R. Siegmund-Schulze: Mathematiker auf der Flucht vor Hitler

Titel
Mathematiker auf der Flucht vor Hitler. Quellen und Studien zur Emigration einer Wissenschaft


Autor(en)
Siegmund-Schulze, Reinhard
Reihe
Dokumente zur Geschichte der Mathematik 10
Erschienen
Braunschweig/Wiesbaden 1998: Vieweg Verlag/ GWV Fachverlage
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Schirrmacher, Dr. Arne

Die erzwungene Emigration eines Teils der deutschen Gesellschaft nach 1933 gesondert nach Gruppen beruflicher Betaetigung und insbesondere beschraenkt auf wissenschaftliche Fachgemeinschaften zu untersuchen, mag abgesehen von disziplingeschichtlicher Selbstvergewisserung nur dann wirklich sinnvoll erscheinen, wenn dies unter einem uebergeordneten methodischem Gedanken geschieht. So koennte man etwa annehmen, dass die Emigrationsgruende und Akkulturationsschritte bei Disziplinen, die wie etwa die Sozialwissenschaften von der Gesellschaft und Politik staerker beeinflusst sind, in ihrer basalen Grundkonstellation zur Unkenntlichkeit verzerrt erscheinen, waehrend bei der vielleicht in dieser Hinsicht neutralsten Wissenschaft, der Mathematik, diese quasi in Reinform zu gewinnen waeren. Auch koennte etwa fuer die Grundlagendisziplin Mathematik im Unterschied zu den (kriegs-)technisch verwertbaren Ingenieur- und Naturwissenschaften ganz andere Emigrationshindernisse bestimmend sein. In der derzeitigen Emigrationsforschung verspricht vor allem eine vergleichende Perspektive einen relevanten Ertrag fuer die Sozial- und Kulturgeschichte, aber leider sind solche Untersuchungen selten.

Reinhard Siegmund-Schulzes Arbeit sucht primaer eine Luecke in der Geschichtsschreibung der Wissenschaftsemigration zu schliessen, in der die Gruppe der Mathematiker bisher wenig betrachtet wurde. Arbeiten etwa fuer die Physik ueber die Wissenschaftler im Nationalsozialismus (Beyerchen) und die Neuetablierungen wissenschaftlicher Gruppen und Schulen im Ausland (Weiner) liegen bereits seit einigen Jahrzehnten vor. Vor allem die Kernphysiker wurden vor dem Hintergrund ihrer Rolle bei den Atombombenprojekten in detaillierten Studien bis hin zur szientometrischen Rekonstruktion ihrer Gruppierungen und Kommunikationsstrukturen untersucht (Fischer). Neuere Studien zur Wissenschaftsemigration konzentrieren sich - neben der anhaltenden Erforschung von Einzelbiographien - zumeist auf enger gezogene Wissenschaftlergruppen und spezifische Aspekte ihrer Emigration: etwa fuer die Emigration nach den hier im Mittelpunkt stehenden USA auf die Gestaltpsychologie (Ash), den Wiener Kreis (Dahms; Feigl; Hoch), die Aerodynamik (Hanle), oder die Wissenschaftstheoretiker und Logiker (Thiel).

Der Versuch, eine Gesamtdarstellung der Mathematikemigration in die USA zu geben, die ueber ein reines Bilanzieren hinausgeht, stoesst zwangslaeufig auf methodische Probleme. Zum einen ist die Mathematik keine homogene Wissenschaft, sondern vielmehr ein Oberbegriff fuer eine Vielzahl unterschiedlicher Forschungsrichtungen verschiedenster Naehe zu technischer Anwendung, wirtschaftlicher Relevanz und kulturellem Eigenwert. Von der Zahlentheorie zur Versicherungsmathematik zerfaellt die Mathematik in eine komplexe Sozialstruktur mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Prestigeanspruechen, die sich auch in ihrer Institutionalisierung niederschlagen. Zum anderen, wie bereits angesprochen, legt der heutige Forschungsstand zur Wissenschaftsemigration eine vergleichende Perspektive nahe: Gibt es bei den Mathematikern im Gegensatz zu den Physikern, Biologen, Medizinern, Psychologen, aber auch Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern und nicht zuletzt den Ingenieuren spezifisch andere Emigrationsmuster und -probleme und gegebenenfalls in dieser Wissenschaft verankerte Strukturen, die dies erklaeren koennten?

Der Autor geht diesen Problemen weitgehend aus dem Weg, indem er sich - so der Untertitel seines Buches - auf "Quellen und Studien zur Emigration einer Wissenschaft" beschraenkt. In den Kapiteln werden "wesentlichen Problemen der Emigration ... zum Beleg und zur Illustration Dokumente und Skizzen/Kurzstudien nachgeschickt" (S. 13). Vom Umfang her stehen etwa einem Drittel beschreibendem und analysierendem Text etwa zwei Drittel Zitate aus Briefen und Dokumenten bzw. Skizzen (i.e. staerker kommentierte oder laengere Zitate enthaltende Abschnitte) gegenueber. Ueberwiegend werden "neue archivalische Quellen, insbesondere Selbstdarstellungen betroffener deutschsprachiger Mathematiker" genutzt, deren Existenz in der Wissenschaftsgeschichte haeufig jedoch nicht unbekannt war. Eine dennoch "relativ sparsame" Kommentierung der Dokumente wird mit Hinweis auf den Umfang einer solchen Darstellung begruendet. Anhaenge geben biographische, geographische und bibliographische Informationen zu 134 Emigranten, dazu zusaetzlich Angaben ueber die Karriere der 75 in die USA emigrierten Mathematiker; darueber hinaus Listen von 14 von den Nationalsozialisten ermordeten oder in den Tod getriebenen bzw. 39 verfolgten aber nicht emigrierten und 34 vermutlich verfolgten Mathematikern, womit der Anspruch einer moeglichst vollstaendigen Dokumentation der Mathematikeremigration vermittelt wird.

So entsteht fuer den Mathematikhistoriker ein unbestreitbar nuetzliches Instrument, um sich einen Ueberblick ueber die Emigration des Faches zu verschaffen und fuer einzelne Wissenschaftler Quellenmaterial dieser Zeit zusammenzutragen. Den weniger an den Schicksalen der einzelnen Mathematiker als der spezifischen Wissenschaftsentwicklung interessierten Leser mag die Entscheidung des Autors weniger befriedigen, die individuell-biographische Ebene in seiner Darstellung in den Vordergrund zu ruecken, da "in einem Buch ueber die Emigration von Mathematikern dem Leiden der Emigranten ... ebensoviel Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, wie dem ... Fortschritt der Wissenschaft Mathematik" (S. 14). Eine weitere Zielgruppe des Buches, das in einer Reihe der Deutschen Mathematiker-Vereinigung erscheint, stellen Mathematiker dar, die der Geschichte ihres Faches aufgeschlossen sind. Sie wird der Zugang zu einer umfangreichen Sammlung persoenlicher Zeugnisse von Vertretern ihres Faches interessieren, die es zumindest vor dem Krieg massgeblich bestimmt hatten, und sie werden vielleicht auch einen gewissen kommemorativen und rehabilitierenden Zug der Darstellung begruessen. (Einige Dutzend Fotos mit Kurzcharakterisierungen der abgebildeten Mathematiker sind eingestreut, Personennamen sind zur leichteren Auffindbarkeit fett gedruckt.) Diese Herangehensweise muss wohl vor dem Hintergrund der Diskussion ueber die Geschichte der Mathematik innerhalb der Disziplin gesehen werden, die sich erst spaet ihrer Vergangenheit, insbesondere den grossen personellen Kontinuitaeten nach Kriegsende stellt (u. a. in einer vom Autor mitorganisierten Ausstellung zur Mathematik im Nationalsozialismus im vergangenen Jahr).

Auf eine kurze Einfuehrung in die Problematik von Emigrationsbegriff und Gewinn- und Verlustbilanzierung folgt die Festlegung klarer Kriterien fuer die Zugehoerigkeit zur Gruppe der Mathematiker und Emigranten und eine Diskussion ihrer Problematik. Das entstehende Sample von 187 Verfolgten wird kurz quantitativ betrachtet, aber hinsichtlich ihres Anteils an Gesamtmathematikerschaft, Emigrationsquote, Religion etc. leider nicht mit anderen Disziplinen verglichen. Die folgenden neun im wesentlichen chronologisch fortschreitenden Hauptkapitel betrachten die "fruehe Emigration" vor 1933, Form und Umfang der Vertreibungen, Emigrationshindernisse, die bleibenden Bindungen nach Deutschland und die Aufnahme in Amerika, Anpassungsdruck, Akkulturationsprobleme, wissenschaftliche Wirkung der Emigration und ausblickend die Nachkriegszeit.

Vorbildlich differenziert der Autor hierbei die verschiedenen sich ueberlagernden Entwicklungen: So setzt eine Emigration deutschsprachiger Mathematiker bereits zur Jahrhundertwende ein und bis zum Ersten Weltkrieg gibt es regen Austausch zwischen Deutschland und den USA, der sich auch in der Weimarer Republik erneuert. Inflation hier und grosser institutioneller Aufbau in den USA liess fuer viele Mathematiker und Naturwissenschaftler einen fuehrenden Posten in der Neuen Welt attraktiv erscheinen oder zumindest als Zwischenloesung gelten. Der Erfolg der amerikanischen Wissenschaft bahnte sich bereits vor der erzwungenen Emigration bedeutender Wissenschaftler an. In dieses Bild passt es auch, dass man seit 1933 auch eine gewisse Rueckkehrbewegung nichtjuedischer Wissenschaftler nach Deutschland beobachten konnte, die nun "freigewordene" prestigetraechtige Posten uebernahmen.

Da etwa ein Drittel der Verfolgten nicht emigrierte oder die geplante Emigration nicht glueckte, ist die Diskussion der Emigrationshindernisse und des Verhaltens der Aufnahmelaender zentral, wobei nun kurz auch andere Laender als die USA betrachtet werden. Die weitgehend sammelnde Darstellung in den mittleren fuenf Kapiteln - der weit ueberwiegende Teil ist eine nach Ueberschriften geordnete Praesentation von Zitaten - macht es dem Leser jedoch nicht leicht, eine Gewichtung der vielen moeglichen und tatsaechlichen Gruende vorzunehmen. Da viele Belege mehr ueber die speziellen Haltungen und Probleme ihrer Autoren als ueber allgemeine Einflussfaktoren des Emigrationsprozesses aussagen, stellen sie fuer den Mathematikhistoriker sicherlich wichtige Quellen ueber das Erleben der Emigration und die Selbsteinschaetzung der Wissenschaftler dar, werden aber fuer den, der sich mit den Personen und ihrer Bedeutung fuer die Mathematik weniger auskennt, ein eher unuebersichtliches Tableau von Stellungnahmen darstellen. Es zeigt sich spaetestens hier, dass eine weitere Unterteilung der Mathematik etwa nach Fachgebieten, Stellung vor der Emigration etc. klarere Ergebnisse ermoeglicht haette. Insbesondere wird vom Leser verlangt, dass er selbstaendig die Dokumente den vorausgehenden Texten zuordnet und als Belege erkennt, bzw. die Skizzen mit Hilfe von Hintergrundwissen oder Recherchearbeit argumentativ auffuellt. (Besonders die vagen Verweise auf ganze Kapitel in den Fussnoten und die Hinweise auf entsprechendes belegendes Quellenmaterial im Dokumententeil durch ein eingeklammertes "D" statt entsprechender Angabe etwa der Seitenzahl erschweren es oft betraechtlich, die Zusammenhaenge nachzuvollziehen.)

Der umfangreichste zusammenhaengende Textteil des Bandes ist der Wirkung der mathematischen Emigration gewidmet. Hier wird nun sowohl die Eingrenzung auf "abgrenzbare Spezialgebiete" wie auch eine Differenzierung der Fragestellung vorgenommen: Einerseits nach individuell-biographischen, nationalen, globalmathematischen und nichtmathematischen Perspektiven der Betrachtung, andererseits nach der spezifischen Wirkung in der Mathematik. Auch wird nach der Emigration aus den verschiedenen deutschsprachigen Gebieten unterschieden. Die Emigration bewirkt aus globalmathematischer Sicht etwa auf dem kleinen vor 1933 nur auf Deutschland beschraenkten Gebiet der kombinatorischen Gruppentheorie eine Internationalisierung, waehrend der Wechsel des Forschungsfeldes zur Verbesserung der Berufschancen als individuelle Emigrationswirkung gesehen werden kann. Die nichtmathematische Perspektive wird nur in Hinblick auf den geringen Stellenwert der Mathematik bei Wissenschaftspolitikern angesprochen, die keinen besonders hohen Nutzen von Emigranten in diesem Wissensgebiet sahen. Institutionell-organisatorisch bewirkten die vielen vormaligen Lehrstuhlinhaber und Institutsdirektoren, die nun oft in untergeordneten Positionen neu beginnen mussten, einen beschleunigten Aufbau neuer Forschungszentren. Innerhalb der Disziplin zeigt sich eine Verstaerkung der Forschungsorientierung einerseits als Resultat dessen, was die Emigranten als mathematische Kultur importierten, und andererseits erklaert sich die Tendenz zur angewandten Mathematik dadurch, dass die Amerikaner selbst dieses Gebiet bei sich als defizitaer erkannt hatten. Der Hinweis auf Anwendungsorientiertheit war bei einigen Emigranten eindeutig foerderlich, und fuehrte vielfach auch zur Umorientierung von "reinen" Mathematikern zur Verbesserung ihrer Anstellungschancen. (Hier waeren u. U. Hinweise auf die spezielle Geschichte der angewandten Mathematik in Deutschland als Hintergrund nuetzlich gewesen.) Weitere, nicht abgeschlossene Eroerterungen finden sich ueber die Frage des Erfolges der abstrakten Algebra (Noether) und der Rolle von Mentalitaetsunterschieden.

Da Siegmund-Schulzes Buch nirgends den Anspruch erhebt, eine erschoepfende oder abschliessende Darstellung des Themas zu liefern, sondern vielmehr darum bemueht ist, eine Diskussion (auch innerhalb der Fachwissenschaft) anzustossen, lenkt er in lobenswerter Weise das Augenmerk von Mathematikern und Historikern dieses Faches auf die Sozialgeschichte. Mancher Leser wird vor der Detailfuelle des Buches frueher oder spaeter kapitulieren und mag darauf hoffen, einmal in Artikelform eine noch ausstehende Synthese der sozial- und kulturgeschichtlich durchaus beachtenswerten Forschungsergebnisse zu finden.

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