D. Kirn: Soldatenleben in Württemberg 1871-1914

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Titel
Soldatenleben in Württemberg 1871-1914. Zur Sozialgeschichte des deutschen Militärs


Autor(en)
Kirn, Daniel
Reihe
Krieg in der Geschichte 46
Erschienen
Paderborn 2009: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
369 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Bührer, School of Education, Technische Universität München

Nicht der Krieg, sondern der Frieden sei der Ernstfall, hat Gustav Heinemann in seiner Antrittsrede als Bundespräsident 1969 gesagt. Insofern ist es nur konsequent, wenn Daniel Kirn seine Studie über das Soldatenleben in Württemberg in der vergleichsweise langen Friedensperiode zwischen dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges und dem Beginn des Ersten Weltkrieges ansiedelt. Über Soldaten in Friedenszeiten wissen wir ohnehin sehr viel weniger als über Soldaten im Krieg. Außerdem konzentrierten sich einschlägige Studien bislang meist auf die Offiziere. Kirns Arbeit spart hingegen kaum einen Bereich des alltäglichen Lebens einfacher Soldaten des königlich württembergischen XIII. Armeekorps aus. Ziel der Arbeit ist jedoch nicht eine bloße Rekonstruktion des soldatischen Alltags im Frieden. Vielmehr geht es Kirn darum, durch die Kombination landes-, gender- und militärgeschichtlicher Ansätze „das Normale und das ‚außergewöhnlich Normale‘“ darzustellen sowie, „ausgehend von einer individualisierten Geschichte, die Wechselwirkungen zwischen Land und Personen zu untersuchen, um so das heutige Bild des Kaiserreichs entscheidend zu ergänzen“ (S. 19). Ferner möchte er das „spezifisch Zivile“ in diesem Armeekorps herausarbeiten und nach einem „spezifischen württembergischen Militarismus“ fahnden, also die Frage klären, „ob überhaupt und inwieweit die Armee in das zivile Leben eingriff“ und „militaristische“ Werte und Normen in die Gesellschaft „transportierte“ (S. 20).

Für seine an der Universität Stuttgart entstandene Dissertation hat Kirn vor allem die einschlägigen Bestände im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Militärarchiv) ausgewertet, dazu kleinere Bestände des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München und des Stadtarchivs Ludwigsburg sowie ferner, aus eigenem Besitz, ein Tagebuch eines Soldaten. Ergänzt wird diese breite Quellenbasis durch zeitgenössische Zeitungen, Zeitschriften und Verordnungsblätter sowie anderes publiziertes Material. Lässt sich die Überlieferung also im Großen und Ganzen als durchaus gut bezeichnen, so fällt dennoch auf, dass so genannte Ego-Dokumente, also direkte Zeugnisse der einfachen Soldaten, fehlen – ein Manko, auf das Kirn selbst aufmerksam macht (S. 20) und das gewisse methodische Probleme aufwirft, auf die noch zurückzukommen sein wird.

Obwohl die Kapitel von eins bis 19 durchnummeriert sind, gliedert sich das Buch in zwei Teile. Im ersten schreitet Kirn die einzelnen Stationen eines zweijährigen Militärdienstes von der Musterung über die Vereidigung, die Ausbildung in der Garnison, die verschiedenen Manöver und Paraden bis hin zur Entlassung minutiös ab. Im zweiten, systematisch angelegten Teil werden die Dimensionen und Probleme des Soldatenlebens dargestellt und im Lichte der einschlägigen Forschung erörtert. Kirn behandelt unter anderem die Kasernen als Orte des alltäglichen Lebens, Schieß- und Exerzierplätze – letztere durften auch von Privatleuten und Sportvereinen genutzt werden; Fußball wurde wegen eventueller „sozialistischer“ Instrumentalisierung allerdings zunächst nicht geduldet (S. 126) – , Krankheiten und medizinische Versorgung, die Verpflegung, soldatische Festkultur, Misshandlungen und schikanöse Behandlung von Soldaten im Dienst, begangen vor allem von Unteroffizieren, Selbstmorde, Soldaten als Straftäter, politische Aktivitäten zwischen Kriegerverein und Sozialdemokratie und schließlich die Beziehungen zu Frauen und zur übrigen Zivilbevölkerung.

Der systematische, sozial- und alltagsgeschichtlich orientierte Teil lässt kaum blinde Stellen übrig – so umfassend und dicht ist die soldatische Routine, die wenig Höhepunkte und viel Langeweile mit sich brachte, bislang selten rekonstruiert worden. Das ist gewiss verdienstvoll, auch wenn man vielleicht gar nicht so genau wissen möchte, um welche Uhrzeit die evangelischen und die katholischen Gottesdienste stattfanden und wie viele Soldaten jeweils dorthin abgeordnet wurden (S. 80f.). Aber sind das schon die „Kontrapunkte“ zu den „überkommenen, gleichwohl zwischen den Zeilen noch zu oft vertretenen Anschauungen des Kaiserreichs“, die Kirn verspricht (S. 20)? Sind sie geeignet, die bisherigen Vorstellungen über das Militär im Kaiserreich „grundlegend“ zu verändern, wie der Klappentext verheißt?

Am deutlichsten weicht Kirn in der Frage der „Militarisierung“ des Kaiserreichs von gängigen Auffassungen ab: Einen württembergischen Militarismus kann er nämlich nicht entdecken, zu einem „Ausgreifen der militärischen Normen auf das zivile Leben“ sei es nicht gekommen (S. 330). Die Quellen, die er zur Stützung dieser These heranzieht, etwa zur politischen Schulung oder zur Geringschätzung des Militärdienstes unter den Soldaten, geben ihm durchaus Recht. Doch reicht die Quellenbasis aus, um solche weit reichenden Behauptungen aufzustellen? Müsste man angesichts des Mangels an Ego-Dokumenten nicht wesentlich vorsichtiger argumentieren? „Das Dienen für das Vaterland entsprang weniger dem Gefühl einen hehren Dienst leisten zu dürfen, als vielmehr der Notwendigkeit, Gesetzen zu folgen“, schreibt Kirn (S. 300). Aber muss „Militarismus“ unbedingt mit „hehren Gefühlen“ verbunden sein? Reichen nicht das Befolgen und die Verinnerlichung von Gesetzen und Vorschriften aus?

Das Buch klärt wirklich (fast) erschöpfend über soldatische Existenz in Friedenszeiten auf und bietet zahlreiche neue Erkenntnisse, beispielsweise zum Umgang mit Frauen oder zum Selbstbild der Soldaten. Es lässt aber auch wichtige Fragen, etwa zum deutschen Militarismus, offen. Den vom „Schwäbischen Heimatbund“ gestifteten Gustav-Schwab-Preis, den Kirn für seine Arbeit erhielt, hat er gleichwohl vollauf verdient.

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