M. Sikora: Der Adel in der Frühen Neuzeit

Cover
Titel
Der Adel in der Frühen Neuzeit.


Autor(en)
Sikora, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
VII, 148 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Wunder, Bad Nauheim

Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ sind als „erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte“ (S. VII). Diesem Ziel wird Michael Sikora mit „Der Adel in der Frühen Neuzeit“ in beachtlicher Weise gerecht.

Er gliedert das Buch in vier Teile. Im ersten Kapitel steckt er die „Rahmenbedingungen“ für das Thema ab. Im Abschnitt „Unterscheidungen“ geht es um Merkmale des Adels – „ein Stand der Extreme“, gemeint sind seine überragende Bedeutung trotz geringer Zahl, seine Vielfalt und seine Gemeinsamkeiten im Vergleich zu anderen Ständen –, „Herrschaft“ und „Herkunft und Ehre“. Der Abschnitt „Entscheidungen“ soll „die Dynamik der Adelsgeschichte in der Frühen Neuzeit akzentuieren“ (S. 17), also die Ausbildung der Landesherrschaft, die Entwicklung der Landsässigkeit, die Wandlungen nach dem Dreißigjährigen Krieg. Dabei bezieht Sikora die Absolutismusdebatte und die Diskussion um „Krise des Adels?“ problematisierend mit ein. Das zweite Kapitel ist den „Macht- und Erwerbschancen“ gewidmet, unterteilt in „Die Grundherrschaft“, „Politische Partizipation“ – hier erfährt die Reichsritterschaft eine angemessene Würdigung –, „Der Adel im Fürstendienst“ sowie „Adel und Kirche“. Im dritten Kapitel stellt Sikora „Lebensräume – Lebensweisen“ dar, gegliedert in „Die Häuser des Adels“, „Adliges Landleben“ und „Hofleben“. Das vierte Kapitel fasst unter „Statuswahrung und -gefährdung“ drei sehr unterschiedliche Aspekte zusammen: „Erziehung und Bildung“, „Die Güterordnung“ – gemeint sind „Schuldenwirtschaft“, „Die Ehen des Adels“ und „Erbschaften“ – und „Positionsbestimmungen“; unter diesen versteht er „Adelsdebatten“, „Erinnerungskultur“, „Standeserhöhungen“, „Abgrenzungen“ und „Streitbarkeit“.

Sikoras Ansatz ist sozialgeschichtlich-systematisch, er abstrahiert weitgehend von konkreten Beispielen; dieser Zugang erweist sich zur Einführung in eine den meisten Lesern fremde Welt als hilfreich. Er unterscheidet sich derart mit seiner im wesentlichen auf das Heilige Römische Reich konzentrierten Darstellung von Ronald G. Aschs „Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit“ (2008), der eine sehr politische, zudem europäische Geschichte schreibt, anhand vieler Territorien und Regionen mit entsprechenden Nachweisen. Sikoras Stärke liegt in der sehr plastischen Beschreibung der Lebenswirklichkeit Adliger, von der er ein realistisches Bild entwirft.

Wie vielfach üblich, macht Sikora den gesamten Adel – den Niederadel sowie den Hohen Adel unterschiedlicher Spielarten – zum Gegenstand seiner Darstellung. Tatsächlich treffen nur wenige seiner Ausführungen wirklich auf beide Adelsformationen zu, auf weite Strecken wird nur der niedere Adel dargestellt, nicht aber die „Ausdrucksform ‚fürstliche Herrschaft’“, weil sie „über den Horizont der Adelsgeschichte hinausweist“ (S. 32). Der Vorteil seiner Darstellung, die er nicht problematisiert, liegt zweifellos darin, dass die Gemeinsamkeiten beider Formationen deutlich werden; die Unterscheidungen und Überlappungen hätten allerdings präziser dargestellt werden können. Die Zusammensicht führt leicht zu Missverständnissen, etwa bei der Primogenitur (S. 120-123); Sikora diskutiert sie für den Hohen Adel, macht aber nicht hinreichend deutlich, dass sie im Heiligen Römischen Reich für den niederen Adel nicht galt.1 Zu bedenken ist auch, ob die Distanz zwischen Fürst und Niederadel nicht so groß war, dass in der politischen und sozialen Wirklichkeit die Gemeinsamkeiten von geringer Bedeutung waren.

Jeder Autor eines umfassenden Themas muss Einwände gewärtigen. Zum einen fällt auf, dass Sikoras Vorstellung vom Arbeiten Adliger fast einer populären Adelskritik entstammen könnte, die natürlich auch ein Körnchen Wahrheit enthält. Arbeit wird mit körperlicher Arbeit gleichgesetzt (S. 81); Professoren arbeiten also nicht? Der müßiggehende Adlige musste sich „an sich nicht um die Daseinsvorsorge kümmern“ (S. 39, vergleiche auch S. 113), hatte „für seinen Lebensunterhalt keiner Arbeit nachzugehen“, sondern „die Dinge eigentlich nur anzuordnen“ (S. 88). Tatsächlich ist ein Niederadliger als Guts- und Grundherr im Normalfall eher ein mittelständischer Unternehmer, wie Sikora es auch für einige Regionen vor dem Dreißigjährigen Krieg beschreibt (S. 41). Seine Sicht von Arbeit mag einen Satz erklären wie „Schulden mögen aber auch mit der Mentalität eines Standes zusammengehangen haben, dem durch Herrschaft und Rang wie von selbst Einnahmen zuzustehen schienen“ (S. 114) – als wenn ein Adliger nicht hätte rechnen müssen. Organisierend und leitend hatte er alle Hände voll zu tun, um mit seiner Familie zu überleben, den Nachkommen eine sichere Lebensgrundlage zu geben und der Vielfalt der an ihn gestellten Forderungen – von Gläubigern oder Schuldnern, Verwandten, Prozessgegnern, Gutspersonal, Untertanen, von Fürsten oder Kanton etc. – nachzukommen. Das Leben adliger Söldner, Offiziere, Beamten und vielleicht sogar vieler „Höflinge“ war gleichfalls von Leitungs- und Organisationsaufgaben geprägt.

Des Weiteren überrascht es, wenn trotz aller Differenzierung die überholte Gegenüberstellung von Guts- und Grundherrschaft die Darstellung dominiert. Lieselott Enders hat in ihrem eindrucksvollen Werk über „Die Altmark“ überzeugend dargelegt, dass es sinnvoll ist, generell nur von verschiedenen Ausprägungen der Grundherrschaft auszugehen, die sich primär nach der Art und Weise der Realisierung des Grundeigentums – der Rentengrundherrschaft und der eigenwirtschaftlich fundierten Grundherrschaft – definierten.2

Auch Sikoras Sicht von Anfang und Ende dieses Niederadels überzeugt nicht. Er sieht seine Entstehung im Spätmittelalter fast ausschließlich vom Lehnswesen bestimmt (z.B. S. 6, S. 22, S. 52); dieses war aber nur einer von mehreren Faktoren, der die Landsässigkeit des Adels herbeiführte3, der zudem die reichsunmittelbare Reichsritterschaft, die in engen Lehnsbindungen zu den Fürsten stand, unerklärt lässt. Die spätmittelalterliche Fehde, auch noch im 16. Jahrhundert möglich, nur im Zusammenhang des Niederadels zu sehen, ist bürgerliche Romantik des 19. Jahrhunderts.4 Das Ende des Niederadels als Herrschaftsstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu verorten, übersieht die lokalen, auch rechtlich abgesicherten Herrenpositionen, die beim Landadel manchmal bis in die Weimarer Republik reichten.
Hilfreich wäre es gewesen, wenn bei der Definition des Adels die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den anderen Standespersonen – den verschiedenen Beamtengruppen – beleuchtet worden wären, haben sie doch Gerichtsstand, Steuerprivilegien, jeweiliges Connubium und anderes gemeinsam und gehören beide nicht zum städtischen Bürgertum, auch wenn sie in der Stadt wohnten. Die traditionelle, dem 19. Jahrhundert zugehörige Gegenüberstellung von Adel und Bürgertum führt für die Frühe Neuzeit in die Irre.

Und schließlich melde ich Zweifel an beliebten Idealisierungen an. Wenn Erinnerung – „Pflege und Zurschaustellung [der] Familientradition“ – für manche Adlige zur öffentlichen Vergewisserung ihrer Rolle bedeutsam war (S. 128), so traf dies nicht allgemein zu; viele Familiengeschichten galten bis ins 18. Jahrhundert hinein sehr handfest dem Nachweis des rechtmäßigen Güterbesitzes oder Güteranspruches und den „richtigen“ Erbfolgeregelungen.

Ungeachtet der kritischen Bemerkungen gilt: Sikora ist es mit einer sehr kenntnisreichen und ausgewogenen Darstellung gelungen, ein gut lesbares, teilweise spannend zu lesendes Buch zu schreiben, das anregt und interessante Schwerpunkte setzt. So ist es mehr als eine Einführung geworden. Es wäre zu wünschen gewesen, dass der Verlag die beigegebenen 26 Quellenauszüge von Sikora hätte textkritisch kommentieren lassen. Leider fehlen Bildzeugnisse.

Anmerkungen:
1 Vgl. Art. Recht der Erstgeburt, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste Bd. 30, Leipzig 1741, Sp.1381.
2 Lieselott Enders, Die Altmark, Berlin 2008, insbesondere S. 795f.
3 Joseph Morsel, L’aristocratie médiévale, Paris 2004, gibt interessante Anregungen für den Adel im späten Mittelalter.
4 Tagungsbericht Zwischen adliger Handlungslogik und territorialer Verdichtung: Fehdeführung im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich. 05.05.2009-07.05.2009, Gießen, in: H-Soz-u-Kult, 08.08.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2737>.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension