C. Lejeune: Die Säuberung, Bd. 1-3

: Die Säuberung. Bd. 1: Ernüchterung, Befreiung, Ungewissheit (1920-1944). Büllingen 2005 : Lexis Verlag, ISBN 90-806682-3-0 219 S. € 31,90

: Die Säuberung. Bd. 2: Hysterie, Wiedereingliederung, Assimilierung (1945-1952). Büllingen 2007 : Lexis Verlag, ISBN 97-890806682-4-9 272 S. € 34,90

: Die Säuberung. Bd. 3: Verdrängte Erinnerungen - 340 Zeitzeugen berichten. Büllingen 2008 : Lexis Verlag, ISBN 978-908-066820-1 333 S. € 35,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Burkhardt, Museum für Kommunikation Berlin

Die Erfahrung der deutschen Besatzung im Ersten und Zweiten Weltkrieg hat die belgische Gesellschaft tief geprägt. Bis heute spielt sie für das nationale Selbstbild der Belgier eine wichtige Rolle. Anders als in anderen Ländern, die während des Krieges von deutschen Truppen besetzt worden waren, gelang es hier jedoch nie, zu einer auch nur annähernd kohärenten Erinnerung zu kommen. Die ideologischen Gräben zwischen den Sprachgemeinschaften, die bereits vor der Besatzungserfahrung bestanden hatten, wurden durch diese noch verstärkt.1 Noch immer dominiert die Frage, wer Widerstand geleistet und wer kollaboriert habe, den Diskurs über den Zweiten Weltkrieg. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen betreffen in der Regel die französischsprachigen Wallonen und die niederländischsprachigen Flamen. Weil Letztere aufgrund ihrer vermeintlichen Zugehörigkeit zur „nordischen“ Rasse von den deutschen Besatzern bevorzugt worden waren, wirft ihnen die wallonische Seite vor, massenhaft kollaboriert zu haben. Die Flamen wiederum fühlen sich durch die teils undifferenzierte „Säuberung“ nach Kriegsende, die sie bezeichnenderweise „Repression“ nennen, ungerecht behandelt und pauschal verurteilt.

In dieser Konstellation gerät leicht aus dem Blick, dass in Ostbelgien auch eine deutschsprachige Gemeinschaft existiert, die naturgemäß eine ganz eigene Sichtweise der Ereignisse hat. Carlo Lejeune, selbst deutschsprachiger Belgier, möchte mit dem dreibändigen Werk dazu beitragen, die Geschichte dieser Region in Bezug auf die Kriegserfahrungen aufzuarbeiten und sie vor allem der jungen Generation nahezubringen, um den „demokratischen Lernprozess“ (Bd. 1, S. 20) zu fördern. Bislang, so Lejeune, würden diese Themen weitgehend tabuisiert.

Die Bewohner von Eupen-Malmedy haben eine wechselvolle Geschichte durchlebt. Nachdem das Gebiet seit 1815 zu Deutschland gehört hatte, ging es im Zuge des Versailler Vertrags an Belgien über. 1920 wurde eine Volksbefragung durchgeführt, deren Aussagekraft Lejeune jedoch infrage stellt, da sie öffentlich und unter massivem Druck stattgefunden habe (Bd. 1, S. 27). Die Bevölkerung habe sich dem Deutschen Reich zugehörig gefühlt und aufgrund der Sprachbarriere und der Gleichgültigkeit der übrigen Belgier große Probleme gehabt, sich im belgischen Staat zu integrieren. Seit den 1930er-Jahren verschärften sich die Konflikte, da viele Flamen und besonders Wallonen den „Neubelgiern“ unterstellten, sich mit dem nationalsozialistischen Regime zu identifizieren. Tatsächlich fühlten sich die Deutschsprachigen wohl teilweise zum Nationalsozialismus hingezogen, weil dessen „Heim ins Reich“-Propaganda ihnen attraktiv erschien. 1940 wurden die deutschsprachigen Gebiete von den Deutschen nicht wie das übrige Belgien besetzt, sondern annektiert. Sie gehörten somit wieder zum Deutschen Reich. Bei den flämischen und wallonischen Belgiern verfestigte sich der Eindruck, dass die Bewohner der Ostkantone sich als Deutsche fühlten und gemeinsame Sache mit den Nationalsozialisten machten. Lejeune sieht in der „Gleichsetzung von deutschsprachig, deutsch und nationalsozialistisch“ (Bd. 1, S. 18) das grundlegende Missverständnis zwischen den betroffenen Gruppierungen.

Die ersten beiden Bände der Reihe sind chronologisch aufgebaut. Sie bieten eine Gesamtschau der Entwicklung von 1920 bis 1952, bei der teils ausführliche Quellenzitate – zumeist aus belgischen Aktenbeständen – in erklärende Passagen eingebettet werden. Insgesamt entsteht der Eindruck eines Lehrbuchs, das Schritt für Schritt die einzelnen Entwicklungsstufen nachvollzieht und zentrale Begriffe erklärt. Wichtige Zitate und Aussagen werden mit einem Ausrufezeichen hervorgehoben, wichtige Fragen mit einem Fragezeichen. Der Autor versteht sich als Chronist der Ereignisse, der die überlieferten Quellen einer objektiven Analyse unterzieht. Dabei klingt sein pädagogischer Anspruch hin und wieder durch, und seine Darstellung ist nicht immer frei von wertenden oder emotionalen Aussagen. Dies zeigt sich schon am Titel „Die Säuberung“ – im ersten Band wird im Wesentlichen deren Vorgeschichte erzählt, die eigentlichen Maßnahmen werden erst gegen Ende thematisiert. Indem er jedoch das ganze Werk unter diesem Begriff zusammenfasst, bringt der Autor die gesellschaftliche Bedeutsamkeit zum Ausdruck, die die „Säuberung“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in seinem Verständnis hat. Ähnlich wie im Verhältnis der Flamen und Wallonen stellt sie für die deutschsprachige Gemeinschaft einen Fixpunkt im eigenen Selbstverständnis dar.

Nachdem er im ersten Band detailliert die Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg geschildert hat, geht der Autor im zweiten Band näher auf die einzelnen Maßnahmen der „Säuberung“ ein. Dabei handelt es sich um die Verfolgung politischer und ökonomischer Kollaborateure durch die Militärgerichtshöfe, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und die Ausweisung, die private Säuberung in Unternehmen, Vereinen und anderen Institutionen sowie die Säuberung der Verwaltungen. Bei einer Verurteilung oder Amtsenthebung konnten zudem einige oder alle bürgerlichen Rechte aberkannt werden. Eine weitere Möglichkeit der Kontrolle bestand darin, den Betroffenen „Bürgerlichkeitsbescheinigungen“ auszustellen, die beispielsweise bei der Arbeitssuche vorgelegt werden mussten. Unmittelbar nach der Befreiung kam es außerdem zu einer Vielzahl von Festnahmen und Internierungen durch Mitglieder der „Weißen Armee“, die aus Angehörigen des Widerstands bestand, durch die Polizei und andere Vertreter der Staatsmacht.

Als Ursache für die häufig ungerecht und chaotisch verlaufenden Maßnahmen sieht Lejeune in erster Linie die Überforderung des belgischen Staates. Während des Zweiten Weltkriegs habe sich die Exilregierung zu wenig mit der Situation in den Ostkantonen beschäftigt; nach der Befreiung sei die Politik nicht in der Lage gewesen, die „Säuberung“ rasch in geregelte Bahnen zu lenken. Insgesamt hatten die schwierigen Bedingungen, die für ganz Belgien galten, in Eupen-Malmedy offenbar besonders gravierende Folgen. Der Autor vermeidet es jedoch bewusst, ein Schwarz-Weiß-Bild zu zeichnen. Seine Sichtweise ist sehr differenziert, und er versucht, die Beweggründe der unterschiedlichen Akteure zu erklären. Auch wenn er die pauschalen Schuldzuweisungen gegenüber der deutschsprachigen Gemeinschaft als ungerecht zurückweist, leugnet er nicht, dass es in der Bevölkerung deutschnationalistische Tendenzen gab und dass sich die Bewohner der Ostkantone teilweise mitschuldig gemacht haben. Er kritisiert die traditionelle Regionalgeschichtsschreibung, „die wesentliche und unzweifelhafte historische Fakten verschleierte und politisch erwünschte Bilder in die Vergangenheit projizierte“ (Bd. 1, S. 177).

Der Wunsch nach einer differenzierten Darstellung, die möglichst nah an die tatsächlichen Geschehnisse heranreicht, kommt im dritten Band besonders zur Geltung. In diesem Teil der Reihe, den Lejeune gemeinsam mit Klaus-Dieter Klauser zusammengestellt hat, sind Auszüge aus Interviews mit Zeitzeugen aus den Ostkantonen zu thematischen Kapiteln zusammengefasst. In der Einleitung schreiben die beiden Autoren, die „kollektive Erinnerung“ solle ein Gegengewicht zu den Quellen der ersten beiden Bände bilden, die hauptsächlich die belgische Sicht wiedergeben würden. In dem Projekt „Damit nichts verloren geht“ wurde ab 2005 eine Vielzahl von Gesprächen geführt. Außerdem verwenden die Autoren ältere Zeitzeugeninterviews, teilweise aus der historischen Literatur. Auf diese Weise konnten sie rund 340 Interviews berücksichtigen. Den Interviewfragmenten sind methodische und theoretische Überlegungen zum Thema kollektive Erinnerung vorangestellt. Der Band bietet einen facettenreichen Einblick in die unterschiedlichen Erfahrungen, die die Bewohner der Ostkantone in der Vorkriegszeit, während des Krieges und in der Phase der „Säuberung“ machten. Der Anspruch der Autoren, unterschiedlichen Quellen Gehör zu verschaffen, hätte allerdings auch in einer parallelen Darstellung umgesetzt werden können. Die offiziellen Dokumente wären so von den Interviewsequenzen ergänzt oder infrage gestellt worden. Die vorliegende Gliederung hat den Vorteil, dass beide Quellengattungen gut aufbereitet für die weitere Benutzung zur Verfügung stehen. Insgesamt bietet das dreibändige Werk einen übersichtlichen, gut lesbaren Einstieg in die Beschäftigung mit dieser von der Zeitgeschichtsschreibung bislang wenig beachteten Region.

Anmerkung:
1 In deutscher Sprache vgl. z.B. Marnix Beyen, Belgien. Der Kampf um das Leid, in: Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, 2 Bde., Berlin 2004, S. 67-88; Christoph Brüll, „Das Recht, über die Geschichte zu urteilen“. Der Umgang mit dem Holocaust in Belgien an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 24 (2008): Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, S. 43-58; Georgi Verbeeck, Erinnerungspolitik in Belgien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8/2008, S. 25-32.

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