Cover
Titel
"How dead is Hitler?". Der britische Starreporter Sefton Delmer und die Deutschen


Autor(en)
Bayer, Karen
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Bd. 219
Erschienen
Anzahl Seiten
VII, 349 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arnd Bauerkämper, Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas, Berlin

1954 erregte der bekannte Auslandskorrespondent des „Daily Express“ Sefton Delmer (1904–1979) mit einem Artikel erhebliches Aufsehen, in dem er den Einfluss nationalsozialistischer Eliten in der Bundesrepublik Deutschland scharf kritisierte. Im engen Einvernehmen mit seinem Chef, dem Verleger Lord Beaverbrook (1879–1964), warnte Delmer damit besonders vor einer Wiederbewaffnung des jungen westdeutschen Staates. Delmer, der in Berlin geboren worden war, hatte schon von 1928 bis 1933 aus Deutschland berichtet, wo er den Zerfall der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus verfolgte. Nachdem er von 1940 bis 1945 für die britische Kriegspropaganda gearbeitet hatte, kehrte er 1946 erneut als Reporter des „Daily Express“ nach Deutschland zurück, wo er bis zu seiner Entlassung durch Lord Beaverbrook im Juli 1959 den Wiederaufstieg der Bundesrepublik und – weniger intensiv – der DDR erlebte und auch die britische Deutschlandpolitik kommentierte.

Zu Recht konzentriert sich Karen Bayer in ihrer biographischen Studie zu Delmer deshalb auf das Verhältnis des Journalisten zu Deutschland. Sie zeichnet das Leben und die berufliche Arbeit im Kontext der deutsch-britischen Beziehungen nach. Dabei werden auch Kontinuitätslinien und Wandlungsprozesse wechselseitiger Wahrnehmungen zwischen Westdeutschen und Briten deutlich. Ebenso wie viele andere konservative Politiker und Journalisten Großbritanniens neigten Beaverbrook und sein aufstrebender Auslandskorrespondent, der seit September 1928 das Berliner Büro des „Daily Express“ leitete, zunächst dem Nationalsozialismus ebenso zu wie dem italienischen Faschismus.1

In den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren schien Hitlers Bewegung eine fundamentale Erneuerung der bestehenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu versprechen, die aus der Sicht vieler konservativer Engländer vor allem wegen der globalen Wirtschaftskrise und der beginnenden Auflösung des Empires erschüttert war. Beaverbrook, der nach der Regierungsübernahme durch die Labour Party 1929 eine Kampagne für die Festigung des britischen Weltreiches (Empire Crusade) initiiert hatte, missverstand die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) ebenso wie Delmer als Partei eines modernen Sozialismus in der Nachfolge Friedrich Naumanns. Der Journalist des „Daily Express“ unterhielt deshalb in den frühen dreißiger Jahren enge Kontakte zu führenden Nationalsozialisten wie dem Führer der Sturmabteilung (SA) Ernst Röhm und begleitete Hitler im April 1932 auf seiner Reise (erstmals im Flugzeug) für die Wahlen zum Reichspräsidenten.

Bayer bestätigt die Interpretation, dass die Machtübertragung an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Wahrnehmungen der deutschen Politik in Großbritannien zunächst kaum veränderte.2 Erst nach den Morden, mit denen Hitler Ende Juni 1934 die SA-Führung und konservative Widersacher ausschalten ließ, wurden die Berichte des „Daily Express“ über die inzwischen etablierte NS-Diktatur deutlich kritischer. Nur drei Wochen zuvor hatte die Gewalt von Sicherungskräften der „British Union of Fascists“ die britische Öffentlichkeit aufgeschreckt und den konservativen Verleger Lord Rothermere bewogen, den britischen „Schwarzhemden“ seine Unterstützung aufzukündigen.3 Da Bayer diese Ereignisse ausblendet, wird der wichtige Zusammenhang zwischen der britischen Innenpolitik und der Berichterstattung über das nationalsozialistische Deutschland hier nicht deutlich.

Zur Distanzierung Delmers von den nationalsozialistischen Machthabern in Deutschland hatte aber auch seine Versetzung nach Paris im September 1933 beigetragen. Obgleich er in seinen Berichten über den Spanischen Bürgerkrieg die militärische Intervention des faschistischen Italien und des „Dritten Reiches“ deutlich hervorhob, unterstützte Delmer 1938/39 die von Premierminister Neville Chamberlain vertretene, in Großbritannien zunächst durchaus populäre Politik des Appeasement. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stellte sich der Journalist aber uneingeschränkt in den Dienst der britischen Kriegspropaganda, die im Political Warfare Executive durch anhaltende Konflikte zwischen Anhängern der „weißen“ (offenen) und der „schwarzen“ (verdeckten) Propaganda gegen das „Dritte Reich“ beeinträchtigt wurde. Insgesamt folgte Delmer, der mit seinem Wechsel vom „Deutschen Dienst“ der BBC zur „schwarzen“ Rundfunk- und Flugblattpropaganda Anfang 1941 diesen Graben übersprang, von 1933 bis 1945 im Wesentlichen der Deutschlandpolitik des konservativen Mainstreams.

Nachdem sein Plan, den von ihm betriebenen „German News Service“ durch eine eigene Zeitung zu ergänzen, am Widerstand der britischen Besatzungsbehörden im Oktober 1945 gescheitert war, berichtete Delmer ab 1946 für den „Daily Express“ aus Deutschland über die Not der unmittelbaren Nachkriegszeit, aber vor allem über die Innenpolitik und gesellschaftliche Entwicklung Westdeutschlands. Bis zu seiner Abberufung durch Beaverbrook 1959 warnte er unablässig vor einem „Vierten Reich“ (S. 168, 189). In seinen Artikeln kritisierte er lebhaft die Rückkehr belasteter Nationalsozialisten wie Theodor Oberländer und Hans Globke in hohe Regierungsämter. Ebenso scharf lehnte er die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte ab. Jedoch schränkten die schillernde Darstellung und einzelne Fehler wiederholt die Wirkung seiner Presseartikel in der britischen Politik ein.

Aber auch die Deutsche Demokratische Republik (DDR), die Delmer im September 1954 besuchte, war aus seiner Sicht keineswegs das „bessere Deutschland“, wie deutsche und britische Kommunisten behaupteten. Zudem verteidigte er Otto John, dessen Übertritt in die DDR am 20. Juli 1954 Delmer zwar als Entführung deutete, ohne aber – wie viele westdeutsche Konservative – die Kritik zurückzuweisen, die der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Ost-Berlin gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik und die Wiedereinsetzung von Angehörigen der nationalsozialistischen Eliten geübt hatte. Damit entzog sich der Auslandskorrespondent des „Daily Express“ der Freund-Feind-Dichotomie des Kalten Krieges, so dass seine Artikel die westdeutsche Presse doch überwiegend ratlos zurückließen. Die Reaktionen der Zeitungen in der Bundesrepublik zeichnet Karen Bayer ebenso instruktiv nach wie die Berichterstattung in der gelenkten Presse des SED-Regimes. Begierig griffen die Ost-Berliner Machthaber Delmers Kritik an der Nachgiebigkeit der westlichen Alliierten gegenüber der Bundesrepublik und an der Politik der Regierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer auf, um in der Auseinandersetzung mit dem westdeutschen Staat an Legitimität zu gewinnen. Dennoch nahm Delmer erst in den 1960er-Jahren seine Warnungen vor dem Einfluss früherer Nationalsozialisten und vor einem Rückfall in deutsche Großmachtpolitik schrittweise zurück, als er unter anderem für den „Sunday Telegraph“ schrieb und als Berater für den „Spiegel“ arbeitete.

Weit über eine Biographie Delmers hinaus zeigt Karen Bayer in ihrem Buch, dass der profilierte Journalist des „Daily Express“ eng in deutsch-britische Beziehungen eingebunden war. Auch die Wahrnehmungen und Bilder Deutschlands, welche die konservative Presse Großbritanniens in mehr als drei Jahrzehnten jeweils kennzeichneten, werden überzeugend dargelegt. Obgleich Bayer zum Beispiel die Not in Großbritannien (S. 169), die Entkolonialisierung und den Zerfall britischer Weltmacht (S. 176f.) als Bezugsrahmen der Presseberichterstattung Delmers über Deutschland nach 1945 durchaus erwähnt, bezieht sie die Biographie des Journalisten aber nur gelegentlich auf den Wandel der britischen Weltmacht, Politik und Gesellschaft selber. Auch wird der Stellenwert wechselseitiger Bezüge und Überblendungen zwischen Delmers Wahrnehmungen der Bundesrepublik und der DDR vor allem im Schlussteil nicht eingehend und systematisierend diskutiert.4 Zudem bleiben einige Interpretationen – so der Versetzung Delmers nach Paris (S. 66), der Distanzierung vom Nationalsozialismus (S. 74) und seiner Fehleinschätzung der militärischen Macht des „Dritten Reiches“ (S. 96) – spekulativ, zum Teil freilich wegen der lückenhaften Überlieferung. Nicht zuletzt fallen vereinzelt Widersprüche auf, so zum Stellenwert des westdeutschen Antisemitismus in der Berichterstattung Delmers (S. 230, 240, 247).

Demgegenüber zeigt die Verfasserin, deren Buch aus einer an der Universität Jena eingereichten Dissertation hervorging, nachdrücklich und deutlich, dass Sefton Delmer politische Ideologien – vor allem die Doktrinen der Nationalsozialisten – nur unscharf erfasste. Auch tritt hervor, dass konservative Politiker und Journalisten in Westdeutschland erheblich nachhaltiger von den Wahrnehmungs- und Deutungskategorien des Kalten Krieges geprägt waren als ihre britischen Kollegen (vgl. zum Beispiel S. 232, 290). Allein diese Befunde rechtfertigen die umfassende biographische Studie, die auch wegen ihres flüssigen Stils und der Hinweise auf die Persönlichkeit Delmers eine breite Leserschaft finden sollte.

Anmerkungen:
1 Patrick Allitt, Catholic Converts. British and American Intellectuals Turn to Rome, Ithaca 1997; Bernhard Dietz, Gab es eine „Konservative Revolution“ in Großbritannien? Rechtsintellektuelle am Rande der Konservativen Partei 1929–1933, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 607–638.
2 Francis L.Carsten, Britain and the Weimar Republic. The British documents, New York 1984, S. 169–296, 330–332; ders, Adolf Hitler im Urteil des Auslandes – in britischer Sicht, in: Wolfgang Treue / Jürgen Schmädeke (Hrsg.), Deutschland 1933. Machtzerfall der Demokratie und nationalsozialistische „Machtergreifung“. Eine Vortragsreihe, Berlin 1984, S. 97–118; Gottfried Niedhart, Zwischen negativem Deutschlandbild und Primat des Friedens: Großbritannien und der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Die nationalsozialistische Machtergreifung, Paderborn 1984, S. 274–287.
3 Martin Pugh, Hurrah for the Blackshirts! Fascists and Fascism in Britain between the Wars, London 2005; ders., The British Union of Fascists and the Olympia Debate, in: Historical Journal 41 (1998), S. 529–542.
4 Dazu Arnd Bauerkämper, It Took Three to Tango. The Role of the Federal Republic of Germany in the Relationship between Britain and the GDR 1949–1990, in: Stefan Berger / Norman LaPorte (Hrsg.), The Other Germany. Perceptions and Influences in British-East German Relations, 1945/1990, Augsburg 2005, S. 45–60.

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