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Titel
"Wieder wie 1914!". Heinrich Ströbel (1869-1944). Biografie eines vergessenen Sozialdemokraten


Autor(en)
Wieland, Lothar
Reihe
Geschichte & Frieden, Bd. 15
Erschienen
Bremen 2008: Donat Verlag
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 22,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Max Bloch, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg

Heinrich Ströbel zählt, wie der Untertitel von Lothar Wielands Biographie verdeutlicht, zu jenen „vergessenen Sozialdemokraten“, denen sich in jüngerer Zeit verstärkt der Blick der historischen Wissenschaft zuwendet. So ist gerade Ströbel – parallel zu Wieland und von diesem nicht berücksichtigt – vor kurzem erst ein längerer Aufsatz und mit Wielands Buch nun auch eine großangelegte Lebensbeschreibung gewidmet worden, die dem politischen Wirken und Scheitern eines pazifistischen Sozialisten nachspürt.1 Bereits die Gestaltung des Deckblatts weist auf die inhaltliche Stoßrichtung hin: im Zentrum das Konterfei Adolf Hitlers, umrahmt von Wilhelm II. und Paul von Hindenburg, unter ihnen eine Marschkolonne des Ersten Weltkriegs, die, versinnbildlicht durch die im Vordergrund arrangierte Gestalt eines gefallenen Soldaten, dem Tod entgegen zieht. Hier soll offenkundig einer Kontinuitätsthese gehuldigt werden, die – frei nach Fritz Fischer – von Deutschlands zweimaligem „Griff nach der Weltmacht“ ausgeht, in Kaiser und Generalfeldmarschall die Wegbereiter Hitlers und in den Gefallenen der beiden Weltkriege die Opfer mal der einen, mal der anderen Zwangsherrschaft erblickt. Aus dieser Zwangsläufigkeit – so lautet Wielands Grundthese – habe der linke Sozialdemokrat Heinrich Ströbel, in den 1920er-Jahren „der führende Kopf des pazifistischen Sozialismus“ (S. 25), einen Ausweg gewiesen, den Weg der konsequenten Demokratisierung im Innern und der schiedlich-friedlichen Verständigung nach außen, einen Weg, „der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht im ‚Dritten Reich’ geendet hätte“ (S. 13).

Ströbel, 1869 in Bad Nauheim geboren, schloss sich 1889 – kurz vor dem Ende des Sozialistengesetzes – der noch illegalen Sozialdemokratie an, die damals, anders als bei Wieland zu lesen steht, noch nicht „SPD“ hieß. Als Redakteur des Kasseler „Volksblatts“ lernte er den Parteiveteranen Wilhelm Pfannkuch kennen, dessen Tochter er heiratete und der seinen politischen Weg ebnete.2 Die nächsten Stationen seiner Karriere waren die Leitung der „Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung“ seit April 1893 und der Eintritt in die Redaktion des „Vorwärts“ im Jahr 1900, als dessen faktischer Leiter er spätestens seit dem Vorwärts-Konflikt von 1905, der Entlassung der sechs „revisionistischen“ Redakteure um Kurt Eisner und Georg Gradnauer, fungierte. Sein journalistischer Furor, der ihm zwischen 1893 und 1896 insgesamt sieben Haftstrafen einbrachte, fiel insbesondere in der linken Berliner Parteiorganisation auf fruchtbaren Boden. Und so zog er im Jahre 1908 als Abgeordneter in den Preußischen Landtag ein, den er – ebenso wie seine Fraktionskollegen Karl Liebknecht und Adolf Hoffmann – in erster Linie als Agitationsbühne verstand. In Wielands Buch ist ein Spottgedicht abgedruckt, das sich in seiner Stoßrichtung mit der Äußerung des rechten Sozialdemokraten Edmund Fischer deckt, der die Genossen Ströbel („der Demagoge“), Liebknecht („die Eitelkeit“) und Hoffmann („die Dummheit“) mit nicht eben schmeichelhaften Etiketten versah.3

Während Ströbels Entwicklung bis 1914 von Wieland recht kursorisch auf 26 Seiten abgehandelt wird, liegt der Schwerpunkt seines Buches klar auf dessen pazifistischem Engagement, das am 4. August 1914, einem „Schicksalstag“, begann. Die Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD-Reichstagsfraktion – daran lässt Wieland keinen Zweifel – sei eine eklatante „Fehlentscheidung“ gewesen (S. 21), zumal es „auf Seiten der Entente keinen Angriffswillen gab“ und die „aggressive Ausrichtung der deutschen Außenpolitik“ der SPD die Verweigerung der Kredite zur Pflicht gemacht hätte (S. 62f.). Für Ströbel bezeichnete jener 4. August einen Wendepunkt. Voll Abscheu gegenüber dem Krieg und der sozialdemokratischen Burgfriedenspolitik bemühte er sich um die Sammlung aller kriegskritischen Kräfte und formte den von ihm noch immer geleiteten „Vorwärts“ zur „Keimzelle des Widerstands“ (S. 72). Da der Parteivorstand es auf Dauer nicht tolerieren zu können meinte, dass ausgerechnet das Zentralorgan seine Politik systematisch konterkarierte, wurde die linke Redaktion um Ströbel im November 1916 schlicht und einfach für abgesetzt erklärt – gemessen am Vorwärts-Konflikt von 1905, ein Rückspiel mit verteilten Rollen, denn damals hatte Ströbel bei der Absetzung der „rechten“ Redaktionsmitglieder noch als Strippenzieher gewirkt. Nach der Spaltung der SPD im Frühjahr 1917 engagierte sich Ströbel in der neugegründeten USPD gegen die „Scheidemänner“ und „Kriegssozialisten“, für einen Frieden ohne Sieger und Besiegte auf der Basis des „status quo ante bellum“, eines, wie Wieland schreibt, „pazifistischen Friedens“ (S. 81). Nach Niederlage und Revolution wurde er am 11. November 1918 von der sozialistischen Koalitionsregierung aus Mehrheits- und Unabhängiger Sozialdemokratie neben Paul Hirsch zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Diese Zwangsehe endete bereits am 3. Januar 1919 mit dem Austritt der unabhängigen Volksbeauftragten aus der preußischen Regierung.

In der Folge radikalisierte sich die USPD zusehends. Eduard Bernstein und Karl Kautsky, die einstigen Widersacher in Sachen „Revisionismus“, hatten die Partei bereits verlassen, und auch Ströbel geriet mit seiner bolschewismuskritischen, pazifistischen und radikaldemokratischen Grundhaltung zwischen die Räder einer sich verhärtenden Parteidoktrin. 1920 wurde er aus der USPD ausgeschlossen und kehrte zur MSPD zurück. Das bedeutete jedoch nicht, dass er mit der Weimarer „Scheindemokratie“ seinen Frieden gemacht hätte. Im Gegenteil bestand er darauf, dass die bloß „formale“ Demokratie, in der die „alten Eliten“ nach wie vor tonangebend seien, zur „wirklichen“, das heißt „sozialen Demokratie“ auszugestalten sei. Ein wirklicher demokratischer Neubeginn setze aber die seelische Läuterung des deutschen Volkes durch das uneingeschränkte Bekenntnis der deutschen Kriegsschuld voraus – eine Forderung, die bis weit in die Parteien der Linken hinein alles andere als mehrheitsfähig war und für die er sich als Leitartikler der „Weltbühne“, engagiertes Mitglied der radikalpazifistischen Westdeutschen Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) und des linkssozialistischen Klassenkampf-Kreises vehement einsetzte.

Seit 1924 Mitglied des Reichstags, wandte er sich entschieden gegen die Bildung der Großen Koalition 1928, deren Finanz- und Wehrpolitik (Panzerkreuzer A) in ihm einen beherzten Kritiker fand. Dieser Linie blieb er auch nach dem Scheitern der Regierung treu. Als konsequenter Gegner der sozialdemokratischen Tolerierungspolitik gegenüber dem Kabinett Brüning votierte er am 20. März 1931 – unter Bruch der Fraktionsdisziplin – gemeinsam mit acht weiteren Fraktionskollegen gegen die Billigung des Wehretats, wurde auf dem Leipziger Parteitag zur Zielscheibe überschießender Kritik, verließ erneut die SPD und trat zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) über, die ihn – gemeinsam mit den sozialdemokratischen Renegaten Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld – in ihren Vorstand wählte. Hier wiederholte sich das alte Spiel: Ströbel wurde als Pazifist von der marxistischen Parteimehrheit angegriffen und erklärte bereits im Dezember 1931 seinen Parteiaustritt. Politisch heimatlos, begriff er sich von nun an als „ohnmächtigen Warner“ vor dem, was er als Katastrophe herannahen sah. Bereits 1932 emigrierte er in die Schweiz, wo er am 9. Januar 1944 in bedrängten Verhältnissen starb.

Lothar Wielands Biographie ist gut und anschaulich geschrieben, leuchtet den historischen Hintergrund hinreichend aus, kommt in ihren Wertungen aber über Ströbels eigene Deutungen nicht hinaus. Damit leistet sie, was Rüdiger Graf bereits einer früheren Veröffentlichung Wielands 4 attestiert hat, einer „fast hagiographischen Aufwertung Ströbels“ Vorschub 5 und überzeichnet seine Rolle als eine Art Anti-Hitler, der, wenn man seinen Konzepten nur gefolgt wäre, sowohl den Ersten als auch den Zweiten Weltkrieg verhindert und die UNO mehr oder weniger antizipiert hätte. Insbesondere in Ströbels Kritik an der Politik der SPD, die sich seit 1914 auf konsequent falschem Kurs befunden und nach 1918 durch ihr Bündnis mit Militär und Bürgertum eine durchgreifende Demokratisierung willentlich verhindert hätte, vermag Wieland vorbehaltlos einzustimmen. Das sind altbekannte Deutungsmuster, die durch Wiederholung aber nicht an Plausibilität gewinnen. Ströbels ethischer Rigorismus und utopischer Maximalismus vertrugen sich nicht mit den Zwängen einer parlamentarischen Demokratie und der Selbstwahrnehmung der SPD als eine nationale Reformpartei. Es wäre – wie Rüdiger Graf betont – sicherlich „falsch, Ströbel für einen Antirepublikaner zu halten“.6 Aber auch er zog, um auf eine Studie Riccardo Bavajs zu verweisen: „Von links gegen Weimar“.7

Anmerkungen:
1 Rüdiger Graf, Die Politik der reinen Vernunft – das Scheitern des linken Sozialdemokraten Heinrich Ströbel zwischen Utopie und Realpolitik, in: Andreas Wirsching / Jürgen Eder (Hrsg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008, S. 131-155.
2 Vgl. Gustav Noske, Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie, Offenbach-Main 1947, S. 30.
3 Edmund Fischer an Wolfgang Heine, 30. Juli 1908, in: Bundesarchiv, Nachlass Heine, Nr. 1, Bl. 26.
4 Lothar Wieland, Als Gegner des Militarismus in der praktischen Politik. Der Sozialdemokrat Heinrich Ströbel, in: Wolfram Wette (Hrsg.), Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871-1945, Berlin 2005, S. 255-274.
5 Graf, Politik, S. 133.
6 Graf, Politik, S. 146.
7 Riccardo Bavaj, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005.

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