S. Glienke: Die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" (1959-1962)

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Titel
Die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" (1959-1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen


Autor(en)
Glienke, Stephan A.
Reihe
Nomos Universitätsschriften – Geschichte, Band 20
Erschienen
Baden-Baden 2008: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
349 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die zeitgeschichtliche Forschung ist sich weitgehend einig, dass die Liberalisierung, Verwestlichung und Modernisierung der Bundesrepublik bereits ein gutes Jahrzehnt im Gange war, als die „1968er“ zu ihrem Marsch durch die Institutionen aufbrachen. Auch wird heute kaum noch bezweifelt, dass dem Generationenkonflikt um die „unbewältigte Vergangenheit“ eine längere Inkubationsphase zu Grunde lag. Waren die Aufbaujahre noch von einem allgemeinen Einverständnis mit Adenauers Politik des Vergessens und Vergebens geprägt – der Hamburger Zeithistoriker Axel Schildt hat in diesem Zusammenhang von einem „schamlosen Jahrfünft“ gesprochen1 –, wurde der Integrationskonsens in der zweiten Jahrzehnthälfte zunehmend in Frage gestellt. Es war von kaum zu unterschätzender Bedeutung für die weitere gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik, dass sich zivilgesellschaftliches Engagement überwiegend in der Auseinandersetzung mit Themen herausbildete, die im weitesten Sinne zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus gehörten: Neben Warnungen vor dem Weiterwirken antidemokratischer, militaristischer und antisemitischer Grundhaltungen zählten die Elitenkontinuität und die weitgehend unbestraft gebliebenen NS-Verbrechen zu den Hauptthemen des bürgerschaftlichen Protests gegen die politische Kultur der Bonner Republik.

Mit seiner Arbeit zur Geschichte der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ hat der Historiker Stephan Alexander Glienke ein bedeutsames Kapitel dieser vergangenheitspolitischen Protestbewegung erstmals genauer ausgeleuchtet. Gegenstand seiner Untersuchung ist ein Ereignis, das in mehrfacher Hinsicht eine Wende im Umgang mit der NS-Vergangenheit markiert: Sensibilisiert durch eine Aktion des Ost-Berliner Ausschusses für Deutsche Einheit hatte eine Gruppe um den West-Berliner Studenten Reinhard Strecker Anfang 1959 eine Petition an den Bundestag vorbereitet, mit der man auf das Problem weiterwirkender nationalsozialistischer Juristen und Ärzte aufmerksam machen wollte. Das Rektorat der Freien Universität Berlin, das bis dahin das Recht des Konvents auf politische Meinungsäußerung nicht in Frage gestellt hatte, drang jedoch in letzter Minute auf eine Änderung der Tagesordnung und löste damit eine Kettenreaktion aus. Denn nun setzte nicht nur eine Solidarisierungswelle mehrerer Asten und Hochschulverbände ein, sondern es sollte über das Thema der „unbewältigten Justizvergangenheit“ auch zu einer Kraftprobe zwischen dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und Mutterpartei kommen. Die Protestaktion des SDS heizte den bereits schwelenden Konflikt weiter an und führte schließlich zum Ausschluss des Studentenverbandes.

Sowohl die erste, Ende 1959 in Karlsruhe gezeigte Ausstellung als auch alle weiteren Ausstellungen im In- und Ausland fanden dementsprechend ohne Unterstützung der SPD statt, die sich ausdrücklich von dem Projekt distanzierte. Auch in den westdeutschen Medien überwog zunächst die Ablehnung. Dies änderte sich allerdings, als die ARD wenige Wochen nach der Ausstellungseröffnung ein Interview mit Generalbundesanwalt Max Güde ausstrahlte, in dem er die Authentizität der gezeigten NS-Urteile – sie stammten überwiegend aus Ost-Berliner Archiven – bestätigte. Einerseits erfuhren Strecker und seine Mitstreiter dadurch auf einen Schlag eine kaum zu antizipierende Publizität. Andererseits lieferte ihnen Güdes Kritik an den NS-Richtern ein Argument an die Hand, mit dem sie nunmehr auch juristisch gegen belastete Justizbeamte vorgehen konnten.

Dies ist in Grundzügen die Ausgangslage, deren Verästelungen der Autor in sieben Hauptabschnitten folgt. Neben der Planung und Durchführung des Ausstellungsprojekts widmet er sich den Unterstützernetzwerken im In- und Ausland, der Problematik einer strafrechtlichen Ahndung von NS-Todesurteilen, der Bedeutung des deutsch-deutschen Systemkonflikts sowie den medialen Repräsentationen von NS-Justizunrecht in der späten Adenauer-Ära. Den größten Erkenntnisgewinn bietet das vierte Kapitel, das die Reaktionen in den Niederlanden und Großbritannien behandelt. Glienke kann deutlich machen, dass gerade Streckers Verbindungen zu britischen Kontaktpersonen, darunter auch die prominente Labour-Abgeordnete Barbara Castle, eine Lebensader für das gesamte Unternehmen darstellten. Ohne den Rückhalt britischer Sympathisanten, so ist zu vermuten, hätte die Ausstellung kaum den Druck entfalten können, der nötig war, um die Bundesregierung zu marginalen Zugeständnissen in der NS-Richterfrage zu bewegen. Aufschlussreich sind auch die Befunde zu den Wechselwirkungen zwischen innerdeutschen Abwehrmaßnahmen und den Wahrnehmungen ausländischer Medienvertreter. Indem der West-Berliner Senat erfolglos versuchte, die Präsentation der Ausstellung zu unterbinden – dank des Einsatzes des wissenschaftlichen Kuratoriums „Ungesühnte Nazijustiz“ stellte schließlich der Galerist Rudolf Springer seine Räumlichkeiten unentgeltlich zur Verfügung –, sorgte er dafür, die Aufmerksamkeit der internationalen Presse auf dieses Thema zu lenken.

Glienkes Untersuchung zeichnet sich durch eine intensive Quellen- und Literaturkenntnis und ein breites Spektrum an verschiedenen Perspektiven aus. Der Anspruch, sämtliche Aspekte des Themas durchdringen zu wollen, hat jedoch den Nachteil häufiger Wiederholungen und Redundanzen. Auch entgeht der Autor nicht immer der Gefahr, in der Fülle von Informationen den roten Faden zu verlieren. Dies macht sich vor allem im Schlussteil bemerkbar. So vermisst man hier nicht nur eine Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsergebnisse, sondern auch eine klare Bewertung. Angesichts der Tatsache, dass sämtliche Strafanzeigen im Sande verliefen und auch die politische Lösung der NS-Richterfrage scheiterte, wäre es erforderlich gewesen, die Folgewirkungen des Unternehmens kritisch in den Blick zu nehmen. Lässt sich wirklich von einem Erfolg der Zivilgesellschaft sprechen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass noch weitere zwanzig Jahre vergingen, ehe Bundesjustizminister Hans Engelhard (FDP) Ende der achtziger Jahre die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ in einer eigenen Ausstellung zur NS-Justiz würdigte? Trotz dieser Mängel bleibt es aber Glienkes Verdienst, der erste Forscher zu sein, der ein zentrales, lange vernachlässigtes Kapitel der bundesdeutschen Justizgeschichte in dieser gründlichen Form behandelt hat.

Anmerkung:
1 Axel Schildt, Immer mit der Zeit: Der Weg der Wochenzeitung DIE ZEIT durch die Bonner Republik – eine Skizze, in: Ders. / Christian Haase (Hrsg.), „Die Zeit“ und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008, S. 9-27, S. 20; vgl. die Rezension von Andreas Wirsching, in: H-Soz-u-Kult, 11.03.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-204>.

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