Titel
Geschichte des Todes in der Neuzeit.


Autor(en)
Fischer, Norbert
Erschienen
Erfurt 2001: Sutton Verlag
Anzahl Seiten
126 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Barbara Leisner

Der Sozialhistoriker und Kulturwissenschaftler Norbert Fischer ist mit einer ganzen Reihe von Arbeiten über Friedhöfe, Bestattung und Tod an die Öffentlichkeit getreten und gilt als anerkannter Fachmann für diese Materie 1. Jetzt hat er eine neue Untersuchung zur Geschichte des Todes vorgelegt, in der er seine bisherigen Forschungsergebnisse zu einem schmalen aber inhaltsschweren Band zusammengefasst und mit neuen thematischen Schwerpunkten angereichert hat.

Es geht ihm dabei um den „in alten Friedhofsanlagen, Grabmälern und Sepulkralbauten ... materialisierten ... Ausdruck des Umgangs mit dem Tod“ mit dem Ziel die „strukturellen Entwicklungslinien im Umgang mit dem Tod in Deutschland seit dem Reformationszeitalter“ (7) herauszuarbeiten. Für den neugierigen Leser werden zusammen mit dieser thematischen Eingrenzung auch die Entwicklungslinien skizziert, die vom protestantischen Gottesacker zur gegenwärtigen Trauerkultur unserer postindustriell-mobilen Gesellschaft führen. Zugleich werden die modernsten Trends - anonyme Rasengräber und virtuelle Internet-Gedenkseiten – benannt. Denn Norbert Fischer versteht Geschichtswissenschaft nicht als ‚ l’art pour l‘art, sondern als Frage nach den Folgen, die bestimmte Ereignisse der Vergangenheit für die Gegenwart haben. So hält er schon an dieser Stelle nicht mit seiner persönlichen Meinung hinter dem Berg, wenn er formuliert: „Vielleicht entwickelt sich in den neuen Ausdrucksformen auch ein soziales und humanes Kapital, das sich als widerständig erweist gegenüber der manchmal zynischen Brutalität rein rationalistischen Denkens. Jedenfalls sind inzwischen bedeutende Bausteine einer neuen Kultur im Umgang mit dem Tod gesetzt worden.“ (S. 10)

Das so vorgegebene Gerüst wird in den folgenden fünf Kapiteln mit einer Vielzahl von Beispielen und Beziehungslinien umgeben. Schon vorab sei gesagt, dass Norbert Fischer dabei seine Zielsetzung trotz des geringen Raumes, der ihm zur Verfügung steht, virtuos verwirklicht.

Dem Text liegt über weite Strecken ein chronologisches Muster zugrunde, wobei plakative Kapitelüberschriften für sich sprechen: Von der „Verlagerung der Toten“ geht es über die Zeit „Zwischen Vernunftdenken und emotionalem Pathos“ zur „Industrialisierung des Todes“, um im 20. Jahrhundert den Bogen von „Kriegstod, Massenvernichtung und kollektivem Totengedenken“ bis zu den zeitgenössischen „Anonymen Urnenhainen und virtuellen Erinnerungsorten“ zu schlagen. Die einzelnen Kapitel sind allerdings unterschiedlich gewichtet. Der Schwerpunkt liegt auf dem gut erforschten 19. Jahrhundert, dessen Untersuchung sich mit zwei Kapiteln deutlich von dem kurzen Teil über die Zeit von der Reformation bis zur Aufklärung abhebt und auch von den beiden etwas längeren Texten zum 20. Jahrhundert nicht eingeholt wird. Insgesamt bildet die chronologische Abfolge allerdings nur das Grundgerüst. Darauf aufbauend bewegt sich Norbert Fischer vorwärts und rückwärts in der Zeit und nimmt einzelne Stränge seiner Darstellung immer wieder von Neuem auf, um an ihnen Veränderungen und Traditionslinien im Umgang mit den Verstorbenen darzustellen.

Einen Hauptstrang bildet der Blick auf die Begräbnisorte. Der Autor lenkt die Aufmerksamkeit auf die frühe - und meist wenig beachtete – Verlagerungswelle der Friedhöfe, die in Folge der Reformation einsetzte, als die Begräbnisse erstmals aus den Kirchen und Kirchhöfen, den „polyfunktionalen“ Orten des Alltagslebens, auf neuangelegte „Gottesäcker“ vor die Tore der Städte verwiesen wurden. Er zeigt, wie die Toten zwei Jahrhunderte später im Gefolge der Aufklärung zum hygienischen Problem wurden. Damit wurden ihre Begräbnisplätze wiederum weiter hinausgeschoben. Anschließend thematisiert er ihre erneute Entfernung aus dem Weichbild der wachsenden Großstädte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das Bürgertum in den jetzt naturnah und ästhetisch gestalteten Parkfriedhöfen Orte der Ruhe, der persönlichen Erinnerung, des Gedenkens an berühmte Vorfahren und der Möglichkeit zu ausufernder Selbstdarstellung fand.

Als Reaktion werden die Reformfriedhöfe des beginnenden 20. Jahrhunderts vorgestellt und erstmals in engen Zusammenhang mit den neuen Soldatenfriedhöfen des 1. Weltkrieges gebracht, als der technisch-industrielle „Fortschritt“ zur massenhaften Tötung des Kriegsgegners führte. Der Gedanke der größeren und umfassenden Gemeinschaft, der auf den Kriegerehrenanlagen mit dem Pathos des Opfers für Volk und Vaterland überhöht wurde, hielt mit den Reformfriedhöfen auch im allgemeinen Friedhofswesen seinen Einzug. Daraus folgte eine gewisse Aufhebung der Individualität im Tode - die Grabsteine der Reformfriedhöfe wurden durch strenge Richtlinien genormt und diese Normung findet sich noch heute auf den meisten deutschen Begräbnisstätten.

Parallel thematisiert Norbert Fischer die Einführung der Feuerbestattung, die mit dem Bau der ersten Krematorien im späten 19. Jahrhundert eine neuerliche Zäsur im Umgang mit dem Tod brachte: Im Zeitalter der Industrialisierung wurde der Tod technisiert. Dass dieser technische 'Fortschritt' höchst zwiespältig war, zeigte sich Jahrzehnte später unter den Bedingungen der Diktatur in den Krematorien der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. „Die nationalsozialistische Diktatur führte das ambivalente Potenzial der Moderne in seiner inhumansten Form vor. [...] Die Weiterentwicklung der Verbrennungstechnologie ermöglichte es den Nationalsozialisten, die Spuren ihrer millionenfachen Verbrechen systematisch zu beseitigen.“ (S. 78)

Im Schlusskapitel ist dann ausführlich von den neuen Erscheinungen am Ende des 20. Jahrhunderts die Rede, die sich im namenlosen Rasengrab und wortreichen Erinnerungsseiten im „weltweiten Netz“ polarisieren, aber zugleich von vielen anderen Phänomenen – neuen Trauerzeremonien, Hospiz- und Palliativmedizin, Trauerbegleitung seien stellvertretend genannt - begleitet werden. Nicht zu Unrecht interpretiert der Autor diese Phänomene als einen Aufbruch aus dem von Bürokratie, Expertentum und Technik geprägten Umgang mit den Toten in Richtung auf einen neuen und humaneren Umgang mit dem Tod.

Dem hier skizzierten Hauptstrang werden viele Nebenlinien beigegeben, für die neueste Untersuchungen aus Geschichte, Soziologie, Sozialgeschichte, Volkskunde und verwandten Bereichen ebenso herangezogen werden wie Beispiele aus Literatur und Kunst. Damit wird die Hauptthese einer langsamen Technisierung und Bürokratisierung des Todes unterstützt und zugleich auch der Aufstieg des bürgerlichen Individuums und der Weg zu einer immer privateren Erinnerungs- und Trauerkultur nachgezeichnet. So wird in einem breitgefächerten Überblick die Spannung zwischen dem neuen Vernunftdenken der Aufklärer und dem emotionalen Pathos der bürgerlichen Gesellschaft herausgearbeitet; wird „die Befreiung des neuen bürgerlichen Individuums aus den engen christlichen Glaubenswelten“ (S. 27) anhand der Selbstmordwelle, die Goethes Werther auslöste, thematisiert und auf die ausufernde Furcht vor dem Scheintod am Beginn des 19. Jahrhunderts eingegangen, aus der sich neue behördliche Vorschriften ergaben, mit denen der Ablauf von Bestattungen neu geregelt wurde und die zur Einrichtung von Leichenhäusern führten, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Immer wieder leuchtet dabei eine feine Ironie auf, die das Lesen trotz des ernsten Themas zu einem leisen Vergnügen werden lässt, zum Beispiel, wenn für die Zeit der Aufklärung der tote Körper als Objekt erhöhter wissenschaftlicher Neugier thematisiert und damit die Mehrdeutigkeit der bürgerlichen Moderne vor Augen geführt wird. Dieser Hinweis wird fast ein wenig niederträchtig mit einer literarischen Quelle abgerundet – mit Stevensons „Body snatcher“. Parallel dazu wird dann noch von der neuartigen Effizienz gesprochen, die mit der Einführung der Guillotine in den Strafvollzug einzog, wodurch – jedenfalls für die Zeitgenossen – Todesstrafe und Hinrichtung humanisiert und demokratisiert wurden. Es führt zu weit auf die vielen Bereiche der Kultur des Todes, die der Autor in seine Untersuchung hineingewoben hat, einzeln einzugehen, doch sei hier noch einmal auf das vielschichtige Spektrum verwiesen, in dem zeremonielle Abläufe, literarische und bildliche Quellen, Realien und politische Strömungen ebenso ihren Platz haben wie historische Abläufe.

So hat Norbert Fischer mit diesem Buch einen breitgefächerten Überblick über die Entwicklung der sepulkralen Kultur vorgelegt, und eigentlich möchte man sich nur wünschen, dass dieser Überblick zur Grundlage jener noch umfangreicheren der Geschichte des Todes im deutschsprachigen Raum werden möge, die immer noch aussteht. Denn während für den französischen Sprachraum mit der Geschichte des Todes von Philippe Ariès seit Jahrzehnten ein umfassende und faktenreiche Interpretation der sepulkralen Hinterlassenschaften existiert, ist ein solches Werk hierzulande noch ein Desiderat. Diese Lücke zu füllen und über die Interpretationen von Ariès hinaus zu führen, kann man dem Autor nach dieser „Vorarbeit“ getrost zutrauen,.

Anmerkung:
1 Norbert Fischer: Zur Geschichte der Trauerkultur in der Neuzeit. Kulturhistorische Skizzen zur Individualisierung, Säkularisierung und Technisierung des Totengedenkens. In: Markwart Herzog (Hrsg.), Totengedenken und Trauerkultur. Geschichte und Zukunft des Umgangs mit Verstorbenen. Stuttgart/Berlin/Köln (Kohlhammer) 2001, S.41-58; Norbert Fischer: Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 1996 (Online Version: http://www.sub.uni-hamburg.de/disse/37/ihnhalt.html)

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension