A. Gentes: Exile to Siberia, 1590-1822

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Titel
Exile to Siberia, 1590-1822. Corporeal Commodification and Administrative Systematization in Russia


Autor(en)
Gentes, Andrew A.
Erschienen
Basingstoke 2008: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Ackeret, Moskau

Der Gulag, das Akronym eines Schreckens des 20. Jahrhunderts, hat eine solche Symbolik, dass er für alles mögliche herhalten muss. So ist mitunter auch vom „Gulag der Zaren“ die Rede, wenn an Verbannung und Zwangsarbeit im Russischen Reich vor 1917 erinnert wird. In einer Forschungslandschaft, die dem Schrecken und der Gewalt eines Jahrhunderts so viel Kraft und Erkenntnisinteresse gewidmet hat, haben die Vorgängerstrukturen aus dem Zarenreich selten sonderlich interessiert – trotz Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ und Tschechows „Insel Sachalin“. An fundierten wissenschaftlichen Darstellungen von Verbannung und Zwangsarbeit im Zarenreich mangelt es bis heute, und damit auch an einer kohärenten Vorstellung davon, worum es sich dabei gehandelt hat. In der Sowjetunion wurde das Verbannungswesen des Zarenreichs als unausweichliche Station im Leben heldenhafter Revolutionäre vereinnahmt. Bei nicht-sowjetischen Historikern dagegen fand es nur wenig Interesse: Bis heute haben sich nur ganz wenige Wissenschaftler aus dem Westen intensiv damit beschäftigt.1

Der derzeit präsenteste unter ihnen ist Andrew Gentes, der an der Universität von Queensland (Australien) lehrt, sich 2002 an der Brown University (Rhode Island, USA) zum Thema promoviert und zu verschiedenen Aspekten des Verbannungswesens publiziert hat.2 Seine Studie „Exile to Siberia, 1590-1822“ behandelt die Ursprünge und folgenden Entwicklungen des Verbannungswesens. Dabei soll es aber nicht bleiben: In der Einleitung kündigt Gentes das Erscheinen zweier Folgebände an, so dass dereinst eine englischsprachige Gesamtdarstellung vorliegen sollte.

Der zeitliche Rahmen des ersten Bandes ist durch die erste Aussiedlung widerborstiger Bauern nach Sibirien im Jahr 1590 und die Reformen Michail Speranskiis im Jahre 1822 markiert, mit denen auch das Verbannungswesen neu organisiert wurde. Die historische Aufarbeitung dieser Zeit ist schwierig, denn Selbstzeugnisse von Sträflingen und Beamten fehlen weitgehend und die Akten der staatlichen Behörden sind meist wenig zahlreich und ergiebig. Der Autor stützt sich überwiegend auf die russische Forschung zum Thema. Gentes vermeidet ein starres theoretisches Konzept, lässt sich aber von Überlegungen Foucaults zu Modernisierung und Disziplinierung leiten – soweit diese für Russland überhaupt Geltung haben können.

In fünf Kapiteln beschreibt Gentes die Entstehung und die Wandlungen der Verbannung, der Körperstrafen und Zwangsarbeit. Das erste ist den drei Kategorien von Verbannten gewidmet: den „Politischen“, den „Religiösen“ und den „Kriminellen“. Körperstrafen wie das Abschneiden von Ohren und Aufschlitzen von Nasenflügeln sowie die Brandmarkung mit glühendem Eisen gehörten zur Verbannungsstrafe, die nach und nach ein Ersatz für Körperstrafen und für die Todesstrafe wurde. Eine systematisierte Rechtsprechung auf diesem Gebiet fehlte aber ebenso wie eine einheitliche Organisation der Verschickung. Die Verurteilten wurden nach Osten „etappiert“, über weite Strecken zu Fuß. Dort stießen sie oft auf den Widerstand der regionalen Obrigkeit, die mit den Verbannten nichts zu tun haben wollte.

Das zweite Kapitel behandelt die verschiedenen Formen der Verbannung – Verbannung als Bauern, Verbannung zum Dienst (Militär, Bürokratie) und Verbannung in die Vorstadt. Alle drei Formen hatten eines gemeinsam: mangelnde Effektivität. Die Verbannung in die Vorstädte etwa führte zu erhöhter Kriminalität. Peter I. (der Große) gliederte Sibirien nicht nur in die bürokratischen Strukturen des Reiches ein, er weitete auch die Verbannung aus. Sibirien schien, schreibt Gentes, für das Petrinische Projekt einer neuen Gesellschaft gerade recht – als Ort für jene, die im Kernland nicht gebraucht werden konnten. So fällt auch die Einführung der schweren Zwangsarbeit (Katorga) in diese Zeit; sie interessierte damals mehr als die Entwicklung der sibirischen Landwirtschaft.

Unter Peters Nachfolgerinnen erhielt die Katorga zunehmend mehr Gewicht, wie Gentes im dritten Kapitel darlegt. Sie verdrängte die Todesstrafe. Zugleich nahmen die Kolonisierungsangstrengungen mittels Verbannung zu. Katharina II, die Große, verfolgte dann hinsichtlich der Verbannungsstrafe eine widersprüchliche Politik, denn für sie überwogen deren Vorteile bei der Besiedlung Sibiriens (und dem Entfernen politischer Gegner) aufklärerische Bedenken. Zeitweilig verfügte die Zarin zwar sogar die Aufhebung dieser Strafform, doch wurde diese nie verwirklicht. Für Katharina, so folgert Gentes, sei die Verbannung – allen Bedenken zum Trotz – zu bequem gewesen.

Alexander I. erkannte zwar bald die Probleme des Verbannungswesens, wie Gentes im vierten Kapitel beschreibt. In seine Zeit fällt aber eine der düstersten Phasen der sibirischen Geschichte überhaupt, als Generalgouverneur Iwan Prestel von Petersburg aus über Sibirien regierte und dem brutalen Irkutsker Gouverneur Nikolai Treskin freie Hand ließ. Die Kolonisierung Sibiriens sollte forciert werden, doch waren die Pläne dafür so dilettantisch, dass sie für die Verbannten, die in unwirtliche, für Landwirtschaft ungeeignete Gegenden verschickten wurden, in Tragödien endete. Herumstreunende verbannte Kriminelle verwandelten den Osten Sibiriens, so Gentes, in ein „killing field“. Die Ablösung Prestels durch Michail Speranskii führte zu unumgänglichen Reformschritten, den sogenannten sibirischen Reformen Speranskiis von 1822. Die neue Verbannungsverordnung bestätigte Sibiriens Rolle als großes Gefängnis und führte zu Neuregelungen der Verbannung. Unter anderem wurde die Katorga erstmals Bestandteil der Verbannungsstrafe. Damit war das Verbannungswesen zwar auf eine neue Grundlage gestellt. Speranskii war jedoch, wie Gentes betont, kein liberaler Strafvollzugsreformer, sondern strebte eine bürokratische Rationalisierung an. Gentes spricht hier von „large-scale social engineering“ (S. 203). Speranskiis Ordnung hatte über Jahrzehnte Bestand. Doch am unmenschlichen Charakter des Strafsystems konnte sie nichts ändern. In den beständigen, aber wenig effektiven Reformbemühungen spiegelten sich auch die Unfähigkeit des Regimes zu grundlegenden Neuordnungen.

Für die russische Führung war, bis 1822 zumindest, der Hauptzweck des Verbannungssystems die Kolonisierung und ökonomische Entwicklung Sibiriens, und nicht die Disziplinierung der Untertanen. So wurde etwa die Zahl der Verbannten, und hier vor allem der Siedler, beständig erhöht. Gentes sieht in der Verbannungsstrafe deshalb ein „tool of economic policy“ (S. 12). An einer kohärenten Strafpolitik dagegen habe es gemangelt. Dies hatte schwerwiegende Konsequenzen. Die Abhängigkeit vom sibirischen Verbannungswesen habe, so Gentes, die Entwicklung des Rechts- und Gerichtssystems in Russland im Vergleich mit dem Westen erheblich verzögert. Die Lektüre des Buches macht deutlich, wie das Verbannungssystem in den Jahrzehnten bis 1822 zur Kriminalisierung der sibirischen Gesellschaft führte. Denn das zarische Verbannungswesen war, im Unterschied zum Gulag, kein geschlossenes System. Es führte zur Ansiedlung von Verbannten (und verbannten Kriminellen) in den neu erschlossenen Gebieten Sibiriens oder am Rande bestehender Ortschaften.

Gentes’ Darstellung ist ein aufschlussreiches und überfälliges Buch. Vor allem ist sie mehr als eine Detailstudie. In dem Maße, wie der Autor anhand des Verbannungswesens die Geschichte Sibiriens nachzeichnet, kommt die Bedeutung der zarischen Repressions- und Kolonialpolitik für die Entwicklung des gesamten Imperiums und die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft in Russland zur Geltung.

Anmerkungen:
1 Alan Wood, Sex and Violence in Siberia. Aspects of the Tsarist Exile System, in: John Massey Stewart / Alan Wood, Siberia. Two Historical Perspectives, London 1984, S. 23-42; Ders., Crime and Punishment in the House of the Dead, in: Olga Crisp / Linda Edmondson (Hrsg.), Civil Rights in Imperial Russia, Oxford 1989, S. 215-233; Ders., Russia's “Wild East”. Exile, Vagrancy and Crime in Nineteenth-Century Siberia, in: Ders. (Hrsg.), The History of Siberia. From Russian Conquest to Revolution, London 1991, S. 117-139; Elzbieta Kaczynska, Das größte Gefängnis der Welt. Sibirien als Strafkolonie zur Zarenzeit, Frankfurt am Main 1994; Markus Ackeret, In der Welt der Katorga. Die Zwangsarbeitsstrafe für politische Delinquenten im ausgehenden Zarenreich (Ostsibirien und Sachalin), in: Mitteilungen des Osteuropa-Instituts München 56 (2007).
2 Andrew Gentes, The Institution of Russia's Sakhalin Policy, from 1868 to 1875, in: Journal of Asian History 36 (2002), S. 1-31; Ders., Roads to Oblivion. Siberian Exile and the Struggle between State and Society in Russia, 1593-1917, PhD diss. Brown University 2002 (unpubl.); Ders., Siberian Exile and the 1863 Polish Insurrectionists According to Russian Sources, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 75 (2003), S. 197-217; Ders., Katorga. Penal Labor and Tsarist Siberia, in: John van Oudenaren / Eva-Maria Stolberg (Hrsg.), The Siberian Saga. A History of Russia's Wild East , Frankfurt am Main 2005, S. 73-85; Ders., “Beat the Devil!”, Prison Society and Anarchy in Tsarist Siberia, in: Ab Imperio 2 (2009).