C. Kersting: Pädagogik im Nachkriegsdeutschland

Titel
Pädagogik im Nachkriegsdeutschland. Wissenschaftspolitik und Disziplinentwicklung


Autor(en)
Christa, Kersting
Erschienen
Bad Heilbrunn 2009: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
433 S.
Preis
€ 27
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sabine Andresen, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld

Erkenntnisse über universitäre Wissenschaftspolitik sowie über die Durchsetzung bestimmter Ansätze und Theorien erforderten historisch-systematische Gegenlektüren. Dies ist eine Schlusspointe der umfangreichen Studie über die Pädagogik im Nachkriegsdeutschland von Christa Kersting und einer der wenigen Hinweise auf aktuelle wissenschaftspolitische Entwicklungen: „Solche historisch-systematische Forschung wird seit geraumer Zeit ‚abgewickelt‘.“ (S. 392) Abgewickelt werde diese Forschung zugunsten eines „numerisch beschränkten Empiriebegriffs“ und zu Lasten eines „Theorie- und Geschichtsbewusstseins“ (S. 11). Wie fruchtbar und dringend geboten für die Erziehungswissenschaft historische Forschung ist, insbesondere mit Blick auf ihre eigene disziplinäre Entwicklung im interdisziplinären Vergleich ebenso wie im internationalen Kontext zeigt die vorzügliche Arbeit, in deren Mittelpunkt die Entwicklung des Faches von 1945 bis 1955 an den Universitäten der Französischen Besatzungszone steht. Die systematische Analyse der Wissenschaftspolitik ist für diese Untersuchung der Disziplingeschichte von zentraler Bedeutung, versteht die Autorin doch Wissenschaftspolitik als den „Angel- und Schnittpunkt aller einschlägigen Kräfte“ (S. 15). Ihr ist es daran gelegen, die ideologische Anfälligkeit der Erziehungswissenschaft vor Augen zu führen, ihre Schwerfälligkeit hinsichtlich demokratischer Ideen sichtbar zu machen und ihren – man kann sagen konsequenten – Weg in die Provinzialität nachzuzeichnen. In Abgrenzung zu den Fächern Soziologie und Psychologie habe sich die Pädagogik durch die Vertreter einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik als normative Disziplin mit dem Ziel der „Weltanschauungsbildung“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Sonderstatus erworben und dieser sei bis in die Nachkriegszeit konserviert worden. Diese Konservierung kann Christa Kersting durch die Analyse der Disziplingeschichte vom späten Kaiserreich bis in die 1950er-Jahre überzeugend darlegen.

Die Studie von Kersting gliedert sich in drei unterschiedlich gewichtete Teile. Teil 1 befasst sich mit Pädagogik und Wissenschaftspolitik 1945 bis 1955. Hier analysiert sie systematisch die prägenden Phasen von den Weichenstellungen ab 1900, insbesondere der Bedeutung der Berliner Konferenz von 1917 sowie der Ausprägung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik im Geist der „konservativen Revolution“. Davon ausgehend zeichnet sie das Vorgehen bzw. das „Regiment“ der zentralen Akteure, jener „Eisheiligen“, Herman Nohl, Eduard Spranger, Theodor Litt sowie Wilhelm Flitner und Erich Weniger, nach und benennt deutlich deren selbstentlastende Charakterisierung des Nationalsozialismus. „Immanent und bemerkenswert nah der eigenen Biographie und ihrem Verhalten ‚unterm Hakenkreuz‘ interpretierten sie Entstehung und Erfolg des NS-Systems, sich selbst dabei überwiegend in der Rolle von Oppositionellen. ‚Mitschuld‘ und ‚Versagen‘ der Pädagogik wurden insofern eingeräumt, als der Nationalsozialismus, wie auf ganz andere Weise die Weimarer Republik, die eigenen Erwartungen offensichtlich nicht erfüllt hatte; man verstand sich aber nicht als ‚Täter‘, einzig Litt sprach von ‚Mitvollstrecker‘.“ (S. 74)

Sehr aufschlussreich ist in diesem Teil der Arbeit außerdem der Exkurs über den „Exodus“ aus der Sowjetischen Besatzungszone. Systematisch bearbeitet wird hier auch das große Thema der Remigration im Kontext der Universität, wofür die Verfasserin an die in der Forschung etablierte Unterscheidung in drei Formen der Rückkehr anknüpft: der definitiven Rückkehr z.B. durch die Rückberufung auf eine Professur, der zeitlich begrenzten Teilrückkehr insbesondere durch die Wahrnehmung einer Gastprofessur und der ideellen, vornehmlich literarischen Reintegration in die scientific community. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Gebliebenen und Emigrierten und insbesondere die Projektionen auf Emigranten. Unabhängig von ihrem Untersuchungsschwerpunkt, nämlich die Entwicklung des Faches in der Französischen Besatzungszone, in der Remigration keine große Rolle spielte, werden die Fallgeschichten von Emigranten wie Curt Bondy, Anna Siemsen, Fritz Boronski, Jonas Cohn, Richard Hönigswald oder aber Elisabeth Blochmann dicht erzählt. Dieser sorgsam recherchierte und gut strukturierte Abschnitt ist ausgesprochen lesenswert. Anhand der Geschichten und vor allem des Umgangs der Mandarine der Pädagogik mit den Emigranten vor dem Hintergrund ihrer Biografien und ihrer politischen Überzeugungen entfaltet Kersting ihre These der Provinzialisierung der deutschen Pädagogik in überzeugender Weise. Rekonstruiert wird dabei nicht nur der Umgang mit Emigranten, sondern auch der mit Akademikerinnen, ein Kapitel, das allerdings weiter hätte ausgebaut werden können. Kersting kommt durch ihre Rekonstruktion zu dem überzeugenden Fazit, dass die Größen des Faches vor allem durch eine hermetische Haltung geprägt gewesen seien und diese habe sich auf die wissenschaftliche Ausrichtung der Disziplin ebenso ausgewirkt wie auf die Auseinandersetzung mit der Demokratie sowie auf die akademische Lebens- und Lehrform. „Die hermetische Haltung des Faches, ihre Abwehr im Umgang mit Emigranten führte deshalb im ersten Nachkriegsjahrzehnt zu verschärfter Provinzialität der Erziehungswissenschaft, von der internationalen Ausgrenzung nach dem ersten Weltkrieg hatte sie sich kaum erholen können. Eine solche Entwicklung begünstigte der verbreitete Argwohn gegenüber den Besatzungsmächten und der Konservativismus in den universitären Entscheidungsstellen.“ (S. 174)

Teil 2 der Arbeit bildet sozusagen das „Herzstück“ der Untersuchung. Hier geht Christa Kersting der Entwicklung des Faches an den Universitäten der Französischen Besatzungszone, Tübingen, Freiburg und Mainz, durch die Methode der Fallstudie nach. Teil 3 der Monographie ist insgesamt der kürzeste und er fokussiert den Sonderfall des Saarlandes, indem auf Wissenschaftspolitik und Disziplinentwicklung unter französischer Verwaltung anhand der „Europa-Universität“ in Saarbrücken eingegangen wird. In beiden Teilen, dem umfangreichen zweiten und dem knapp gehaltenen dritten, gelingt es ihr wieder überzeugend, die Akteure und Interessen der Wissenschaftspolitik mit denen der Fachdisziplin systematisch aufeinander zu beziehen. Zunächst werden die für die Franzosen zentralen Personen und Ziele ihrer Wissenschafts- und Kulturpolitik vorgestellt und unter Einbezug der historischen Forschung u.a. der Arbeiten von Rainer Hudemann die für Kerstings Fragestellung relevanten Aspekte skizziert. Ausführlich geht Kersting auf die Politik von Raymond Schmittlein ein, der für die Kultur- und Bildungspolitik der Französischen Besatzungszone zuständig war und insbesondere der politischen Lernfähigkeit der deutschen Gymnasiallehrer misstraute. Den politisch Verantwortlichen ging es – wie auch Hudemann in seinen Forschungen aufzeigt – bei der Frage der Umerziehung der Deutschen um ein Zusammenspiel von Kontrolle und Kooperation. Bei der Entnazifizierung setzte man unter dem Einfluss des Generalverwalters Emile Laffon auf „auto-épuration“ und damit auf die systematische Einbeziehung der Deutschen in den Entnazifizierungsprozess. Auch vor diesem Hintergrund ist die Konzentration auf die Französische Besatzungszone ausgesprochen aufschlussreich und weist Wege für systematische Vergleiche zwischen der Reeducation- und der Entnazifizierungspolitik der westlichen Besatzungszonen.

Die Fallstudien zu den drei Universitäten sind durch eine überzeugende, übersichtliche Struktur, mit deren Hilfe die Komplexität und die vielen Details für die Leserin handhabbar wird, gegliedert: Ausführlich rekonstruiert wird zunächst die Wiedereröffnung der Universität und deren Berufungspolitik, die Entwicklung der Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft, die Geschichte um die Besetzungen der einzelnen Lehrstühle und die Entnazifizierung, in Tübingen anhand Gerhard Pfahlers und in Freiburg an der Biografie Georg Stielers. An der Mainzer Fallstudie wird außerdem die Bedeutung der katholischen Kirche im Verhältnis zur französischen Besatzungsmacht sorgsam herausgearbeitet und ihr Einfluss auf Erneuerung gewichtet. „Die wissenschaftspolitische Chance eines Neuanfangs in Mainz war zusehends durch die von der französischen Besatzungsmacht akkreditierte katholische Kirche konterkariert worden.“ (S. 354)

Es würde die Rezension sprengen, sollte weiter im Detail auf die Politiken der Eisheiligen wie Spranger in Tübingen oder auf Lehrstuhlentwicklungen im Konflikt zwischen Pädagogik und Psychologie sowie Pädagogik und Philosophie oder auf die Gründe für eine phänomenologische Ausrichtung an den katholischen Universitäten der Französischen Besatzungszone, auf Berufungslisten und persönliche Prioritäten der Gelehrten eingegangen werden. Festzuhalten ist, dass mit der Methode der Fallstudie vor dem Hintergrund einer systematischen Kontextualisierung, wie sie Christa Kersting im ersten Teil ihrer Arbeit vorgenommen hat, eine Art Kartographie der Disziplin entstanden ist. Mit dieser werden die Netze der Standorte zwischen den Besatzungszonen und innerhalb der Französischen Zone sichtbar, ebenso wie die zentralen Linien zwischen den historisch eng verbundenen Disziplinen Pädagogik, Philosophie und Psychologie. Darüber hinaus gelingt es durch dieses Vorgehen, die „Lebenslinien“ der Akteure, das Ausmaß ihrer räumlichen, politischen, aber auch wissenschaftlichen Mobilität, und zwar die der Daheimgebliebenen ebenso wie der Emigranten aufeinander zu beziehen und Schnittstellen oder Zurückweisungen zu rekonstruieren. Besonders deutlich wird das Netzwerk der Macht, das jene, als „Eisheilige“ bezeichnete Mandarine der Pädagogik, weiterführen und etablieren konnten. Christa Kerstings Studie trägt wesentlich zur Klärung jenes „Erbes“, das sie mit guten Gründen als „Provinzialisierung der Pädagogik“ charakterisiert hat, bei. Jedenfalls ist die vorliegende Monographie ein ausgezeichnetes Beispiel für den Erkenntniswert historischer Forschung.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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