Lichter, Joerg: Preussische Notenbankpolitik

Titel
Preussische Notenbankpolitik in der Formationsphase des Zentralbanksystems 1844 bis 1857.


Autor(en)
Lichter, Jörg
Reihe
Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 55
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 245 S.
Preis
DM 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. sc. Reinhold Zilch

Die Geschichte des deutschen Notenbankwesens im "langen" 19. Jahrhundert gehoert zu den wenig bearbeiteten Gebieten der Finanzgeschichtsschreibung. Selbst die Reichsbank und ihre preussischen Vorgaengerinstitutionen sind relativ schlecht erforscht. Bis heute basieren die meisten Arbeiten fast ausschliesslich auf den Festschriften sowie weiteren gedruckten Quellen und Sekundaerliteratur, da die Reichsbank und der preussische Staat ihre Archive selbst fuer die Fruehzeit weitgehend verschlossen hielten und das Archiv der deutschen Zentralnotenbank, in das wenigstens teilweise die Akten ihrer Vorgaenger eingingen, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis auf fuer den interessierenden Zeitraum nicht relevante Teilbestaende als Kriegsverlust gilt. Joerg Lichter hat nun in der hier vorzustellenden Monographie, die auf seiner Koelner Habil-Schrift von 1996 beruht, sehr erfolgreich den Versuch unternommen, fuer ein zentrales, der Neubearbeitung harrendes Problem die unguenstige Ueberlieferungslage durch eine systematische Auswertung korrespondierender, vor allem staatlicher Akten sowie von Nachlaessen einiger der Hauptakteure zu ueberbruecken. Hinzu kommt ein beeindruckendes Literaturverzeichnis (S. 232-245), das vor allem auch die hohen Quellenwert besitzende zeitgenoessische Publizistik beruecksichtigt. Bis dato wurde der Forschungsstand vor allem durch die unter teilweiser Benutzung nicht mehr erhaltener Originalakten und im offizioesen Auftrag 1878/79 veroeffentlichten dreibaendigen Monographie "Bankwesen und Bankpolitik in Preussen. Nach amtlichen Quellen bearbeitet" aus der Feder von Heinrich von Poschinger bestimmt.
Lichter stellt sich die Aufgabe, die Formationsphase des staatlichen Zentralbanksystems in Preussen von 1844 bis 1857 zu analysieren, wobei Anfang und Ende des Untersuchungszeitraumes durch die konjunkturelle Entwicklung in Preussen bzw. Deutschland mit jeweiligen Wirtschaftskrisen, die auch den Bank- und Kreditsektor erfassten, bestimmt werden. Der Verfasser fragt nun erstens nach moeglichen funktionsfaehigen Alternativen zum dann tatsaechlich etablierten System und danach, welche Ueberlegungen von den Zeitgenossen tatsaechlich angeboten wurden. Zweitens versucht Lichter, die Motive und Interessenlagen der Akteure aufzudecken. Drittens schliesslich geht es um die Frage, ob die Preussische Bank den an sie gestellten Anforderungen gerecht wurde und wie sie sich im Wirtschaftsleben sowie als politischer Faktor in der sich entwickelnden konstitutionellen Monarchie verhielt.

Ausgangspunkt der Untersuchung ist "die Krise des Bankensektors im Vormaerz" (1. Kap., S. 4-29). Lichter beschreibt hier das Zusammenspiel von industrieller Revolution, Eisenbahnbau und Boersenkrise und setzt diese dominanten wirtschaftshistorischen Entwicklungen in Verbindung mit Zahlungsmittelstruktur, Umfang und Leistungsfaehigkeit der Geschaeftsbanken sowie mit der Rolle der Koeniglichen Bank als Zentralbank. Das so entworfene Panorama einer von einer Krise auch im finanziellen Sektor gezeichneten Volkswirtschaft dient Lichter als Basis, um im 2. Kapitel (S. 30-95) die wichtigsten, von den Zeitgenossen entwickelten Reformprojekte zu analysieren und damit im Zusammenhang sowohl die oeffentliche als auch die regierungsinterne Diskussion um die preussische Notenbankpolitik darzustellen. Dabei versteht es der Autor, Vergleiche mit englischen, schottischen sowie franzoesischen Debatten bzw. Prozessen zu ziehen. Es wird detailliert der Weg zur preussischen Kabinetts-Ordre vom 11. April 1846 nachgezeichnet, die die "Geburtsurkunde" der durch Umwandlung der Koeniglichen Hauptbank geschaffenen Preussischen Bank darstellt.

Zum 1. Januar 1847 nahm die neue Zentralbank ihre Taetigkeit auf, die im 3. Kapitel (S. 96-153) bis in die Revolutionsjahre 1848/49 verfolgt wird. Das Kapital wurde sowohl vom Staat mit ca. 1,2 Mio Tlr. als auch von privater Seite mit 10 Mio Tlr. aufgebracht, wobei sowohl Preussen als auch Nicht-Preussen zugelassen waren. Letztere besassen aber ueber die statuarisch festgelegten Vertretungsorgane - aehnlich denen fuer Aktionaere bei einer Aktiengesellschaft - keinen Einfluss auf die Geschaeftsfuehrung, und auch der der Inlaender war nur begrenzt. Lichter schildert gut nachvollziehbar die Entwicklung der Zentralbank im Zusammenhang mit den politischen Umwaelzungen. Augenfaellig war der Wechsel in der Leitung der Bank. Bis zur Revolution wurde deren Entwicklung entscheidend durch Christian (v.) Rother gepraegt, der die Zentralfigur in der preussischen Bank- und Finanzpolitik der Vormaerzzeit darstellt. (1) Er war seit 1820 nicht nur Praesident der Hauptverwaltung der Staatsschulden und Chef der "Seehandlung" genannten Staatsbank, sondern besass ab 1835 als Chef der Verwaltung des Handels-, Fabriken- und Bauwesens Sitz und Stimme im Staatsministerium. Im Folgejahr kam dann seine Ernennung zum Staatsminister, und ab 1837 wirkte er auch als Praesident der Hauptbank bzw. dann der Preussischen Bank. In dieser Funktion wurde v. Rother erst 1848 von dem rheinischen Liberalen, Grosskaufmann und Industriellen David Hansemann abgeloest, der im Maerzministerium die Funktion des Finanzministers bis 21. September bekleidete und dann fuer drei Jahre die Preussische Bank uebernahm.

In jenen politisch so ereignisreichen Jahren entschied sich auch die Frage, ob der Preussischen Bank private Konkurrenz auf dem Gebiet der Papiergeldemission entstehen oder ob sie ein Monopol besitzen sollte. Damit verbunden war die Frage, inwieweit Preussen auf die Gruendung von Emissionsbanken in den kleineren Nachbarstaaten reagieren sollte, zumal verschiedene Bankprojekte ausdruecklich auf den preussischen Markt ausgerichtet waren. Lichter kann schluessig begruenden, dass mit den Normativbedingungen vom 15. September 1848 eine Vorentscheidung fuer ein staatliches Zettelbanksystem geschaffen wurde, nachdem die Errichtung von Darlehnskassen, die der Beseitigung der aktuellen Zahlungsmittelknappheit Anfang 1848 dienen sollten, bereits ein "Plaedoyer fuer eine staatliche Zahlungsmittelemission" (S. 134) darstellte.

Die "nachrevolutionaere preussische Notenbankpolitik" in Form der "Vollendung des staatlichen Zentralbanksystems", die im 4. Kapitel (S. 154-221) beschrieben wird, baute auf den Weichenstellungen unter Hansemann auf; Lichter vermeidet aber in seinen Ausfuehrungen simplifizierende Kausalketten von eindimensionalen, zwangslaeufigen Entwicklungen. Vielmehr versteht er es, die jeweiligen historischen Entscheidungssituationen dem Leser deutlich zu machen und dabei die konkreten wirtschafts- und finanzhistorischen Prozesse sowie die den Zeitgenossen bekannten wirtschaftstheoretischen Einsichten zugrunde zu legen. An erster Stelle stand die Gewaehrung des uneingeschraenkten Emissionsrechts fuer die Preussische Bank 1856, die gegen nicht unbedeutende Widerstaende im Abgeordnetenhaus durchgesetzt wurde. Dem folgte zweitens eine die privaten Notenbanken benachteiligende Politik. Drittens schliesslich kam ein Verbot auslaendischer Zahlungsmittel. Per Gesetz vom 14. Mai 1855 wurde zuerst der Umlauf all jener Scheine unter 10 Tlr. untersagt mit dem Argument, dass diese vor allem das Metallgeld und damit die existenzielle Grundlage der preussischen Silberwaehrung verdraengten und zudem am einfachsten zu faelschen waren. Dem schloss sich zwei Jahre spaeter dann das generelle Verbot allen auslaendischen Papiergeldes an, womit die Vorherrschaft der Preussischen Bank endgueltig abgesichert wurde.

Abschliessend untersucht Lichter im 5. Kapitel "die geldpolitischen Handlungsspielraeume der Preussischen Bank als Zentralbank" (S. 222-231) vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise von 1857, in der das Geldinstitut massiv kritisiert wurde. Lichter kann jedoch nachweisen, dass letztlich die "Etablierung des Zentralbanksystems in Preussen [...] keine 'neue' Geldpolitik" zur Folge hatte, sondern in den Vorstellungen der Banking-Theory verblieb. "So standen die Gewinnorientierung, die mit Maengeln behaftete theoretische Fundierung und die Staatsnaehe der effektiven Wahrnehmung der Zentralbankfunktion entgegen." (S. 230)

Bei all dem notwendigen Lob bleiben dem Rezensenten nur zwei abschliessende Anmerkungen: Erstens ist nicht verstaendlich, warum Lichter zwar im Geheimen Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz (Berlin-Dahlem) neben staatlichen Akten den Nachlass Hansemanns benutzt und auch zitiert, jedoch keinen Bezug auf die hier ebenfalls verwahrten Papiere Rothers nimmt, die immerhin einen Umfang von 3,2 lfd. haben.(2) Zweitens schliesslich kann man der Formulierung Lichters, dass "die Bankordnung [...] in ihrem formalen Aufbau [...] 1876 von der Reichsbank fast unveraendert uebernommen" (S. 100) wurde, in dieser Absolutheit nicht folgen, denn damit wird eine wesentliche Veraenderung in der staatsrechtlichen Stellung der Zentralnotenbank verwischt: Lichter beschreibt korrekt, dass gemaess § 48 der Bankordnung (3) "die Exekutive [...] in der Person des 'Chefs der Bank' vereinigt" war, der "vom preussischen Koenig ernannt wurde und diesem unmittelbar unterstellt war" (S. 100). Der wesentliche Unterschied zur Reichsbank bestand aber nun darin, dass lt. § 26 des Bankgesetzes von 1875 (4) "die dem Reich zustehende Leitung der Bank [...] vom Reichskanzler, und unter diesem von dem Reichsbank-Direktorium ausgeuebt" wird. Ergaenzend bestimmte § 25: "Die dem Reiche zustehende Aufsicht [...] wird von einem Bank-Kuratorium ausgeuebt, welches aus dem Reichskanzler als Vorsitzenden und vier Mitgliedern besteht. Eines dieser Mitglieder ernennt der Kaiser, die drei andren der Bundesrat." Damit waren die Beziehungen der Zentralnotenbank zum Monarchen auf eine gegenueber den Zeiten vor 1871 wesentlich veraenderte Basis gestellt entsprechend der neuen verfassungsrechtlichen Situation, was bei Lichter "untergeht".

Anmerkungen:
[1] Die biographischen Angaben zu Rother und Hansemann nach: Die Protokolle des Preussischen Staatsministeriums 1817-1934/38, Bd. 3: 9.6.1840-14.3.1848, bearb. v. Baerbel Holtz, Hildesheim, Zuerich, New York 2000, S. 469, 492f., 524.
[2] Vgl. Dietsch, Ute, Die Nachlaesse im Geheimen Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz. Probleme und Aufgaben, in: Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, hrsg. v. Juergen Klosterhuis, Berlin 1996, S. 210 (= Veroeffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz. Arbeitsberichte, Bd. 1).
[3] Vom 5.10.1846, GS., S. 435.
[4] Vom 14.3.1875, RGBl., S. 177.

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