ergeben.

Ähnlich fruchtbar ist der methodische Ansatz des Bandes bei Marcel Streng, der „’Gewalt’ als Argument in der Marktkommunikation“ im französischen Departement Finistère zwischen 1846 und 1867 untersucht. Dabei stellt er nicht die Gewalt selbst in den Mittelpunkt der Analyse, sondern die Warnungen vor gewaltsamen food riots, deren Abnahme es zu erklären gilt. Streng argumentiert dabei in einem äußerst fundierten Aufsatz, dass die Verwaltungsbeamten Druck auf Marktteilnehmer ausüben konnten, indem sie Bedrohungsszenarien schufen.

David E. Apter schließlich analysiert sehr feinfühlig gewaltsame Proteste gegen die Erweiterung des Tokio International Airports. Die Hantei Domei, so der japanische Name der Protestbewegung, inszenierte dabei gewaltsame Aktionen, wobei sie auch die staatliche Seite in die Inszenierung einbezog, wenn sich etwa Frauen an Bäume ketteten, die gefällt werden sollten, und das Einschreiten der Polizei hernach als Vergewaltigung dargestellt wurde. Apter macht dabei insbesondere klar, dass die Aufbereitung der Gewalt zu einer solchen Narration nicht automatisch geschieht, sondern Akteure benötigt, die sie gleichsam erzählen und interpretieren. Insofern wird auch in diesem Beitrag deutlich, wie sehr Gewalt und die Diskussion um Gewalt miteinander verbunden sind.

Auch wenn der Rezensent bei manchen Lesarten der Gewalt skeptisch blieb, so zeigen die Beiträge doch, wie fruchtbar die vorgestellten methodischen Ansätze sein können. Ein Problem sieht der Rezensent, der hauptsächlich in der neueren Geschichte zu Hause ist, in dem, was gleichzeitig eine Stärke des Bandes ausmacht, nämlich dem Versuch, übliche Epochengrenzen zu überschreiten und Beiträge zum Mittelalter gemeinsam mit solchen zur Neuzeit zu veröffentlichen. (In Klammern sei gesagt, dass der Untertitel des Bandes, „Fallanalysen vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert“ leicht irreführend ist, da die Fallbeispiele sich drei Zeiträumen zuordnen lassen: dem Spätmittelalter, den Jahren 1848-1867, sowie der Nachkriegszeit. Beiträge etwa zur Frühen Neuzeit oder zur Zwischenkriegszeit finden sich in dem Band leider nicht.) Dies mag riskant erscheinen. Sind Konzepte wie „Gewalt“ oder „politischer Raum“ in gleichem Maße auf das Mittelalter wie auf die Neuzeit anzuwenden? Die Herausgeber legen in der Einleitung großen Wert darauf, strukturelle Ähnlichkeiten zu betonen. Welche fundamentale Wandlungen zwischen dem Mittelalter und dem 20. Jahrhundert stattfanden, wie sich sowohl das Verständnis von Gewalt als auch vom Politischen wandelte, wird nicht systematisch ausgeleuchtet. Insbesondere die Terminologie der Beiträge zum Mittelalter erschien dem Rezensenten teils erstaunlich modern. Eine Untersuchung, die längerfristige Wandlungen der Rolle der Gewalt im Politischen Raum unter den ausgeführten methodischen Ansätzen in den Blick nähme, verspräche, so der Eindruck des Rezensenten am Ende des Bandes, äußerst interessante Ergebnisse, die über die Schlaglichter, die der Band bietet, hinausgehen würden.

Anmerkungen:
1 Verwiesen sei nur auf Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918-1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; sowie Eve Rosenhaft, Beating the Fascists? The German Communists and Political Violence, 1929-1933, Cambridge 1983.
2 Dabei fällt allerdings, dies sei kritisch angemerkt, der physische Aspekt der Gewalt ein wenig unter den Tisch. Es verwundert, dass der von Thomas Lindenberger und Alf Lüdtke herausgegebene Band Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt am Main 1995, nicht in der Einleitung erwähnt wird.