K. Hammerstein u.a. (Hrsg.): Aufarbeitung der Diktatur

Cover
Titel
Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung?. Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit


Herausgeber
Hammerstein, Katrin u.a.
Reihe
Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert 2
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Ruderer, Exzellenzcluster 212: "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne", Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Bundesrepublik gilt gerade international als „Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung“ (Péter Esterházy). Dabei wird zumeist auf die über 60-jährige Geschichte des Umgangs mit der NS-Diktatur angespielt; seit 1989 wird aber auch der Modellcharakter der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit diskutiert. Der vorliegende Band widmet sich der Frage einer deutschen „DIN-Norm“ (Timothy Garton Ash) der Aufarbeitung und deren Wechselwirkung mit europäischen Prozessen. Er dokumentiert die Ergebnisse einer prominent besetzten Tagung, die im September 2007 vom Graduiertenkolleg „Diktaturüberwindung und Zivilgesellschaft in Europa“ der Universität Heidelberg veranstaltet wurde.

Der Band zeigt erneut, dass gerade bei Themen der Vergangenheits- und Erinnerungspolitik internationale Vergleiche gewinnbringend sein können.1 Die einzelnen Beiträge gehen nicht nur dem bislang wenig untersuchten Formierungsprozess einer europäischen Erinnerungspolitik nach, sondern beleuchten auch die Asymmetrien und Konflikte in der „Konkurrenz der Erinnerungen“ zwischen West- und Osteuropa. Wie emotional und antagonistisch die Debatten um den „richtigen“ Umgang mit der Vergangenheit immer noch geführt werden, zeigen die am Ende des Bandes auszugsweise dokumentierten Podiumsdiskussionen der Tagung. Ihr Abdruck zusammen mit der philosophisch gefärbten Eröffnungsrede von Günter Nooke, des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, erweist sich als glückliche Entscheidung der Herausgeber.

Bewusst kritisch wird schon im Titel des Bandes danach gefragt, ob die „Normierungsprozesse“ bei der „Aufarbeitung der Diktatur“ nicht auch zu einem „Diktat der Aufarbeitung“ werden können. Katrin Hammerstein und Julie Trappe weisen in der Einleitung darauf hin, dass einer unkritischen Übernahme von vergangenheits- und erinnerungspolitischen Maßnahmen auch eine Alibifunktion zukommen kann, die den offenen Umgang mit Diktaturvergangenheiten eher erschwert. Ebenso gelte es, wichtige fallspezifische Tatsachen zu berücksichtigen und die politische Instrumentalisierung von Vergangenheitsaufarbeitung zu bedenken.

In einem ersten Abschnitt wird der „’Vergangenheitsbewältigung’ in Deutschland im Zeichen doppelter Diktaturerfahrung“ nachgegangen. Christoph Cornelißen zeichnet den westdeutschen und ab 1990 gesamtdeutschen Weg im Kontext der europäischen Erfahrung nach. Vor dem Hintergrund, dass „Vergangenheitsbewältigung“ immer das Ergebnis von politischen und sozialen Konstellationen sowie der spezifischen Diktaturerfahrung sei, bestätigt er auf diesem Feld den Befund eines deutschen „Sonderwegs“. Bernd Faulenbach sieht für den Umgang mit den zwei Vergangenheiten nach 1989 eine Mischung aus einem erweiterten Geschichtsbewusstsein und vielfältigen Kontinuitäten, insbesondere im Umgang mit der NS-Zeit und dem Holocaust. Michael Beleites plädiert für eine unterscheidende, aber verbundene Aufarbeitung und Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen. Alfons Kenkmann spricht sich in einem Vergleich der Gedenkstättenlandschaft in Berlin und Nordrhein-Westfalen gegen den Versuch einer Normierung des Gedenkstättenkonzepts von oben aus; überzeugend argumentiert er für den Ausbau des jeweils spezifischen Profils der einzelnen Gedenkstätten.

In einem zweiten Abschnitt wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich Trends „zu einer DIN-Norm für die Diktaturaufarbeitung“ beobachten lassen. Micha Brumlik analysiert die pädagogischen Lernprozesse nach dem Holocaust. Während er für die Bundesrepublik zu einem positiven Fazit im Sinne des „Nie wieder“ kommt, ist er sehr skeptisch gegenüber den Möglichkeiten, die gleichen Lernprozesse auch im Weltmaßstab fortzuschreiben. In einem Vergleich zwischen der polnischen Aufarbeitungsbehörde IPN und der deutschen BStU sieht Dorota Dakowska die polnische Aufarbeitung noch weit entfernt vom deutschen Modell. Claudia Kraft plädiert in ihrem Vergleich zwischen Polen und Spanien für eine Untersuchung der kulturellen Codierung des Systemwechsels, um die „Risse“ in der auf den ersten Blick erfolgreichen Demokratisierungsgeschichte der beiden Länder zu erklären, während Ulrike Jureit in ihrem Beitrag die „Normierungstendenzen einer opferidentifizierten Erinnerungskultur“ kritisiert. Das normative Erinnern verstelle den Blick auf andere wichtige Details, grenze die Täter – und damit häufig die eigene (Mit-)Verantwortung – aus und habe somit sein „subversives Potential“ im Sinne einer kritischen Distanz zur eigenen Geschichte verloren.

Im dritten Abschnitt stehen die „Akteure der Aufarbeitung“ im Mittelpunkt. Julie Trappe gibt einen kenntnisreichen Überblick zu strafrechtlichen Standards der Aufarbeitung in Europa. Verjährung, Rückwirkungsverbot und Menschenrechtsschutz werden dabei als Problemfelder der juristischen Aufarbeitung ausgemacht, auf denen sich nationales und internationales Recht häufig überlappen. Koffi Kumelio A. Afande macht auf die Bedeutung der Untersuchungskommissionen aufmerksam, die mit ihrer Arbeit die Verfahren von internationalen Strafgerichtshöfen vorbereiten (etwa für Ruanda oder Jugoslawien). Christine Axer untersucht die lois mémorielles in Frankreich vor dem Hintergrund der Befürchtung zahlreicher Forscher, dass mit diesen Gesetzen die Freiheit der Wissenschaft beschnitten werde. In einem Vergleich mit den bisherigen Möglichkeiten, gegen angebliche Geschichtsverleumdung vorzugehen, weist sie den „primär ideellen Charakter“ der „Erinnerungsgesetze“ nach (S. 158), die in erster Linie als Ausdruck einer „Pflicht zur Erinnerung“ an die Opfer gelesen werden müssten. Xosé-Manoel Núñez zeichnet die von politischen Stimmen dominierten Erinnerungsdiskurse in Spanien nach. Nachdem der Pakt des Schweigens ab Mitte der 1990er-Jahre von zivilgesellschaftlichen Initiativen aufgebrochen wurde, sperren sich die Rechtskonservativen auch heute noch gegen die Erinnerung – wie ihr Abstimmungsverhalten beim 2007 verabschiedeten „Gesetz des historischen Gedächtnisses“ zeigte –, während mittlerweile auch wieder neofranquistische Propaganda in die Erinnerungsdiskurse einfließt.

Der vierte Abschnitt nimmt die gesamteuropäische Ebene in den Blick. Michael Weigl stellt fest, dass in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg die Diktaturerfahrung als Aufruf zur Konstruktion eines friedlichen und demokratischen Europas gedeutet wurde. Nach 1989 ist jedoch die Identität eines schon erfolgreich hergestellten demokratischen Europas postuliert worden, so dass die Diktaturerfahrungen der osteuropäischen Länder dementsprechend ausgeklammert bleiben und die Aufarbeitung noch nicht zu einem gesamteuropäischen Phänomen geworden ist. Katrin Hammerstein und Birgit Hofmann untersuchen gesamteuropäische Resolutionen zu Erinnerung und Aufarbeitung; sie können zeigen, dass sich neben dem Minimalkonsens eines antitotalitären Europas immer noch Bruchlinien der Erinnerung zwischen Ost und West bzw. zwischen den politischen Lagern manifestieren. Jens Kroh erläutert die Wechselwirkungen zwischen den diplomatischen EU-Maßnahmen gegen Österreich und der Stockholmer „Holocaust-Konferenz“ im Jahr 2000, während Milan Horáček am Beispiel der tschechischen Aufarbeitung dafür plädiert, den Umgang mit der Vergangenheit als gemeinsame europäische Aufgabe aufzufassen.

Im letzten Teil wird nach den Ausformungen einer europäischen Gedächtniskultur gefragt. Stefan Troebst geht anhand von zehn Thesen der Bedeutung von „1945“ als europäischem Erinnerungsort nach. Während er einerseits konstatiert, dass die verschiedenen Erinnerungszuweisungen an „1945“ zu gegensätzlich seien, um als Fundament einer gesamteuropäischen Erinnerung dienen zu können, lässt er zugleich die Hoffnung erkennen, dass die Erinnerungskonflikte zu einer Kultur konstruktiven Streits führen könnten. Regina Fritz und Katja Wezel untersuchen die museale Darstellung der Vergangenheit am Beispiel des lettischen Okkupationsmuseums und des Hauses des Terrors in Budapest. Sie kommen zu dem Schluss, dass in beiden Fällen die Erinnerung an den Kommunismus ein deutliches Übergewicht gegenüber der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung erhält. Anna Kaminsky gibt einen Überblick zu Orten der Erinnerung an die Opfer des Kommunismus in Osteuropa, mit dem sie zeigen kann, dass insbesondere die Kontextualisierung des Erinnerns von Bedeutung ist. Burkhard Olschowsky stellt abschließend überzeugend die Entwicklung der Erinnerung an Flucht und Vertreibung in der Bundesrepublik, der DDR und Polen gegenüber, um im Blick auf die geplante Ausstellung über dieses Thema zu einer pluralistischen Auseinandersetzung aufzurufen, in der gerade von der polnischen Erfahrung gelernt werden könne.

Insgesamt gibt der Band einen fundierten Überblick. Dabei werden Konflikte, Grenzen, aber auch Möglichkeiten von Normierungsprozessen der Vergangenheitsaufarbeitung angesprochen und die Vorteile einer interdisziplinär vergleichenden Beschäftigung mit dem Thema deutlich. Wünschenswert, aber im Rahmen dieses Bandes nicht mehr zu leisten, wäre der Blick über die europäische Ebene hinaus, denn gerade die Analyse der Vergangenheitsaufarbeitung in Afrika, Asien oder Lateinamerika kann weitere wichtige Erkenntnisse über den Umgang mit Diktaturen liefern.

Anmerkung:
1 Vgl. den ersten Sammelband, der auf eine Tagung der Graduiertenschule zurückgeht: Carola Sachse / Edgar Wolfrum / Regina Fritz (Hrsg.), Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008 (rezensiert von Kerstin von Lingen, in: H-Soz-u-Kult, 04.07.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-011>).