Cover
Titel
Cicero as Evidence. A Historian’s Companion


Autor(en)
Lintott, Andrew
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 469 S.
Preis
£ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Bücher, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Eine große Fülle von Einzelstudien und Jahrzehnte lehrender Erfahrung führten, wie Andrew Lintott selbst erläutert, zum vorliegenden, umfangreichen und stattlichen Band „Cicero as Evidence“. Lintott legt gewissermaßen eine Summa seiner akademischen Beschäftigung mit dem spätrepublikanischen Redner und Politiker vor, aber es handelt sich weder um eine Biographie noch um eine erschöpfende Werkschau Ciceros. Zwar werden sämtliche Bereiche seines Schrifttums berührt, die Schwerpunkte liegen aber deutlich auf Cicero als Anwalt, Politiker und Zeitgenosse einer historisch höchst dynamischen Epoche. Der Intellektuelle, der wesentlich zum Kontakt zwischen Rom und den Schulen der griechischen Philosophie beigetragen hat, tritt demgegenüber zurück. Die Titel des Buches scheint auf den ersten Blick etwas kryptisch: „Cicero als Beweis“ – was mag damit gemeint sein?

Der gesamte von Lintott behandelte Stoff unterteilt sich in vier Abschnitte: „A. Reading Cicero“; „B. Reading Oratory“; „C. History in Speeches and Letters“; „D. History and Ideas.“ Acht Appendizes kommen hinzu. Die einzelnen Themenfelder werden in chronologischer Folge behandelt, wie sie in Ciceros Leben Schwerpunkte seines Wirkens bildeten. Das Kaleidoskop behandelter Themen ist weit: Im Allgemeinen behandelt Lintott zum Beispiel Rechtsgeschichte, politische Rahmenbedingungen und Karrieremuster. Dies illustriert und verknüpft der Autor im Konkreten mit der Analyse korrespondierender Briefe und Reden. Der vierte Teil „History and Ideas“ untersucht die Zeit seit der Rückkehr aus dem Exil und umfasst mit gut 200 Seiten beinahe die Hälfte des Bandes. Lintott begleitet Ciceros Weg unter dem Herrscher Caesar, der ihn ins politische Abseits stellt und so zur literarischen Produktion anregt. Doch nach den Iden des März lebt der Consular wieder auf und kehrt ins politische Zentrum zurück. Diese Grundlinien sind natürlich allgemein bekannt.

Lintott versteht sein Buch als Hilfe und Anleitung für die ‚richtige‘ Lesart ciceronischer Texte als Quelle. Die Ausführungen verfolgen nicht zuletzt einen didaktischen und anleitenden Zweck. Daher ist es völlig konsequent, wenn Lintott gleich zu Beginn im „Preface“ des Buches die „undergraduates“ konkret als seine Zielgruppe anspricht. Er möchte den Anfängern und an Cicero interessierten Fortgeschrittenen ein Arbeitsinstrument in die Hand geben, mit dessen Hilfe Studierende aus der Cicerolektüre den größtmöglichen Nutzen beim Studium der Geschichte der späten Republik ziehen können. Mit dieser Absicht befindet man sich bei ganz grundlegenden Ansichten über historisches Arbeiten und die stete Notwendigkeit eingehender Quellenkritik auf allen Ebenen dieses Begriffs; mit anderen Worten: Lintott möchte als Meister dem auszubildenden Nachwuchs das Handwerk nahebringen. Magistrales Wissen sowie größte Erfahrung und intime Vertrautheit mit dem Stoff, wie Lintott sie einbringen kann, sind dafür natürlich beste Voraussetzungen. Seine Hinweise und Anleitungen stellen jedoch keineswegs Banalitäten dar. Dies verdeutlichen gleich die ersten Abschnitte, in denen Lintott das anspruchsvolle Problembewusstsein, das sich gegenüber den Texten einstellen muss, in verschiedenen Perspektiven ausleuchtet. So führt er aus, dass die Texte nicht etwa bloße Berichte von Ereignissen darstellen, sondern ihrerseits selbst Ereignisse sind. Er illustriert dies mit der Diskussion zweier Atticus-Briefe und anhand einer recht ausführlichen Betrachtung einiger Reden Ciceros, die er nach seiner Rückkehr aus dem Exil vortrug: Was habe der Studierende eigentlich vor sich, wenn er eine solche Rede lese, lautet die Leitfrage des Abschnitts „Speeches as Events“ (S. 8ff.). Lintott stellt klar, dass keine Rede so überliefert ist, wie sie gehalten wurde, sondern dass es sich um sorgfältig überarbeitete Texte handelt, die der Lehre und vor allem Zwecken des self-fashioning dienen sollten. Beispielsweise sind die Gerichtsreden – so wie sie überliefert sind – mit dem römischen Prozessverlauf gar nicht kompatibel. Im Besonderen betrachtet er die Verhandlungen Pro Quinctio, Pro Q. Roscio, Pro Tullio, Pro Caecina sowie In Verrem. Lintott mutet seinen Lesern bei den Beweisführungen berechtigterweise reichlich Information über die allgemeinen Abläufe der Rechtspflege in Rom zu. Neben die Details der eigentlichen Fälle und Verhandlungen treten rechtshistorische Erläuterungen wie etwa die konkrete Formulierung von Gesetzestexten; weiterhin sind Finanzpolitik und -gebaren oder außenpolitische Gravamina wie die Behandlung der Provinzen untrennbar mit solchen Fällen verbunden. Die Taktiken von Verteidigung und Angriff gewähren tiefe Einblicke in den Umgang der aristokratischen Standesgenossen miteinander.

Für das gesamte Buch gilt: Die Texte Ciceros müssen in ihre Kon-Texte eingebettet werden, um sie als aussagekräftige Quellen oder eben auch „Evidenzen“ verstehen zu können. Auf sich selbst zurückfallend handelt es sich um fragmentarische, oft verwirrende oder allzu offene Bruchstücke einer gewesenen Wirklichkeit. Ziel muss es sein, den konkreten Text immer wieder zum Kern und Ausgangspunkt für eine sich geradezu schalenartig erweiternde Rekonstruktion politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Lebenswelten zu machen. Häufig führt dies zu Detailanalysen, die scharfsinnig die ‚Unvollkommenheit‘ der Quelle aufweisen. Detektivischer Spürsinn ist in dieser Hinsicht zweifelsfrei ein Vorteil, aber Lintott begegnet seinem Autor geradezu mit Argwohn und stellt ihn unter Generalverdacht; er sucht förmlich die Unterlassung, das Vorurteil und die Fehlinformation – dies hat etwas von der Pose: „Mich führst Du nicht hinters Licht!“. In diesem Punkt treffen sich Stärke und Schwäche des Buches: Jede Einzelbeobachtung für sich ist erhellend und verdienstvoll. Man kann sich aber in den Realien auch verzetteln, und das eben beschriebene Ziel scheint bisweilen etwas aus dem Blick zu geraten.

Der Leser wird das Buch mit unterschiedlichem Anspruch in die Hand nehmen: Man kann hierin über Cicero lesen, zwar keine lupenreine Biographie (die vor allem für die Jugendjahre gar nicht zu schreiben ist, wie Lintott erläutert), aber doch überreich aus Ciceros Leben und seiner Welt. Der versierte Kenner der späten Republik wird viel Bekanntes ausgeführt finden, aber auch sehr vieles lernen können. Der quellenkritisch interessierte Leser vertieft sich wahrscheinlich mit Gewinn in die Passagen über einzelne Werkgruppen im Oeuvre des Spätrepublikaners und wird die scharfsinnigen Analysen zu schätzen wissen. Die detaillierten und äußerst nützlichen Indizes (Personen-, wie auch Stellenregister, aber auch Rubriken zu „Technical Terms“ und „Statutes and Bills“) laden zum Querlesen ein und machen das Werk somit auch zum Kompendium, in dem man nachliest und nachschlägt. Lintott verzichtet übrigens auf ausführliche Zitate aus Ciceros Werken, die Verweise sind gleichwohl sehr dicht. Daher sollte der Cicero-Text gewissermaßen griffbereit mit auf dem Schreibtisch liegen, da Lintotts Ausführungen in der Regel mit dem korrespondierenden Text aufs engste verknüpft sind.

Der Buchtitel „Cicero as Evidence. A Historian’s Companion“ wird in diesem Sinne pragmatisch und umfassend eingelöst. Die von Lintott anvisierte Zielgruppe der Studierenden erhält exemplarisches historisches Handwerk in eindrucksvoll intensiver, bisweilen auch erdrückender Dichte. Mancher Anfänger wird sich womöglich und nicht ganz zu Unrecht überfordert fühlen. So bleibt der Eindruck, dass man Lintotts Werk vor allem zum Nachschlagen und Nachlesen heranziehen wird. Dazu sei es aber nachdrücklich empfohlen.

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