Titel
NS - Täter vor Gericht. Düsseldorf und die Strafprozesse wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen


Autor(en)
Zimmermann, Volker
Herausgeber
; Justizministerium des Landes NRW in Zusammenarbeit mit der Mahn-und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf
Reihe
Juristische Zeitgeschichte NRW 10
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
kostenlos
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Brunner

Die juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Düsseldorf verlief oft spektakulär. Insbesondere in den siebziger Jahren fanden in der Stadt einige bedeutende NS-Prozesse statt, deren Verlauf und Ergebnis den Gerichten der Stadt den Vorwurf einbrachten, gegenüber ehemaligen NS-Funktionäre überaus nachsichtig zu sein oder deren Prozesse gar bewußt zu verschleppen. Es sei hier nur an den großen Prozeß wegen der im Vernichtungslager Majdanek verübten Untaten erinnert, der sich von 1975 bis 1981 hinzog und mit so milden Urteilen endete, daß es - in den Worten des damaligen Landesvaters Johannes Rau - "vielen die Sprache verschlug“.

Der Düsseldorfer Historiker Volker Zimmermann hat sich nun an eine Überprüfung dieser und anderer Vorwürfe gemacht und die Verfahren in ihrem historischen und juristischen Kontext analysiert. In seiner in einer Publikationsreihe des nordrhein-westfälischen Justizministeriums erschienenen Studie untersucht er über zehn Verfahren, die in der Zeit von 1945 bis 1981 vor Gerichten dieser Stadt verhandelt wurden. Zimmermann schildert zunächst knapp die Entwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen und die Praxis der strafrechtlichen Verfolgung der NS-Verbrechen im allgemeinen, einer komplizierten Materie, die erst von den Alliierten, später dann von bundesdeutschen Seite bestimmten wurde. Im zweiten Teil wendet er sich den Düsseldorfer Spruchgerichten zu, die in der britischen Besatzungszone die Entnazifizierung durchführen sollten. Das Ergebnis ist ernüchternd. Von zehn vorgestellten ehemaligen lokalen NS-Größen mußte nicht ein einziger länger in Haft. Herausragend ist dabei der Fall des ehemaligen Gauleiters der Stadt Karl Florian, der trotz seines stadtbekannt brutalen Auftretens und Handelns de facto mit wenigen Monaten Haft davonkam. Florian blieb bis zu seinem Tod 1975 Bürger der Stadt und versuchte - ein eingeschworener Nationalsozialist bis zum Schluß - die Justiz seinerseits einzuspannen, indem er kritische Historiker verklagte und zumindest einen zur Änderung seiner Darstellung zwang. Wenig besser sah es bei den von Zimmermann untersuchten „Vollstreckern“ aus, kleinen Funktionären also, die die jüdischen Bürger etwa während der „Reichskistallnacht“ terrorisierten oder wie die in Düsseldorf berüchtigte „Heerestreife Kaiser“ in den letzten Kriegstagen brutal mordeten.

Gestützt auf „Persilscheine“, günstige Zeugenaussagen und faustdicke Lügen fanden sie alle gnädige Richter, die wenig für die ihnen von den Alliierten übertragene Aufgabe übrig hatten. Einige der beteiligten Juristen fühlten sich dabei den Angeklagten offenbar auch persönlich verbunden, wie etwa jener Staatsanwalt, der Gauleiter Florian versicherte, er sei für ihn „als Idealist ein Ehrenmann“ (S. 125). Immerhin waren, wie sich aus den vom Autor genannten Zahlen errechnen läßt, 1948 rund drei Viertel aller Justizjuristen des Oberlandesgerichtsbezirks Düsseldorf ehemalige Parteigenossen, so daß der Verdacht mangelnder Distanz zu den Angeklagten kaum von der Hand zu weisen ist (S. 34). Wie Zimmermann jedoch herausarbeitet, spielten auch die grundsätzlichen Vorbehalte gegen die von den Alliierten eingeführte Tatbestände der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie der Organisationsverbrechen eine große Rolle, deren Anwendung die Gerichte nach Möglichkeit umgingen. Es fragt sich allerdings, ob sich hinter diesen rechtsstaatlichen Bedenken nicht auch das generelle Unbehagen gegen diese Prozesse verbarg, ein Gedanke, den der ehemalige Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg Adalbert Rückerl schon vor zwanzig Jahren äußerte.1

Ähnlich unerfreulich wie die Urteile der Spruchgerichte lesen sich die Urteilsbegründung regulärer bundesdeutscher Gerichte, deren Arbeit Zimmermann im dritten Teil seiner Studie untersucht. Dabei konzentriert er sich auf die großen, spektakulären Verfahren, wie etwa jenes gegen den ehemaligen Kommandeur der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, Franz Stangl, das mit Stangls Verurteilung zu lebenslanger Haft endete. Daß das Gericht den Österreicher als Mörder ansah und entprechend bestrafte, anstatt ihn wie weithin üblich nur wegen „Beihilfe zum Mord“ zu verurteilen, war jedoch eine seltene Ausnahme. Denn auch am Beispiel Düsseldorf zeigt sich, wie ungeeignet das bundesdeutsche Strafrecht zur Ahndung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen eigentlich ist - zumindest in der seit den fünfziger Jahren vorangetriebenen restriktiven Auslegung. Dies geht unter anderem auf das Konto der „Beihilferechtsprechung“, deren verheerende Folgen in der Forschung nun klar herausgearbeitet wurden.2 Sie legte es den Gerichten nahe, selbst in eigenhändigen Mördern nur - geringer zu bestrafende - „Beihelfer“ zu sehen, eine Rechtsfigur, die sich beispielsweise im Majdanek-Urteil niederschlug.

Wie Zimmermann versöhnliches Fazit lautet, waren es vor allem diese unzureichenden justitiellen Werkzeuge, die - neben den zunehmenden Beweisschwierigkeiten - den Gerichten die Aburteilung der NS - Täter erschwerten und die Verfahren in die Länge zogen. Dieser zutreffende Befund sollte jedoch nicht zur generellen Entschuldigung der Gerichte überstrapaziert werden, denn das hieße, deren Ermessensspielräume zu negieren, die auch der Autor als erheblich einschätzt. Auch unter den Zwängen der höchstrichterlichen Rechtsprechung bleiben einige der präsentierten Düsseldorfer Verfahren Sammelsurien seelischer Grausamkeiten gegenüber den oft als Zeugen auftretenden Überlebenden. Zudem zeigten die Richter, so Zimmermanns Beobachtung, durch die Jahre hinweg eine fatale Neigung, mildernde Umstände stärker zu berücksichtigen als belastende (S. 201). Wenngleich auf wesentlich besserer Beweisbasis geführt, so demonstrierte der zeitgleich mit dem Majdanek äußerst zügig durchgeführte Lischka-Prozeß im benachbarten Köln (1979/80), daß es durchaus auch anders ging.

Indem er diese juristischen Probleme der NS-Prozesse aufzeigt, macht der Autor die oftmals als skandalös empfundenen Entscheidungen der Richter aber verständlicher. Die Justiz erweist sich dabei als Spiegel einer Gesellschaft, die sich über Jahrzehnte nicht zu einer konsequenten Ahndung der NS-Verbrechen durchringen konnte. Es handelt sich bei den NS-Prozessen also nicht um einen Vorgang, der sich im unpolitischen Raum nach abstrakten Regeln abspielte. Vielmehr wird an den Fallbeispielen sehr deutlich, wie sehr die Richter bei den Urteilsfindungen auf das gesellschaftlich vorherrschende exkulpierende Bild vom Nationalsozialismus und seinen Verbrechen rekurrierten: Auch im Gerichtssaal wurde die „eigentliche“ Verantwortung für die Verbrechen fast immer Hitler, Heydrich und Himmler zugewiesen. Als in den siebziger Jahren dann von den Gerichten doch entschiedenes Durchgreifen verlangt wurde, war dies nicht mehr ohne weiteres möglich. Die Beweisschwierigkeiten der Verfahren waren ins Enorme gewachsen, Zeugen und Beschuldigten starben weg, vor allem aber hatte die Rechtsprechung ein Schuldmodell zementiert, das eine adäquate und konsequente Ahndung nahezu unmöglich machte.
Gesamtgesellschaftlich gesehen war die Entwicklung also paradox: Während die Rechtsprechung die Möglichkeiten der justitiellen Ahndung von NS-Verbrechen (trotz Aufhebung der Verjährung) weiterhin erschwerte, wurde die Öffentlichkeit diesbezüglich immer sensibler. Angesichts dieser sich hier öffnenden Schere zwischen Rechtsempfinden und Rechtsprechung kam es auch in Düsseldorf seit den siebziger Jahren zu heftigen Protesten gegen einige NS-Urteile, etwa wenn Einsatzgruppenangehörige nur wegen Beihilfe zum Mord belangt wurden, obwohl der Prozeß gezeigt hatte, daß diese hundertfach die Erschießung wehrlose Menschen angeordnet und beaufsichtigt hatten.

Es zählt zu den großen Pluspunkten von Zimmermanns Untersuchung, daß er diesen Widerspruch klar herausarbeitet. Möglich wird dies durch die konsequente Berücksichtigung von Pressereaktionen, Leserbriefen und Zuschriften an die Gerichte, von denen sich ausgewählte wie auch andere Dokumente im Anhang wiederfinden. Das und die wenn auch meist knapp gehaltenen Rekonstruktionen der jeweiligen Hintergründe der Prozesse ermöglichen es auch dem nicht auf solche Fragen spezialisiertem Leser, sich selbst ein Bild zu machen von diesem wichtigen Teil der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Die komplexe Wechselwirkung von gesellschaftlicher „Vergangenheitsbewältigung“, gesteuerter „Vergangenheitspolitik“ und der justitiellen Ahndung der Verbrechen selbst wird die Forschung wohl noch eine Weile beschäftigen, doch ist mit Zimmermanns Studie mit Sicherheit ein Schritt in die richtige Richtung getan, zumal sich die Aussagekraft dieser Lokalstudie nicht auf die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt beschränkt. Zwar waren die Prozesse nicht allerorts so spektakulär wie in Düsseldorf, aber die Malaise war offenbar überall in Westdeutschland ähnlich.

Anmerkungen:
1 Adalbert Rückerl: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945 - 1978. Eine Dokumentation. Heidelberg/Karlsruhe 1979, S. 109 siehe dazu auch Norbert Frei: Die Rückkehr des Rechts. Justiz und Zeitgeschichte nach dem Holocaust. Eine Zwischenbilanz, in: Arnd Bauernkämper/Martin Sabrow/Bernd Stöver (Hg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990. Bonn 1998, S. 417 - 431 (S. 427).
2 Barbara Just-Dahlmann/ Helmut Just: Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945. Frankfurt a. M. 1988; jetzt auch Michal Greve: Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren. Frankfurt a.M. 2001.

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