A. Pichler u.a. (Hrsg), Kultur - Erbe - Stadt

Cover
Titel
Kultur - Erbe - Stadt. Stadtentwicklung und UNESCO-Mandat in post- und spätsozialistischen Städten


Herausgeber
Pichler, Adelheid; Gertraud Marinelli-König
Reihe
Gedächtnis - Erinnerung - Identität
Erschienen
Innsbruck 2008: StudienVerlag
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas R. Hofmann, Leipzig

Die sechzehn Beiträge des Bandes sind aus einer Wiener Konferenz der beiden an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Forschungsschwerpunkte „Orte des Gedächtnisses“ und „Postsozialismusforschung“ vom November 2005 hervorgegangen. Die meisten der behandelten Großstädte befinden sich in Ländern, die nach 1989 den Sturz eines sozialistischen Regimes und die Transformation ihres politischen und sozioökonomischen Systems durchliefen, also insofern als „postsozialistisch“ anzusprechen sind. Nicht so einfach verhält es sich mit dem Begriff der „spätsozialistischen“ Stadt, zu der offenbar Havanna und Peking gezählt werden sollen, die beide in dem Band thematisiert werden. Der Begriff suggeriert ein absehbares Ende des sozialistischen Gesellschaftssystems auch in Kuba und China. Die Herausgeberinnen verweisen darauf, dass das kubanische wie das chinesische Regime unter Beibehaltung der Einparteienherrschaft weitreichende Reformen durchgeführt haben, in deren Ergebnis die Konsumwirtschaft heute de facto privatkapitalistisch organisiert ist, ohne weitere Überlegungen über die Zukunft der Demokratisierung beider Länder anzustellen.

Leider wird in keinem der Beitragstexte erörtert, welche Konsequenzen diese Mischform aus radikaler Marktwirtschaft und autoritärem politischen System gerade auch auf städtischer Ebene zeitigt. Vielmehr verfestigt sich bei der Lektüre der Eindruck, dass sich die Probleme der großen Städte heute weltweit ähneln. Dies ist auch eine wesentliche Feststellung des Einleitungsbeitrags von Gregory Andrusz, der die Entstehung einer global vereinheitlichenden, auf den Konsumismus orientierten Welt der urbanen shopping malls als eine Folge des Niedergangs des Sozialismus beschreibt. Das Dilemma privatwirtschaftlicher Unternehmen und der Stadtverwaltungen bestehe heute darin, dieser vom ökonomischen Denken vorangetriebenen Unifizierung eine individualisierende Imagebildung der Städte entgegenzusetzen, die der Unternehmensansiedlung und dem Tourismus genügende Anreize geben könne. Die Städte bedienten sich dabei in der Regel des Rückgriffs auf vorsozialistische, nicht zuletzt religiöse Traditionen (Beispiel Moskau), und in den Malls bilde das (wiederum zur Vereinheitlichung neigende) „Event“ ein Surrogat für kulturelle Ereignisse eigenen Gewichts und lokaler Prägung.

„Erbe“ als das zentrale Untersuchungsparadigma des Bandes ist ein schillernder Begriff. Wie schwierig seine weltweite Anwendung unter dem UNESCO-Mandat in der Praxis ist, veranschaulicht Karin Czermak am Beispiel ihrer Studie zur historischen Altstadt Pekings. Denn während in den westlichen Ländern die architekturhistorische Authentizität anhand der materiellen Kontinuität der Bausubstanz beurteilt wird, geht es in China bei der Einordnung eines Baudenkmals vorrangig um seine philosophische, rituelle oder religiöse Tradition („intangible heritage“), der gegenüber seine Materialität von untergeordneter Bedeutung ist. In Peking wurde der Immobilienmarkt seit 1990 privatkapitalistisch umorganisiert. Die Bewohner der Pekinger Altstadt gerieten dadurch unter den Druck einer Gentrifizierung, der sich durch die Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele noch verstärkte (der Redaktionsschluss des Bandes war vor dem Sommer 2008). Karin Czermak erläutert, dass eine intransparente Stadtentwicklungspolitik die Bewohner vor vollendete Tatsachen stellt und ihnen nur eine kurze Frist zum Umzug in eines der Neubauviertel einräumt, während ihnen die Rückkehr in die sanierten Wohnungen durch explodierende Mietpreise meist verwehrt bleibt. Jedoch bedeute der Auszug aus dem traditionellen Wohnquartier (hutong) in der subjektiven Wahrnehmung seiner früheren Bewohner nicht immer nur eine Entwurzelung, sondern zugleich auch eine Verbesserung ihrer Wohn- und Lebensverhältnisse, die in der Altstadt auf einem vormodernen Standard stehengeblieben waren.

So heterogen die jeweilige lokale Problemlage der postsozialistischen Städte in Russland, Georgien, Rumänien, Bulgarien, Polen, Tschechien und Ostdeutschland, dem spätsozialistischen Havanna oder auch den altkapitalistischen Metropolen Wien und New York auf den ersten Blick erscheint, so gilt durchgängig, dass die verantwortlichen Planer ihre Geschichte als kulturelles Kapital entdeckt haben, das es gewinnmaximierend einzusetzen gilt. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in dem selektiven Umgang mit der Ortsgeschichte, die mit dem festen Blick auf eine bestimmte Klientel touristengerecht aufbereitet wird. Ein Beispiel hierfür ist die bezeichnenderweise unter der Ägide des Disney-Konzerns durchgeführte Umgestaltung des New Yorker Times Square, aus dessen Bewerbung alle wenig familientauglichen Hinweise auf seine Vergangenheit als Mittelpunkt der Halb- und Unterwelt getilgt wurden (Beitrag von Frank Roost). Mit dem Krakauer Stadtteil Kazimierz führt Anette Baldauf ein besonders skurriles Beispiel einer, wie sie es im Anschluss an Alison Landsberg nennt, „prosthetischen Erinnerung“ vor: Krakau erlebte nach dem Welterfolg von Steven Spielbergs Spielfilm „Schindlers Liste“ einen beispiellosen Touristenboom. Kazimierz als die historische Judenstadt war als Drehort anstelle des zerstörten Judenghettos der Besatzungszeit ausgewählt worden. Aus den Filmszenen, den gezielt in Kazimierz belassenen Versatzstücken der Filmsets, den Informationen zur tatsächlichen jüdischen Vergangenheit des Ortes vor 1939 sowie seiner touristischen Aufbereitung mit koscheren Restaurants und Klezmermusik entsteht ein collagiertes Geschichtsbild, indem die authentischen Orte mit den Erinnerungen an Filmszenen und zugeschriebenen Vergangenheiten ineinanderfließen. Ähnliches verzeichnet Georg Escher für die Prager Josephstadt, dem vormaligen Judenviertel, in dem aufgrund der um die vorletzte Jahrhundertwende stattgefundenen Assanierung nur noch wenige authentische Orte der jüdischen Vergangenheit verblieben sind. Die Funktion von Spielbergs Spielfilm übernimmt im Prager Fall die (deutschsprachige) Prager Literatur, welche auf dem Wege der Assoziation im touristischen Image auch die modernisierte Josephstadt als „Chronotopos“ des alten jüdischen Viertels weiterbestehen lässt. Und selbst bei der historischen Altstadt von Havanna, die aus Mangel an Mitteln nur sehr langsam und punktuell saniert wird, werden in der begleitenden Touristenwerbung unbequeme Elemente der Vergangenheit wie die Sklavenhaltung ausgeblendet und Havanna als weiße Kolonialstadt imaginiert (Beitrag von Adelheid Pichler).

In den postsozialistischen Städten des östlichen und südöstlichen Europa geht es nicht immer vorrangig um eine stadtmarketinggemäße Aufbereitung der Historie, sondern um den Anschluss an westliche infrastrukturelle Standards – oder was die Stadtväter dafür halten. Alexej Kometsch beklagt die kulturelle Selbstaufgabe der russischen Städte, in denen über Jahrhunderte eine dörfliche, flache Holzbauweise dominierte. Der Versuch, zur Urbanität westeuropäischen oder US-amerikanischen Musters aufzuschließen, lasse diesen historischen Charakter der russischen Städte in den Augen der neuen politischen Eliten Russlands rückständig und provinziell erscheinen – die Erhaltung des architekturhistorischen Erbes habe unter diesen Bedingungen keine Chance. Freilich stellt sich die Frage, ob Kometsch’ kulturkonservative Haltung nicht die Sehnsucht nach einem Stadtidyll zum Ausdruck bringt, das bereits in sowjetischer Zeit unwiederbringlich der Vergangenheit angehörte.

Gegen die alles überwältigenden ökonomischen Interessen scheint das international in der UNESCO-Weltkulturerbeliste institutionalisierte Bemühen um die Erhaltung historischer Altstädte und Baudenkmäler auf verlorenem Posten. Allenthalben mangelt es an den Finanzmitteln, vor allem aber auch am politischen Willen, eine denkmalschutzgerechte Stadtplanung in die lokalpolitische Agenda aufzunehmen. In Sofia beispielsweise werden denkmalgeschützte Gebäude gezielt dem Verfall preisgegeben, um Platz für Neubauten zu schaffen. Andererseits bemüht man sich dort um die Aufnahme der Altstadt in die UNESCO-Liste, weil man sich davon einen positiven Imageeffekt verspricht. Das Ergebnis ist eine halbherzige Form des Denkmalschutzes, bei der lediglich Spolien der Altbauten in die Fassaden der Neubauten integriert werden (gemeinsamer Beitrag von Marcella Stern, Ljubinka Stoilova und Petăr Iokimov).

Eine durchgängige Gemeinsamkeit der postsozialistischen Städte scheint zu sein, dass die baulichen Hinterlassenschaften des Sozialismus auf keinen Fall dem kulturellen Erbe zugerechnet, sondern eher nolens-volens in die aktuelle Planung einbezogen werden (siehe etwa den Beitrag von Anna Katharina Laggner und Timo Waltensdorfer zum Tifliser Platz der Republik). Eine mögliche Ausnahme ist Bukarest mit dem Boulevard „Sieg des Sozialismus“ und dem überdimensionierten „Palast des Volkes“, die als megalomane Projekte der Ceauşescu-Ära heute von der Bevölkerung der rumänischen Hauptstadt akzeptiert und Angel- und Drehpunkte der gegenwärtigen Stadtplanung sind, obwohl sie die historischen Stadtachsen zerstört haben (Beiträge von Hanna Derer und Ştefan Ghenciulescu). Andernorts überwiegt jedoch das Bestreben, durch den Abriss der sozialistischen Bauten und die Wiederherstellung eines vermeintlichen historischen Bauzustands gewissermaßen eine Korrektur der Geschichte vorzunehmen, wie Michael S. Falser in seiner Polemik zur „Simulation der ‚neuen (alten) Mitte‘“ an der Berliner Spreeinsel exemplifiziert.

Als Fazit des Bandes bleibt ein eher zwiespältiger Eindruck. Selbst bei dem einzigen hier thematisierten Beispiel eines gelungenen Projekts, bei dem eine denkmalschutzgerechte Sanierung mit einer den historischen Gebäudefunktionen entsprechenden Nutzung zusammenkam, nämlich der Alten Aula der ehemaligen Wiener Universität (Beitrag von Georg Traska), stimmt das Ergebnis pessimistisch, denn letztlich wurde das Gebäude doch nicht seiner ursprünglich geplanten wissenschaftlichen und edukativen Nutzung zugeführt. So scheitern auch in der ökonomisch privilegierten Situation westlicher Länder die Blütenträume von Stadtplanern und Denkmalschützern allzuoft an den harten finanziellen Realitäten. In der weniger privilegierten Situation des östlichen Europa und der außereuropäischen Entwicklungs- und Schwellenländer zählen Denkmalschutz und denkmalgerechte Stadtplanung vollends zu den Luxusproblemen. Die sozialen Kosten von Sanierungsprojekten, die solche Gesichtspunkte berücksichtigen und sich durch einen ökonomischen Mehrwert für die touristische Erschließung der Städte zugleich mittelfristig selbst tragen sollen, werden anhand der Beispiele von Peking, Havanna und Tiflis in dem Band nur angedeutet. Das ist die Richtung, in der die Diskussion noch deutlicher voranzutreiben wäre.

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