M. Koenig u.a. (Hrsg.): Religionskontroversen

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Titel
Religionskontroversen in Frankreich und Deutschland.


Herausgeber
Koenig, Matthias; Willaime, Jean-Paul
Erschienen
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Hüttermann, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Universität Bielefeld

Im ausgehenden 19. Jahrhundert legitimiert sich die Soziologie als eigenständige Wissenschaft, indem sie sich zwei exklusive Eigenschaften zuspricht: Zum einen eine ihr ureigene Forschungsperspektive und zum anderen abgrenzbare Forschungsgegenstände. Tatsächlich entsteht nicht nur eine Soziologie, sondern es blühen gleich mehrere soziologische Forschungsperspektiven und Gegenstandsentwürfe; mithin verschiedene Soziologien, die zum Teil bis heute miteinander konkurrieren. Auch die klassischen Religionssoziologien bestimmen je eigene Perspektiven und Erkenntnisgegenstände, um sich als Subdisziplinen der Soziologie neben anderen Subdisziplinen behaupten zu können. Während Durkheim die Religion durch die Brille der Integrationsfrage als efferveszente Vergesellschaftung betrachtet, ist sie bei Weber der Ausdruck des psychologisch-anthropologischen Bedürfnisses nach Sinnerfüllung bzw. Angstbewältigung, dessen in Handlungen umgesetzte Nebenfolgen unter anderem den modernen Kapitalismus hervorbringen. Und so wie jede Blickrichtung der Soziologie einen blinden Fleck impliziert, so erkaufen sich auch die konkurrierenden religionssoziologischen Blickrichtungen ihre Scharfsichtigkeit auf einem Terrain durch Kurzsichtigkeit auf einem anderen Gebiet.

Matthias Koenig und Jean-Paul Willaime haben dies erkannt. Sie wollen die Not der religionssoziologischen Perspektiven in eine epistemologische Tugend einer reformierten Religionssoziologie verwandeln, indem sie noch einmal zu den Anfängen zurückgehen. Mit der Rekonstruktion des religionssoziologischen Aufbruchs sollen national geprägte Erkenntnisblockaden aufgearbeitet werden. Zu diesem Zweck haben die Herausgeber vor allem deutsche und französische Religionssoziologen zusammengerufen, um einander die dunklen Flecken und Gegenstandsverkürzungen auszuleuchten. Sie präsentieren Ergebnisse, die auf eine deutsch-französische Forschungskooperation zurückgehen.

Die Beiträge des Sammelbandes sind um zwei zentrale Befunde dieses Projekts arrangiert:
1. Die klassischen Religionssoziologien Frankreichs und Deutschlands haben zum Ende des 19. Jahrhunderts national geprägte „Begriffsapparate und Theorietraditionen“ entwickelt, die bei allem fachwissenschaftlichen Eigensinn von nationalen (Kultur-)Konflikten um die Bestimmung der Grenze zwischen Staat und Kirche geprägt worden sind.
2. Wollte man auf der Grundlage der alten national gerahmten Theoriearchitekturen die aktuellen Religionskontroversen in Europa analysieren, so erwiesen sich die alten, national geprägten Instrumente als Erkenntnisblockaden.

Die Plausibilisierung der zentralen Befunde erfolgt unter Rekurs auf ein ambitioniertes Vergleichsdesign. Auf dessen Grundlage bündeln die Herausgeber wissenssoziologische, soziologie- und politikgeschichtliche sowie religionspädagogische Forschungsperspektiven. Vor allem setzen sie sehr viele Erkenntnisgegenstände miteinander in eine Beziehung. So tragen die Beiträge Informationen über 1. Religion, 2. Politik, 3. Gesellschaft, 4. religionssoziologische Ideenevolution und 5. die Interaktion dieser Untersuchungsfelder zusammen. Angesichts des binationalen Vergleichsdesigns verdoppeln sich die zuerst genannten Vergleichsgegenstände, um angesichts der zeitlichen Rahmung (Vergleich der letzten beiden Jahrhundertwenden) auf insgesamt zwanzig anzuwachsen.

Um den Leser die kognitive Integration so vieler Vergleichsgegenstände in ein argumentatives Ganzes zu erleichtern, das die zwei genannten Grundbefunde bestätigt, skizzieren die Herausgeber in ihrem Einleitungsaufsatz die logische Anordnung der elf Einzelbeiträge. Wohl angesichts der Komplexität der Untersuchungsfelder werden die deutschen und französischen Beiträger/innen in zwei Abteilungen gegliedert. Die Beiträger der ersten Abteilung konzentrieren sich vor allem auf die ersten zehn Vergleichsgegenstände, um die pfadabhängige Ideenevolution der klassischen Religionssoziologien an der Schwelle zum 20. Jahrhundert bzw. die Wechselwirkungen zwischen Staatsbildung (bzw. Staatsreform) und klassischer Religionssoziologie auszuloten. Die Autoren der zweiten Abteilung fokussieren auf die übrigen Vergleichsgegenstände. Sie betrachten aktuelle, mit Religion verbundene Probleme, um die Erkenntnisblockaden der klassischen Religionssoziologie gegenstandsnah aufzuzeigen und zum Teil auch Wege ihrer Überwindung zu skizzieren. Ein Fazit fehlt.

Einleitung und Aufbau dieses Buches machen deutlich, dass es sich bei ihm nicht um einen Sammelband handelt, der – wie leider allzu oft der Fall – bloß durch Tagungsevent und Buchdeckel zusammengehalten wird. Vielmehr legen Koenig und Willaime mit ihm ein – wenn auch fragiles – Ganzes vor, dessen Teilbeiträge mitunter aufeinander verweisen. Das Buch ist in verschiedene Richtungen anschlussfähig. So können Leser/innen es als eine auf historische und aktuelle soziale Konflikte bezogene, lebendige Einführung in Ursprung und Nachhall der klassischen Religionssoziologie oder als Beitrag zur modernen Religionsgeschichte nutzen. Politisch-praktisch interessierte Rezipienten erhalten durch dieses Werk wiederum eine Gelegenheit, die in nationalkulturelle Selbstverständlichkeiten eingegossenen Politikmodelle bzw. politisch-religiösen Grenzregime mit den Augen des europäischen Nachbarn zu sehen.

Der Einleitungsaufsatz trägt schwer an der Last, die jeweils eigensinnigen Teilbeiträge und die vielen Vergleichsgegenstände so zu einem Argumentationsstrang in einer Weise zusammenzuführen, dass die eingangs genannten Zentralbefunde plausibel erscheinen. Aus diesem Grunde müssen die Herausgeber gewissermaßen auf Siebenmeilenstiefeln argumentieren, um dem Leser die nicht einfache Umsetzung des komplizierten Vergleichsdesigns und den sich daraus ergebenden Erkenntnisgewinn nahe zu bringen. Verkürzungen lassen sich da nicht vermeiden. So führen Koenig und Willaime die Ausbildung „föderaler Staatsformen“ in Deutschland auf Bikonfessionalität und „landeskirchliche Organisationsformen des Protestantismus“ zurück (vgl. S. 16). Eine solche Analyse greift zu kurz. So wären in dieser Hinsicht andere Faktoren, wie etwa der Unterschied zwischen französischer Erb- und deutscher Wahlmonarchie vermutlich wesentlich erklärungskräftiger. Auch das Verhältnis des von den Herausgebern favorisierten Begriffs „Religionskontroverse“ zu sozialen Konflikten schlechthin, geschweige denn zu soziologischen Konflikt-Begriffen bleibt ungeklärt. Davon abgesehen handelt ein Beitrag gar nicht von Kontroversen, sondern von der Kooperation zwischen Lokalpolitikern und Moscheevereinsakteuren (nämlich der Aufsatz Claire de Galemberts).

Während die Plausibilisierung des ersten Befundes (der Pfadabhängigkeit der Religionssoziologie) insbesondere durch die drei Beiträge von Toscer-Angots, Jean Baubérots und vor allem Hartmann Tyrells überzeugt, bleibt die Umsetzung der epistemologischen Ansprüche des Buches (nämlich die Ausleuchtungen pfadabhängiger Erkenntnisblockaden) auf halber Strecke stehen. Den Herausgebern gelingt es weder, den Dialog der Religionssoziologien bis zur letzten Konsequenz zu führen noch die wesentlichen Erkenntnisblockaden der beiden Soziologien aufzudecken. Die deutschen Autoren halten bei allem Respekt vor den Leistungen des Nachbarn an ihrem eigenen, engen Religionsbegriff fest. Religion ist und bleibt für sie an Offenbarungsreligionen gebunden. Konkurrierende Religionsauffassungen auch innerhalb der deutschen Religionssoziologie (vor allem die Thomas Luckmanns) werden entweder weitgehend ignoriert oder, wie vor allem bei Alois Hahn, als Staffage abgehandelt. Das ist insoweit schade, als gerade diese heruntergespielte Religionssoziologie einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt für einen konstruktiven Dialog mit der französischen Seite geboten hätte. So stoßen die französischen Autoren auf wenig Verständnis für den weiteren Religionsbegriff, von dem sie bei aller akademischen Courtoisie nicht abrücken wollen.

Um zur letzten Konsequenz des Dialogs zu kommen, hätte man über die epistemologischen Vor- und Nachteile der beiden konkurrierenden Perspektiven und die alternativen Gegenstandsbestimmungen (enger versus weiter Religionsbegriff) systematisch nachdenken müssen. Man hätte dies unter dem Gesichtspunkt der Frage tun können, welche Analyseleistungen die weiterhin in der Klassikertradition stehenden Religionssoziologien beider Länder zur Erforschung speziell jener transnational bewegenden Themen hätten beitragen können, die heutzutage sowohl in Deutschland als auch in Frankreich mit Religion in Verbindung gebracht werden. Doch die Autoren der empirischen Beiträge, die tatsächlich einige dieser Themen aufgreifen, knüpfen entweder nicht an die beiden Religionssoziologien an, wie Claire de Galembert in ihrem Beitrag, oder sie nutzen Verweise auf Empirie, so etwa Alois Hahn in seinem Aufsatz, bloß als Kulisse für die Entfaltung theoriededuktiver Argumente zur Rechtfertigung der eigenen Theoriepräferenz – hier der Vorliebe für Luhmanns Systemtheorie. Offenbar haben die Herausgeber auf ein Fazit verzichtet, weil es solche Erkenntnisblockaden des Theoriedialogs kaum hätte übergehen können.

Die ‚heißen Eisen‘ werden nicht angefasst, weil die beiden Dialogparteien trotz des vor allem auf deutscher Seite empfundenen Reformdrucks weiterhin getrennt schmieden wollen. Bei aller Renovierungsarbeit im Detail geht es den Dialogpartnern um den Nachweis der Zukunftsfähigkeit der jeweils eigenen Theorietradition. Denn sähen sich die im Buch vertretenen deutschen Autoren genötigt, den eigenen, engen Religionsbegriff ernsthaft in Frage zu stellen, so würde ihnen ein weiteres Mal der Boden unter den Füßen entzogen. Dann wäre noch dem letzten deutschen Religionssoziologen klar, was längst der Fall ist: Die aktuell bewegenden Themen – von New Age über religiös gerechtfertigte Selbstmordanschläge bis hin zu Konflikten um religiöse Symbole – haben nicht darauf gewartet und sind auch nicht darauf angewiesen, dass einige Religionssoziologen ihre Theorietraditionen nun mit beachtlicher zeitlicher Verzögerung auf transnationale Wirklichkeiten einstellen. Vielmehr beschäftigen diese Themen längst alle interessierten Soziologen – übrigens ganz so, wie um und nach 1900 die damals bewegenden religiösen Probleme nicht nur einer religionssoziologischen Subdisziplin vorbehalten waren, sondern die Soziologie schlechthin beschäftigten. Würden andererseits die französischen Religionssoziologen ihren weiten Religionsbegriff aufgeben, so müssten sie darauf verzichten, die aktuellen Konflikte um Laizität und Islam in Frankreich in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen: Jean Baubérot bringt dies mit den folgenden, für die deutschen Dialogpartner vielleicht zu subtil gesetzten Worten zum Ausdruck: Der „[…] Prozess der Sakralisierung moralischer Werte (vor allem mit Bezug auf ‚Persönlichkeitsrechte‘) [setzt sich] gesellschaftlich fort“ (S. 203). Tatsächlich fällt es schwer, die Empörung säkularer Akteure angesichts von Ehrenmorden und Zwangsehen zu verstehen, übersähe man die sakrale Dimension säkularer Lebenswelten.

Nun werden nicht alle Leser/innen der religionssoziologischen Selbstreflexionen so viel Bedeutung beimessen wie die Herausgeber und der Rezensent. Sofern sie aber nachvollziehen wollen, wie unterschiedlich sich das Verhältnis von Staat und Religion seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland entwickelte, werden sie durch manche der Autoren reichlich bedient. Stellvertretend für andere Beiträge der ersten Abteilung sei hier der Artikel Hartmann Tyrells über die „Anfänge der Religionssoziologie“ in Frankreich und Deutschland erwähnt. Dieser zeichnet sich durch Zurückhaltung in der theoriededuktiven Spekulation und Enthaltsamkeit gegenüber teleologischen Zeitdiagnosen und vor allem durch seinen Respekt vor dem Erkenntnisgegenstand aus – dem Nexus von gesellschaftlicher Dynamik und religionssoziologischer Ideenevolution. Tyrell schildert, wie die beiden Religionssoziologien Durkheims und Webers in nationale Kulturkämpfe eingebettet waren. Er kommt zu dem Schluss, dass Durkheims Religionssoziologie weit mehr als Webers von der innergesellschaftlichen Konfliktdynamik geprägt ist. Tyrell belegt dies unter Rekurs auf viele historische Quellen und Detailinformationen – so etwa mit Blick auf Weber durch den Abgleich von Bismarck-Reden mit politischen und soziologischen Weber-Texten. Er bleibt dabei aber auch für Gegenevidenzen offen. So würdigt Tyrell, obschon er die Differenzen der Religionssoziologien besonders herausstellen will, auch intellektuelle Schnittmengen ihrer Schöpfer, wie etwa bei der Lektüre der englischen vergleichenden Religionsgeschichte. Dass er Durkheim mit wesentlich spitzeren Fingern anfasst als Max Weber ist darauf zurückzuführen, dass Tyrell einer Fragestellung treu bleibt, die schon Max Weber bewegte, nämlich die Frage, wie und warum Religion sich als relativ autonome Wertsphäre gegenüber der Politik ausbilden und behaupten kann. Eben dafür ist der enge Webersche Religionsbegriff und sein gesamter „Begriffshaushalt“ – zum Beispiel mit seiner Unterscheidung politischer von hierokratischer Herrschaft – in der Tat wesentlich besser geeignet als der vergleichsweise sparsam ausdifferenzierte Begriffsapparat Durkheims.

Auch Leser/innen, die etwas über aktuell bewegende Kontroversen im Verhältnis von Politik und Religion erfahren wollen, werden durch Einzelbeiträge des Buches bedient: Stellvertretend für andere Autoren der zweiten Abteilung sei hier der Aufsatz Claire de Galemberts genannt. Sie beobachtet in ihrer ethnographischen Fallstudie, wie Lokalpolitiker und Vertreter eines lokalen Moscheevereins bei Gastmählern in der örtlichen Moschee zusammenkommen. Indem der Moscheeverein die lokalpolitischen Honoratioren der Mittelstadt einlädt, sich – obschon sie Gäste sind – mitunter selbst wie Gastgeber aufzuführen und zu fühlen, nutzt der Moscheeverein die religionsübergreifende Logik eines Gastrechtsrituals um als Akteur der lokalen Zivilgesellschaft anerkannt zu werden. Auf der anderen Seite des Gastrechtsrituals darf sich die Lokalpolitik einbilden, die Abendmahlszeremonie als Regierungstechnik einsetzen zu können, um endlich Zugang zur muslimischen Minderheit zu finden. Dieser „wechselseitige Domestizierungs- und Anpassungsprozess“ (S. 347) ist, so die implizite Botschaft, beispielgebend für eine Sozialintegration unterhalb jener prinzipiell unabschließbaren Konflikte um unteilbare religiöse und säkulare Prinzipien. Dass der luzide Beitrag der Autorin nichts von den hier versammelten Religionssoziologen zu lernen hätte, macht im Übrigen augenfällig, dass einigen der hier versammelten Religionssoziologen der Gegenstand nicht nur epistemologisch, sondern auch praktisch längst abhanden gekommen ist.

Zusammen mit der von den Herausgebern anregend gestellten, wenn auch nicht konsequent bearbeiteten, Frage nach Erkenntnisblockaden der beiden Religionssoziologien machen vor allem Einzelbeiträge, wie die beiden letztgenannten, das Buch sehr lesenswert.

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