W. Sperling (Hrsg.): Jenseits der Zarenmacht

Cover
Titel
Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800-1917


Herausgeber
Sperling, Walter
Reihe
Historische Politikforschung 16
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
477 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Kusber, Historisches Seminar, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Zu besprechen ist ein Sammelband mit 14 Beiträgen und einer umfassenden Einleitung des Herausgebers, der − so Walter Sperling − „die Frage nach dem Verhältnis von Herrschaft und Bevölkerung aus kultur- und kommunikationsgeschichtlicher Perspektive neu“ (S. 9) stellt. Der Band ist im Rahmen des Bielefelder Sonderforschungsprojektes „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ entstanden. Sperling wendet sich dagegen, dass seiner Auffassung nach seit Generationen immer wieder die gleiche Geschichte von der Autokratie und der sich selbst befreienden Gesellschaft geschrieben wird, unabhängig davon, ob dabei Rückständigkeitsparadigmen oder die Suche nach der zivilen Gesellschaft leitend gewesen seien. Der Herausgeber möchte weg von solchen auf einen Vergleichspunkt bezogenen Ansätzen und geht dabei mit den Arbeiten mancher Historikerinnen und Historiker, die damit flugs zu Altvorderen werden, nicht gerade zurückhaltend ins Gericht. In vielem sind Sperlings historiographische Einordnungen im Lichte seiner Fragestellung jedoch erhellend: Uns eröffnet sich ein Panorama neuer Forschungsfragen.

Damit sind wir schon bei der Frage, was der Band Neues bringt. Zunächst einmal bietet er, sorgfältig erstellt, immer materialreiche, großteils archivalienbasierte und fast immer auch sehr gut lesbare Studien in vier Abteilungen: „Repräsentationen“, „Kommunikationsräume“, „Visionen und Grenzen einer neuen Gesellschaft“, schließlich die allfällige „Gewalt als politische Kommunikation“ interessieren die Russlandforschung zur Zeit an vielen Orten. Der Band ist denn auch nachgerade eine Leistungsschau dessen, was eine jüngere Generation von Russlandhistorikerinnen und -historikern derzeit beschäftigt. Fast alle Beiträge sind mehr oder weniger kulturgeschichtlich orientiert (Stefan Merls Beitrag ist wohl als einziger stark auch in der „klassischen“ Wirtschafts- und Sozialgeschichte geerdet) und alle durchschreiten in der Tat die „Dimensionen des Politischen im Russischen Reich“. Sie geben in der Gesamtschau einen ausgezeichneten Eindruck von der Vielfalt politischer Kommunikation in verschiedenen Regionen, Segmenten und Formen der Gesellschaft(en) des Zarenreiches und eröffnen weite Felder künftiger Forschung, auch für das 17. und 18. Jahrhundert (Angela Rustemeyer, Martina Winkler). Bieten sie aber auch ein Panorama „jenseits der Zarenmacht“?

Der Herausgeber Walter Sperling wendet sich in seiner Einleitung gegen das immer wieder explizite und implizite Narrativ von der starken Autokratie und der Gesellschaft, die sich zu ihr verhalten muss, als den Blickwinkel einengend. Dies ist einerseits richtig. Auf der anderen Seite suggeriert der Haupttitel, dass es Dimensionen des Politischen unter Ausblendung der Zarenmacht gab. Zwar gibt es Aufsätze, die eindrucksvoll zeigen, welche Politiken auf einer regionalen und lokalen Ebene interessierten, und unbedingt belegen, dass sich die Verfolgung solcher eben nicht immer auf das große Systemische bezog. Dies zeigt Kirsten Bönker mit ihrer Mikrostudie über die „Rechten“ in der Provinz ebenso wie Nigel Raab (über Feuerwehren und Fotografen), Alexander Kaplunovskiy (zu den Handelsgehilfen) und Sperling selbst, der die Politisierung lokaler Gesellschaften und Interessengruppen über die Frage des Eisenbahnanschlusses entwickelt. Nicht wenige Beiträge sind aber nicht jenseits der Zarenmacht zu verstehen. Malte Rolfs Beitrag über die Alexander-Nevskij-Kathedrale in Warschau, Angela Rustemeyers Beitrag über das zunehmend umstrittene Arkanum der Herrscher oder auch die Debatten in der Staatsduma über die Legitimität von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung (Lutz Häfner) machen die Zarenmacht präsent − freilich auch die unterschiedlichen Weisen, wie über sie und mit ihr kommuniziert wurde. Gleiches gilt auch für die Aufsätze von Anke Hilbrenner über den „linken“ Terrorismus und von Alexis Hofmeister über jüdische Erwartungshorizonte zwischen Pogrom und Politik oder schon gar für Vera Urbans luzide Analyse von Geschichtsnarrativen der konservativen Eliten nach 1860. Die Zarenmacht gerät hier unter veränderten Blickwinkeln gleichsam in den Mittelpunkt oder wird zum dezidierten Bezugsrahmen.

Diese Anmerkung soll nur noch einmal unterstreichen, dass Walter Sperling die Organisation und inhaltliche Konzeption eines unbedingt lesenswerten Bandes gelungen ist, gerade wenn man nicht jeder Interpretation folgen mag und nicht jeden neuen Zugang als so grundstürzend neu begreifen mag, wie Julia Herzberg am Beginn ihres gelungenen Beitrags über bäuerliche Autobiographik am Beginn des 20. Jahrhunderts ausführt. Dass sich je nachdem, wie man den Begriff des Politischen als kommunikative oder symbolische Handlung begreift, die Dimensionen weiten und vermehren, ist einerseits erwartbar und nicht schon an sich ein neues Ergebnis, wie der Klappentext des Bandes suggeriert. Das Politische nicht nur auf Haupt- und Staatsaktionen zu beziehen (wer täte das eigentlich noch?) und in eine kulturhistorische Rahmung zu setzen, weitet den Blick enorm und bricht tatsächlich bekannte Meistererzählungen auf. Sie sind damit als solche in ihrer Funktion nicht mehr mit Alleinvertretungsansprüchen ausgestattet; nach wie vor freilich behalten die Studien, die in der Einleitung vielleicht allzu kritisch gewürdigt werden, ihren Wert. Aber dass politische Aushandlungsprozesse auf lokaler und regionaler Ebene sowie von unterschiedlichen Gruppen und Akteuren offen gelegt und beschrieben werden, ist zweifellos ein Verdienst des Bandes insgesamt und seiner lesenswerten Studien im Detail.

Lutz Häfner spricht es in seinem Beitrag an (S. 433): Kann man, wie Jörg Baberowski vor einigen Jahren, in Anbetracht der reichhaltigen Befunde der verschiedenen Verfasser wirklich von dialogunfähigen Tauben in Bezug auf das Gegensatzpaar Autokratie und Gesellschaft sprechen? Sperlings in der Einleitung gestellte Fragen und die Antworten in den Beiträgen zeigen, dass politische Kommunikation allerorten stattfand – nicht immer, aber auch mit der Autokratie. So wird unser Bild vom Russländischen Imperium im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts nachhaltig differenziert.

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