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Titel
Luthertum, humanistische Bildung und württembergischer Territorialstaat. Die Gelehrtenfamilie Bidembach vom 16. bis zum 18. Jahrhundert


Autor(en)
Kümmerle, Julian
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, 170
Erschienen
Stuttgart 2008: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
XLIV, 388 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Langensteiner, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Zu den Kardinalproblemen der Geschichtswissenschaft zählt die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Nach jahrelanger Vernachlässigung personalisierender Ansätze stieg in jüngerer Zeit das Interesse am historischen Individuum, seinen Handlungsräumen und Dispositionen wieder an. Verbunden war dies mit einer Renaissance der Biographie als seriöser und gewinnbringender Form wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. In diesen Kontext ist auch die hier zu besprechende Tübinger Dissertation von Julian Kümmerle einzuordnen, bei der es sich nicht um eine Einzelbiographie handelt, sondern die vielmehr den Weg der württembergischen Gelehrtenfamilie Bidembach über drei Jahrhunderte hinweg verfolgt und auf diese Weise ein umfassendes Familienporträt zeichnet.

Im Wissen um die Vorbehalte, die der Gattung „Biographie“ immer wieder entgegengebracht wurden, legitimiert Kümmerle in seiner Einleitung die von ihm gewählte Methodik, indem er darauf verweist, dass es mitnichten darum gehen könne, isolierte Einzelschicksale nachzuzeichnen, sondern dass das Leben des Einzelnen vielmehr von der Einbindung in das gesellschaftliche Gesamtgefüge her betrachtet und gedeutet werden müsse. Im vorliegenden Fall handle es sich bei diesem übergeordneten Kontext um das Konzept der Gelehrtenfamilie, einem „intra- und intergenerationellen Bewusstsein“ (S. 11), das sich in verschiedenen Lebensbereichen manifestierte. Im Rahmen dieses Ansatzes fragt der Autor in einem ersten Schritt danach, inwieweit familiäre Prägungen individuelles Handeln zu erklären vermögen, um anschließend den hermeneutischen Bogen zur Wechselwirkung von Gesellschaft, Politik und Konfession zu spannen, die unter anderem durch die Darstellung sozialer Aufstiegsvorgänge mittels der Nutzung sozialer Netzwerke untersucht werden soll. Auf diese Weise hofft Kümmerle, der bislang vorherrschenden Geringschätzung der Leistungen frühneuzeitlicher protestantischer Gelehrtenfamilien entgegentreten zu können und die Dichotomie „von erforschungswürdigen Spitzen-Bereichen und Spitzen-Gestalten der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur und der kaum lohnenden Beschäftigung mit der Breite der wissenschaftlichen und geistigen Epigonen“ (S. 14) zu überwinden.

Der Aufbau der Arbeit folgt einer Zweiteilung. Im ersten Teil entwirft Kümmerle ein Sozial- und Bildungsprofil der Familie Bidembach, im zweiten, umfangreicheren Teil werden dann „Profilierungsebenen und Etablierungsräume“ (S. 111) der Familie Bidembach untersucht. Vorteil dieser Vorgehensweise ist es, somit zunächst einen straffen Überblick über Herkunft, Laufbahnen und Heiratsverbindungen der Familie gewinnen zu können, von dem aus sich die nachfolgende Analyse der einzelnen Profilierungsebenen plausibel und transparent gestaltet. Freilich gerät der erste Teil dadurch an den Rand der vom Autor in der Einleitung ausdrücklich abgelehnten „genealogischen Kumulation rekonstruierter Verwandtschaftsbeziehungen und deren positivistischer Präsentation“ (S. 17). Kümmerle umschifft diese Klippe jedoch, indem er sich nicht darauf beschränkt, Karriere und Lebensweg der einzelnen Familienmitglieder kurz zu skizzieren, sondern gezielt die Strategien vorstellt, mittels derer es den Bidembachs gelang, sich in der bürgerlichen Führungsschicht des Herzogtum Württemberg zu etablieren. Neben dem Studium an der Landesuniversität Tübingen und der Übernahme hoher Ämter im Kirchen- und später Verwaltungsdienst ist hier unter anderem das Eingehen vorteilhafter Heiratsverbindungen mit anderen führenden Familien des Herzogtums zu nennen. So ehelichten zwei männliche Mitglieder der Familie, Eberhard und Felix der Ältere, Frauen aus der Familie Brenz und schufen auf diese Weise eine Beziehung zum württembergischen Reformator Johannes Brenz, die sich auch in der sozialen Stellung und geistigen Haltung niederschlug. So folgte etwa Balthasar Bidembach Brenz nicht nur im Amt des Stuttgarter Stiftspropsts nach, sondern rezipierte und unterstützte ebenso wie seine Brüder die Theologie des Reformators. Nach der 1654 erfolgten Nobilitierung der Familie behielt das Konnubium seine konstitutive Bedeutung für die Wahrung der Stellung des Familienverbandes bei, gleichzeitig entstanden aber neue Leitkategorien der Familiengeschichte. So standen nun neue, dem niederen Adel vorbehaltene Laufbahnen in Militär und Staatsdienst zur Verfügung, die von den Familienmitgliedern auch zielstrebig eingeschlagen wurden, sei es als Reichshofrat, württembergischer Geheimer Rat oder Obrist in der württembergischen Armee. Gleichzeitig bemühte man sich um eine Adaption adeliger Lebensweisen, unter anderem durch den Erwerb von Rittergütern und mehr noch durch das stete Beharren auf ererbten Privilegien, auch gegenüber dem Herzog (S. 63f.).

Um zu generalisierenden Aussagen zu gelangen, vergleicht Kümmerle in der Folge seine für die Familie Bidembach ermittelten Befunde mit zwei weiteren protestantischen Württemberger Gelehrtenfamilien, den Andreaes und Osianders. Diese starteten mit ähnlichen Ausgangsbedingungen im 16. Jahrhundert ihren Aufstieg im Gefüge des württembergischen Staats, weisen aber dennoch Unterschiede in den eingeschlagenen Berufsfeldern wie auch in der Konstituierung von Eigen- und Fremdwahrnehmung auf. So diente im Fall der Familie Andreae insbesondere die Erinnerung an den berühmten Stammvater der Familie, den Tübinger Theologieprofessor und Universitätskanzler Jakob Andreae, dazu, das eigene Selbstverständnis als Gelehrtenfamilie in jeder Generation neu zu generieren und auch nach außen zu vermitteln (S. 88f.). Diese Hervorhebung diente auch dem Erhalt und dem Ausbau der familiären Netzwerke und Patronagesysteme, die für alle drei Familien von erheblicher Bedeutung für die Wahrung ihrer herausgehobenen Stellung innerhalb des württembergischen Staatsverbandes waren.

Abgerundet wird der erste Teil der Arbeit durch einen Überblick über verschiedene Professorenfamilien im Reich. Das hieraus abgeleitete Ergebnis, dass es Usus gewesen sei, wichtige Ämter und Posten möglichst innerhalb der Familie zu halten, ist bereits hinlänglich bekannt, dient Kümmerle jedoch dazu, die Familie Bidembach, die eben keine klassische Professorendynastie gewesen sei, als von der Norm divergierende Gelehrtenfamilie einzuordnen. Diese Abweichungen zu erklären und zu kategorisieren, ist Aufgabe des zweiten Teils, der den größeren Part innerhalb der Arbeit einnimmt. Dort wird ein umfassendes Panorama der Profilierungsebenen und Etablierungsräume entworfen, in denen sich die Mitglieder der Familie Bidembach bewegten.

Einen Schwerpunkt bildet hierbei das Kapitel „Konfessionskultur und humanistische Bildung“ (S. 144-222). Anhand der exemplarischen Analyse ausgewählter Schriften von Familienmitgliedern weist der Autor überzeugend nach, dass die Bidembachs einen wesentlichen Beitrag zur Genese einer Erinnerungskultur ihrer Förderer, wie etwa Johannes Brenz, leisteten. Gleichzeitig dienten diese gelehrten Werke – egal ob Leichenpredigt oder Fürstenbiographie – dazu, Auskunft über die Individualität und persönliche Lebenssituation des Verfassers zu geben und letztlich auch eine „Reflexion über die eigene Epoche“ (S. 166) zu bieten. In einem zweiten interpretatorischen Schritt ordnet Kümmerle diese Werke in einen bildungs- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang ein, das heißt er beschränkt sich nicht auf eine bloße Beschreibung des Inhalts, sondern legt dar, wie mittels dieser Schriften humanistisches Gedankengut für konfessionelle Zwecke funktionalisiert wurde, sei es zur Untermauerung der wissenschaftlichen Vorrangstellung der Theologie oder zur Legitimierung und Etablierung von Landeskirche und frühmoderner Staatlichkeit.

Auch im weiteren Verlauf werden anhand von Fallbeispielen aus der Familiengeschichte immer wieder Konturen und Kennzeichen des frühmodernen württembergischen Territorialstaats herausgearbeitet. Am Konflikt zwischen Felix Bidembach und dem ehemaligen herzoglichen Favoriten Matthäus Enzlin wird gezeigt, welch erhebliche Bedeutung familiären Netzwerken und Patronagegemeinschaften im Gefüge des Staats zukam und welche Schärfe Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Klientelsystemen erhalten konnten. Dass die Bidembachs zur Zeit Herzog Friedrichs I. auch vor einer Konfrontation mit dem Landesherrn nicht zurückschreckten, ist ein weiteres Zeichen für die maßgebliche Stellung, die sie innerhalb der bürgerlichen Elite des Herzogtums einnahmen.

Der Übergang von der Theologen- zur Juristenfamilie schuf im 17. Jahrhundert schließlich die Grundlage für den Aufstieg der Bidembachs in den niederen Adel. Am Beispiel Georg Wilhelms, Geheimer Rat in Diensten des Herzogs, umreißt Kümmerle Aufgaben und Kompetenzen eines Beamtentypus neuzeitlicher Prägung, der neben juristischer Gutachter- und Beratertätigkeit die Interessen seines Dienstherrn auf zahlreichen Gesandtenkongressen sowie Deputations- und Reichstagen vertrat. Dieser Aufstieg von der theologischen Gelehrten- zur niederadligen Beamtenfamilie spiegelt die soziale Mobilität und die Aufstiegschancen, die der Fürstenstaat des 17. Jahrhunderts einer juristisch gebildeten Funktionselite bot. Anpassungsfähige Familien wie die Bidembachs konnten somit vom sozialen Wandel dieser Zeit in beträchtlichem Maße profitieren.

Die aufgeführten Beispiele konnten nur in Ansätzen die vielschichtige, kenntnisreiche und auf breiter Quellengrundlage beruhende Darstellung Julian Kümmerles nachzeichnen, dem es ohne Zweifel gelungen ist, eine wegweisende familienbiographische Studie vorzulegen. Zwar konzediert der Autor selbst, dass „historiographische Fokussierungen des Gewichtens, Selektierens, Pointierens und bisweilen auch Kontrastierens“ (S. 364) unausweichlich waren und demzufolge einzelne Familienmitglieder abseits blieben. Dennoch bietet seine Arbeit aufgrund ihres inhaltlichen und gedanklichen Reichtums viele wertvolle Erkenntnisse nicht nur zur Geschichte der Bidembachs, sondern ebenso zur Konfessions-, Bildungs-, Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Zuletzt soll an dieser Stelle auch einmal der Preis lobend erwähnt werden, der mit 34 Euro für ein wissenschaftliches Werk dieser Güte und dieses Umfangs erfreulich niedrig gehalten ist und hoffen lässt, dass die vorliegende Studie nicht nur in den einschlägigen Bibliotheken, sondern auch in dem einen oder anderen privaten Bücherregal ihren verdienten Platz finden wird.

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