K. Hagemann u.a. (Hrsg.): Civil Society and Gender Justice

Titel
Civil Society and Gender Justice. Historical and Comparative Perspectives


Herausgeber
Hagemann, Karen; Sonya Michel, Gunilla Budde
Reihe
European Civil Society
Erschienen
New York 2008: Berghahn Books
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
$70.65
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Anke Berger, Bielefeld

Sicher, die Frage: „Who needs civil society?“, ließe sich noch einmal stellen und nicht notwendigerweise müsste die Antwort so positiv ausfallen wie die von Anne Phillips nach ihrer kritischen Erörterung vor zehn Jahren, oder wie sie mancher Beitrag dieses Sammelbandes nahe legt.1 Doch das Ziel der Veröffentlichung, eine aus Geschlechterperspektive kritische Überprüfung des ubiquitären Begriffs Zivilgesellschaft und darauf aufbauend die Formulierung von Neukonzeptionen, die gender als Kategorie systematischer berücksichtigen (S. 2), diesem Anliegen sind die Autorinnen und Autoren differenziert und erfolgreich nachgekommen. Die Aufsatzsammlung geht auf eine bereits im Sommer 2004 am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung veranstaltete Tagung zurück und trägt den inzwischen vielfach formulierten „Paradoxien“ des Modells Rechnung: So kann Zivilgesellschaft wahlweise als politische Utopie, analytisches Instrumentarium, spezifischer Raum von Gesellschaft oder als historische soziale Praktiken gefasst werden. Ebenso wird die Gleichzeitigkeit von In- und Exklusionsprozessen oder die Konzeptualisierung von Gewalt in Zivilgesellschaften thematisiert.2 Zudem wird in einigen Beiträgen auch auf den Prüfstand gestellt, inwieweit Zivilgesellschaft eine dezidiert westliche Denkfigur und auf andere historische Kontexte übertragbar sei. Die thematische Gliederung des Bandes spiegelt sowohl zentrale Untersuchungsfelder von Zivilgesellschaftsforschung wider – Übergänge von vormodernen Gesellschaften zur Moderne, (nicht-)bürgerliches Protestverhalten, Verhältnis Zivilgesellschaft und (postsowjetischer) Staat – als auch bislang zu weiten Teilen vernachlässigte Bereiche wie die Konstellation Familie und Zivilgesellschaft.

Im Eingangskapitel zeigt Karen Hagemann zunächst die inhärent männliche Codierung klassischer Theorien und gängiger Definitionen zur Zivilgesellschaft, indem sie etwa auf das männlich gedachte Individuum bei Kant und Hegel oder auf die seit je her aus feministischer Sicht problematische Dichotomisierung eines Öffentlich–Privat rekurriert, wie sie unter anderem im breit rezipierten Öffentlichkeitsbegriff von Jürgen Habermas zu finden sei. Mit ihrer luziden Kritik sowie ihrem Plädoyer für ein aktionszentriertes analytisches Modell von Zivilgesellschaft nimmt sie viele der theoretischen Anregungen der nachfolgenden Beiträge bereits vorweg und gibt zudem einen Überblick über die bis dato wichtigsten Entwicklungen und Bereiche der Forschungen zur Zivilgesellschaft. Regina Wecker analysiert den vielschichtigen Begriff Geschlechtergerechtigkeit (gender justice) und untersucht verschiedene Vorstellungen von Gleichheit in Konzepten von Zivilgesellschaft. Am Themenkomplex Erwerbsarbeit zeichnet sie viel diskutierte Dilemmata feministischer Theorien nach (Joan Scott: Gleichheit/Differenz; Nancy Fraser: Anerkennung/Umverteilung) und plädiert für die Aufhebung binärer Denkmuster.

Im zweiten Teilabschnitt - Early Civil Societies In Theory And Practice - stehen in den Beiträgen von Gisela Mettele, Jane Rendall und Karen Offen zum einen die Handlungsräume, die sich bestimmte Gruppen von Frauen in Deutschland, Frankreich und Schottland in den Entstehungsprozessen von Zivilgesellschaft diskursiv und mittels sozialer Praktiken aneignen konnten im Zentrum. Zum anderen wird auf den Anteil verwiesen, den die Akteurinnen damit an der Konzeptualisierung und Entwicklung von Zivilgesellschaft selbst gehabt hätten.

Schließt die überwiegende Mehrzahl der Definitionen von Zivilgesellschaft Familie als integralen Bestandteil aus, so stellt für Gunilla Budde die bürgerliche Familie im Wilhelminischen Deutschen Kaiserreich eine „Kerninstitution“ einer auf der Logik sozialer Interaktionen begründeten Zivilgesellschaft dar, wie sie anhand informeller Nachbarschaftsnetzwerke zu Fragen von Kindererziehung und -pflege, Ratgeberliteratur oder Leserinnenbriefe in Familienmagazinen verdeutlicht. Margrit Pernaus Beitrag über das Verhältnis von muslimischer Mittelschicht, Familie und dem Kolonialstaat in Indien während des 19. und 20. Jahrhunderts gehört sicherlich zu den interessantesten Texten des Tagungsbandes, in dem die Übertragung des Modells Zivilgesellschaft auf nichtwestliche Gesellschaften ohne viel Aufhebens gelingt. Auch Pernau betont mit Blick auf die in ihrem Fallbeispiel (allein geographisch) erheblich weiter gefassten Familienbeziehungen die Obsoletheit der Unterscheidung öffentlich-privat und arbeitet überzeugend die Bedeutung des Differenzmerkmals Alter in den geschlechterhomogenen Aktionsradien muslimischer Gesellschaft heraus. Paul A. Ginsborg beendet diese dritte Sektion mit einem kreativ inszenierten Text, in dem er ausdrücklich bezweifelt, dass sich „die Familie“ als Kerninstitution von Zivilgesellschaft eigne. Seine Kategorisierung von (der Zivilgesellschaft) zu- bzw. abgewandten Familientypen (closed/open archetypes of families, S. 155f.) erschließt sich zwar nicht unmittelbar. Doch indem Ginsborg, um nur dies zu nennen, etwa die von Jean Cohen und Andrew Arato vertretene These der Familie als „freiwilliger Vereinigung par excellence“3 (S. 154) zu recht in Frage stellt – im Text wird auf Kinder rekurriert, die sich ihre Familienangehörigkeit in der Regel nicht aussuchen könnten, es ließe sich aber auch an Zwangsheiraten, ökonomische Zweckgemeinschaften oder gewaltsam aufrechterhaltene Konstellationen denken – verweist er auf die Dominanz des bürgerlichen, heterosexuellen Entwurfs von Familie und einmal mehr auf die Notwendigkeit der sorgfältigen Historisierung und Dekonstruktion.

Manfred Gailus und Sonya O. Rose überprüfen im vierten Abschnitt des Bandes – Civil Society, Gendered Protest, And Nongovernmental Movements – konkrete historische Protestereignisse in Deutschland und England auf ihre etwaigen geschlechterspezifischen Widerstandsformen bzw. den ihnen zugrunde liegenden Männlichkeitsentwürfen. Belinda Davis fokussiert auf die Kreation einer „freien und pluralistischen Gemeinschaft von Kommunikationen“ (S. 208) als maßgebliches Kriterium von Zivilgesellschaft. Vor diesem Hintergrund interpretiert sie feministische und alternative Politikformen im Westdeutschland der 1970er-Jahre als erfolgreiche Strategien, neue Themen effektvoll auf die politische Agenda zu setzen, größtmögliche Partizipationsoptionen zu schaffen sowie über andere Austragungsorte von politischer Kommunikation zu verhandeln. Kristen R. Ghodsees übt schließlich scharfe Kritik an einem „essentialist feminism“ (S. 225) westlicher Prägung, welcher in postsozialistische Gesellschaften importiert worden sei, um die Etablierung von Zivilgesellschaft zu unterstützen. Besondern den „professional feminists“ (S. 225) in Verbänden und Organisationen, flankiert durch europäische und internationale Gleichstellungsprogramme, wirft sie vor, lokal existierende Formen nichtbürgerlicher Feminismen, die stärker auf Klassenunterschiede hin ausgerichtet gewesen seien, verdrängt zu haben.

Das letzte Kapitel des Bandes hat das Verhältnis von Zivilgesellschaft, Staat und Staatsbürgerschaft zum Inhalt. Marilyn Lake hebt in ihrem Beitrag anhand des transnationalen Diskurses der „white men’s countries“, wie er in Australien und anderen Ländern an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geführt wurde, auf die Strukturkategorie race ab und sieht die Abgrenzung zum „Nichteuropäischen“ in den Entwurf von Zivilgesellschaft eingeschrieben. Während für Sonya Michel die Etablierung des amerikanischen Wohlfahrtsstaates zu Anfang des 19. Jahrhundert mit der gleichzeitigen Beschränkung zivilgesellschaftlicher Teilhabe von (bürgerlichen, weißen) Frauen in Fürsorgevereinigungen einhergeht, konzeptualisiert Birgit Sauer die Beziehung Zivilgesellschaft-Staat dagegen völlig anders. Sie warnt vor der Annahme, dass Zivilgesellschaft per se frauenfreundlicher als ein ihr gegenübergestellter, männlich dominierter Staat sei. Unter Bezug auf den aktuellen Abbau des Wohlfahrtstaates zeigt sie am Beispiel häuslicher Kranken- und Altenpflege die Wiederherstellung oder Verhärtung von geschlechterhierarchischer Arbeitsteilung – da der nichtstaatliche und freiwillige Rahmen keineswegs verhindere, dass die dort erbrachten, un- oder schlecht bezahlten Aufgaben hauptsächlich von Frauen geleistet werden. Sauer versteht Zivilgesellschaft vielmehr als integralen Bestandteil von Staat.

In summa steht am Ende zwar manches nebeneinander: Zivilgesellschaft begründet auf agency oder gezeichnet als ‚Zwischenraum‘ von Gesellschaft und Staat; differenzierte, wie auch etwas „altbacken“ anmutende gendertheoretische Perspektiven. Vielleicht ist es aber nicht nur die empirisch facettenreiche, sondern gerade auch diese widersprüchliche, mehrstimmige Anlage des Sammelbandes, die Civil Society and Gender Justice unbenommen zu einer empfehlenswerten Lektüre macht.

Anmerkungen:
1 Anne Phillip, Who needs Civil Society? A Feminist Perspective, in: Dissent 46,1 (1999), S. 56-61.
2 Dieter Gosewinkel / Dieter Rucht, Histoy Meets Sociology. Zivilgesellschaft als Prozess, in: Dieter Gosewinkel / Jürgen Kocka (Hrsg.), Zivilgesellschaft national und transnational, Berlin 2003, S. 29-60; Frank Trentmann (Hrsg.), Paradoxes of Civil Society. New Perspectives on Modern German and British History, 2. Aufl. New York 2003; Antonio Gramsci, Prison Notebooks, New York 1991; Arnd Bauerkämper / Dieter Gosewinkel / Sven Reichardt, Paradox oder Perversion? Zum historischen Verhältnis von Zivilgesellschaft und Gewalt, in: Mittelweg 36,15 (2006), S. 22-32.
3 John L. Cohen / Andrew Arato, Civil Society and Political Theory, Cambridge 1992.