H. Bodenschatz u.a.: Berlin Städtebau

: Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin (AIV) (Hrsg.): Berlin und seine Bauten. Teil 1: Städtebau. Berlin 2009 : DOM Publishers, ISBN 978-3-938666-42-5 472 S., über 500 Abb. € 98,00

: Stadttechnik im Städtebau Berlins. Bd. 1: Stadttechnik im Städtebau Berlins 19. Jahrhundert. Kompendium Stadttechnikgeschichte: Wasser und Abwasser, Gas und Strom, Bd.2: Stadttechnik im Städtebau Berlins 1945-1999, Bd. 3: Stadttechnik im Städtebau Berlin 20. Jahrhundert. Berlin 2001 : Gebr. Mann Verlag, ISBN 978-3-7861-2557-0 200, 184 u. 240 S. € 128,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Bernhardt, Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung

Der Berliner Städtebau als Herausforderung der „Disziplingeschichte“

Die Auseinandersetzung mit „disziplinhistorischen“ Forschungen, etwa von Medizinern, Biologen, Ingenieuren oder Architekten, zählt für Fachhistoriker zu den ausgesprochen anregenden, aber auch schwierigen Herausforderungen. Genaue Kenntnis und souveräne Beherrschung des „Kanons“, der Systematik, Begrifflichkeit und Quellenlage im jeweiligen Fachgebiet paart sich dort, so erscheint es gemessen an geschichtswissenschaftlichen Standards, zuweilen mit methodischer Unbekümmertheit, einer Scheu vor Archiven, Vernachlässigung gesellschaftsgeschichtlicher Kontexte usw. – wobei diese Liste sich noch verlängern ließe. Doch abgesehen davon, dass diese kritische Wahrnehmung aus umgekehrter Sicht spiegelbildlich ganz genauso ausfällt – was zum Beispiel die „Bildfeindlichkeit“ der Fachhistorie angeht – , bilden die dort entstehenden Untersuchungen oft Fundgruben und geradezu Referenzwerke disziplinübergreifender Forschung. Die folgende Besprechung zweier Meilensteine zur Städtebaugeschichte Berlins – der Schlussband des vielbändigen Sammelwerkes „Berlin und seine Bauten“ und das inhaltlich komplementäre, dreibändige Werk von Tepasse zur Stadttechnik bzw. dem „unterirdischen Städtebau“ – versucht, die Potentiale eines Dialogs über die Fachgrenzen hinweg auszuloten.

Mit dem Band 1: „Städtebau“ wird die vom Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin seit 1964 herausgegebene, 24-bändige Reihe „Berlin und seine Bauten“ abgeschlossen, die sich in der Tradition der gleichnamigen, wenngleich schmaleren Ausgaben von 1877 und 1896 sieht. 1 Die renommierten Planungshistoriker Harald Bodenschatz, Jörn Düwel und Niels Gutschow sowie der langjährige Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann explizieren im Vorwort in vorbildlicher Klarheit ein systematisches, breites Verständnis von Städtebau unter Einschluss sozialer Fragen, des Verkehrs usw. (S. 9), das allerdings im Folgenden nur teilweise eingelöst wird. Am besten hält der mit gut 80 Seiten kürzeste Beitrag von Harald Bodenschatz die Entwicklungsstränge zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg zusammen. Bekannte Themen wie der Wettbewerb Groß-Berlin, die Terraingesellschaften oder die vorstädtischen Kleinhaussiedlungen werden souverän skizziert, ausführlichere Abschnitte zur beginnenden Transformation der Altstadt und zum innerstädtischen Reformwohnungsbau (S. 48ff.) setzen kluge Akzente. Ein gewisses, auf die Forschungslage zurückzuführendes Desiderat bildet die geringe Einbeziehung der Stadterweiterung im Osten sowie die „Leerstelle“ des Ersten Weltkrieges.

An dem zweiten, über 240-seitigen Aufsatz von Düwel/Gutschow über die Kernepoche der städtebaulichen Moderne 1918–1975 – diese innovative Periodisierung wird hier gut eingeführt und durchgehalten – überzeugen vor allem die ausführliche Einbeziehung Ost-Berlins (S. 193ff., 242ff. usw.) und die breite, großformatige Dokumentation von Plänen in exzellenter Qualität, so zum Beispiel der Speer'schen und der sozialistischen Planungen. Deutlich schwächer dagegen fallen die Abschnitte zur Weimarer Republik aus, für die konstitutive Entwicklungen wie etwa die städtische Wohnungsbauförderung und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nur oberflächlich gestreift werden (S. 126ff.). Während der Wandel der Leitbilder im Großsiedlungsbau und einzelne wichtige Siedlungen an der Peripherie gut porträtiert sind (S. 297ff.), bleiben der bedeutende innenstadtnahe Siedlungsbau der 1920er-Jahre sehr knapp skizziert, der der 1950er-Jahre weitgehend ausgeblendet. Dazu mag beigetragen haben, dass hier – und nicht nur hier – zentrale Werke der neueren, einschlägigen Forschung entweder nicht rezipiert oder jedenfalls in der knappen Bibliographie im Anhang nicht aufgeführt wurden. 2

Hans Stimmann hat als Berliner Senatsbaudirektor die von ihm dargestellte Periode von 1975 bis zur Gegenwart selbst maßgeblich mitgestaltet und stand dabei im Mittelpunkt teilweise stark polarisierter öffentlicher Debatten. Es gelingt ihm, insbesondere die Anfänge des Paradigmenwechsels in West-Berlin zurück zum „vormodernen“ Städtebau und zur „kritischen Rekonstruktion“ des überlieferten Stadtgrundrisses seit den 1970er-Jahren überzeugend darzustellen (S. 367ff.). Nicht nur die von ihm maßgeblich entwickelten „Schwarzpläne“ zur kartographischen Darstellung der Vernichtung der überlieferten Stadt nach 1945 (S. 379ff.), sondern überhaupt die breite Dokumentation der Pläne und Abbildungen bilden eine Schatzkammer für den Nachvollzug neuerer städtebaulicher Planungen. Gut dokumentiert sind auch die Wettbewerbe der 1990er-Jahre, etwa zum Potsdamer Platz (S. 382ff.), während im Gegensatz zum Programm der Einleitung Verkehrsplanungen und -bauten wie etwa der Hauptbahnhof praktisch ausgespart werden. Die konsequente Verdammung der städtebaulichen Moderne in Ost und West und die Herausstellung der Stimman'schen Städtebau-Philosophie mit der Parzelle sowie der „hausweisen Nutzung privater Eigentümer“ (S. 383) als Dreh- und Angelpunkt sind immerhin diskussionswürdig. Ärgerlich dagegen ist die Darstellung der nach 1990 errichteten „Neuen Vorstädte“ bzw. innerstädtischen Entwicklungsgebiete (S. 426ff.), deren städtebaulich fehlgeschlagene und wirtschaftlich für den Berliner Haushalt desaströse Entwicklung hier geschönt präsentiert werden. Die Abhandlung der Ost-Berliner Großsiedlungen Marzahn, Hohenschönhausen und Hellersdorf, die ungeachtet ihrer Qualitätsprobleme zu den großen städtebaulichen Projekten im Berlin des 20. Jahrhunderts zählen, auf gerade einmal gut drei Textseiten lässt sich nur als Verweigerungshaltung des Autors und Versagen der Herausgeber werten.

Auch das Werk von Tepasse dokumentiert eine Renaissance des vormodernen Städtebaus, mehr noch: Es öffnet erst den Blick für die heute wieder aktuelle Frage der Einheit von ober- und unterirdischem Städtebau. In einem noch relativ wenig erforschten Feld gelingt es ihm, unter ständiger Einbeziehung der Entwicklung in anderen europäischen Städten und unter Auswertung von Archivalien, bisher weitgehend unbekannte Stränge in der stadttechnischen und damit auch stadtkulturellen Entwicklung Berlins zu rekonstruieren. Dazu zählen etwa die lange Vorgeschichte der bekannten Hobrecht'schen Kanalisationsplanungen im frühen 19. Jahrhundert (Bd. I, S. 29ff.) oder der Ausbau der Gas- und Stromversorgung, die konsequent aus miteinander verschränkten Marktmechanismen, institutionellem Wandel und Technikdiffusion erklärt werden (Bd. I, S. 147ff. u. S. 170ff.). In Anlehnung an das epochemachende Werk von Geist/Kürvers zum Berliner Mietshaus 3 wird das schrittweise Vordringen der Moderne anhand der Expansion der Wasser-, Gas- und Stromnetze kartographisch in mehreren Zeitschnitten rekonstruiert. Der zweite Band kritisiert, in Anknüpfung an das programmatische Hobrecht'sche Leitmotiv der „Einheit von Straße und Kanal“ (Bd. II, S. 9, Bd. III, S. 210), die Auflösung dieses Zusammenhangs seit 1900 anhand prominenter neuerer Beispiele bis hin zum Wettbewerb für den Alexanderplatz von 1993 (Bd. II, S. 9). Dabei wird ausgehend von einem konzisen Vergleich zu den Besonderheiten des „Oben“ und des „Unten“ im Städtebau (Bd. II, S. 17) eine differenzierte, historisch vertiefte Argumentation für einen intelligenten „Mix“ aus zentralisierten und dezentralen Strukturen der großstädtischen Wasserbewirtschaftung entwickelt. Besondere Kritik gilt den bei einer unkoordinierten Planung auftretenden hohen „oberirdisch verursachten Tiefbaukosten“ (Bd. II, S. 22). Umgekehrt wird den von der DDR entwickelten „komplexen (weil integrierten, C.B.) Leitungskarten“ sowie den Sammelkanälen für alle stadttechnischen Leitungen (Bd. III, S. 146) Lob gezollt, die nach 1989 der „Abwicklung dieser hohen Planungskultur“ zum Opfer fielen (Bd. II, S. 24). Der zweite Band rekonstruiert darüber hinaus nicht nur die spannende, bisher unbekannte „unterirdische“ Geschichte dreier prominenter Siedlungsprojekte der 1930er- bis 1960er-Jahre, sondern auch städtebaulich und ökologisch innovative Konzepte für die stadttechnischen Netze nach 1990 (Bd. II, S. 93ff). Hier wie in dem gesamten Werk werden die Wassernetze deutlich ausführlicher als Strom, Gas usw. analysiert.

Dass der zweite Band mit seinem Schwerpunkt auf der Zeit nach 1945 bzw. 1990 gewissermaßen „aus der Reihe fällt“ und erst der dritte das Konzept des ersten für das 20. Jahrhundert fortsetzt, kann die beeindruckende Forschungsleistung nicht wesentlich schmälern. Dieser stellt nicht nur die weithin unbekannte Geschichte der Stadtentwässerung im 20. Jahrhundert ausführlich vor (Bd. III, S. 14ff.), sondern rekonstruiert auch das Vordringen der Haushaltstechnik einschließlich ihrer kulturellen Bedeutung. Neben der Entwicklungslinie „vom Kachelofen zur Städteheizung“ wird schließlich die Geschichte des städtischen Elektrizitätsunternehmens Berliner Städtische Elektrizitätswerke Aktien-Gesellschaft. (BEWAG) pointiert skizziert, das 1931 verkauft und 1956 wieder rekommunalisiert wurde (Bd. III, S. 123ff.).

Dieser kritische, kulturgeschichtlich geerdete und stadtpolitische Dimensionen integrierende Blick auf die Stadttechnik zählt zu den großen Stärken des Werkes von Tepasse. Zwar haben beide der hier besprochenen Werke mit gutem Grund die Tugenden der traditionellen, eher deskriptiven Dokumentation aufgegeben, die lange Zeit in disziplingeschichtlichen Publikationen wie der Reihe „Berlin und seine Bauten“ gepflegt wurde, übrigens mit anhaltend guten Ergebnissen. 4 Doch hat nur das zuletzt besprochene den Sprung zu einer empirisch fundierten, kritischen Rekonstruktion paradigmatischer Stationen und der wesentlichen großen Linien überzeugend vollzogen.

Anmerkungen:
1 Architekten-Verein zu Berlin (Hrsg.), Berlin und seine Bauten, 2 Bde., Berlin 1877; Architekten-Verein zu Berlin / Vereinigung Berliner Architekten (Hrsg.), Berlin und seine Bauten, Faksimiledruck der 2. Aufl. von 1896, Berlin 1988.
2 Stellvertretend seien hier genannt die Arbeiten von Hanauske zum West-Berliner Wohnungsbau der 1950er-Jahre und von Kuhrmann zum Palast der Republik. Dieter Hanauske, „Bauen, bauen, bauen...!“. Die Wohnungspolitik in Berlin (West) 1945–1961, Berlin 1995; Anke Kuhrmann, Der Palast der Republik. Geschichte und Bedeutung des Ost-Berliner Parlaments- und Kulturhauses, Petersberg 2006.
3 Johann Friedrich Geist / Klaus Kürvers, Das Berliner Mietshaus, 3 Bde., München 1980-1989.
4 Noch der kürzlich erschienene Band „Stadttechnik“ in der Reihe „Berlin und seine Bauten“, der als Komplementärwerk zu dem Tepasses anzusehen ist, weist diese Vorzüge einer systematischen Dokumentation auf. Berlin und seine Bauten, hrsg. vom Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin, Teil X, Bd. A.2: Stadttechnik, Petersberg 2006.

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