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Titel
Pluralising Pasts. Heritage, Identity and Place in Multicultural Societies


Autor(en)
Ashworth, G.J.; Graham, Brian; Tunbridge, J.E.
Erschienen
London 2007: Pluto Press
Anzahl Seiten
XII, 236 S.
Preis
$ 35.00/€ 30,00 (Paperback)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Siebeck, Kulturwissenschaftliches Institut Essen/Ruhr-Universität Bochum

Im Zentrum Berlins, wo 1976 der ‚Palast der Republik’ als symbolisches Herzstück der Hauptstadt der DDR feierlich eröffnet wurde, erstreckt sich derzeit eine grüne Wiese. Der bukolische Eindruck trügt: Hier soll das auf Geheiß der DDR-Regierung 1950 gesprengte preußische Stadtschloss rekonstruiert werden. Als ‚Humboldtforum’ soll es in Zukunft der Zurschaustellung der „außereuropäischen Welt“ dienen: „Es holt so zeichenhaft die globalisierte Welt in die Stadtmitte der Hauptstadt.“1 Während die einen nicht (mehr) nur den Wiederaufbau des Stadtschlosses, sondern auch das ‚Humboldtforum’ für eine „nationale Aufgabe“ halten und davon träumen, dass „diese universelle Bildung [...] uns konkurrenzfähig auf den internationalen Märkten“ machen werde2, kritisieren Gegner des Projekts, dass die geplante Präsentation ethnologischer Sammlungen eine „Reflexion der Gewalt“ vermissen lasse, „die im Zuge des Kolonialismus von Europa aus auf den Rest der Welt ausgeübt wurde“. Vielmehr diene das Projekt dem nation branding und der „Demonstration von Weltoffenheit der selbsternannten ‚Kulturnation’“ im preußisch-humanistischen Gewand.3

Historische Repräsentationen verweisen weder auf sich selbst, wie Pierre Nora rätselhafterweise behauptet hat4, noch verweisen sie ausschließlich darauf, was sie vorgeben zu repräsentieren. Vielmehr verweisen sie immer auch auf gesellschaftliche Diskurse und Machtverhältnisse und somit auf gesellschaftliche Konflikte. Bereits in früheren Arbeiten haben die Kulturgeographen Gregory J. Ashworth, Brian Graham und John E. Tunbridge mit Nachdruck eine jedem modernen ‚kulturellen Erbe’ (heritage) intrinsische ‚Dissonanz’ und eine daraus folgende prinzipielle Konflikthaftigkeit so genannter ‚Gedächtnisorte’ betont.5

Im Gegensatz zu kulturwissenschaftlichen Ansätzen im Gefolge Pierre Noras bzw. Jan und Aleida Assmanns konzipieren sie das zeitgenössische ‚kulturelle Erbe’ nicht als Repräsentation eines nur gelegentlich konflikthaften ‚kulturellen Gedächtnisses’, in dem sich das Selbstverständnis einer ‚Gemeinschaft’ oder – analog gedachten – Gesellschaft manifestiert und tradiert. Vielmehr wählen Ashworth, Graham und Tunbridge gerade die von ihnen konstatierte Konflikthaftigkeit als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen: Um wessen ‚kulturelles Erbe’ handelt es sich eigentlich?

Von dieser – im Übrigen radikal gegenwartsbezogenen – Fragestellung aus gelangt man schnell zu grundsätzlicheren Problemen: Wer verfügt über ökonomisches und kulturelles Kapital und kann daher seine Perspektiven auf Vergangenheit durchsetzen? Wer hat nicht nur die Mittel, sondern auch die Macht, Geschichte im Dienste von Tourismus und Standortmarketing zu festivalisieren und zu kommodifizieren? Das ‚kulturelle Gedächtnis’ jedenfalls erscheint in einer solchen kulturgeographischen Betrachtung nicht als akademisch reflektierter bürgerlicher Vergangenheitsdiskurs, sondern als „hard-edged political ressource“ (S. 62). Dabei geht es explizit auch um ideologische Dispositionen, um Deutungs- und Repräsentationsmacht, um Interessenkonflikte aller Art, und immer wieder auch um Prozesse der Inklusion und Exklusion.

Folgerichtig widmen sich Ashworth, Graham und Tunbridge in „Pluralising Pasts“ nun der Problematik eines ‚kulturellen Erbes’ in gegenwärtigen Gesellschaften, die aufgrund ihrer Heterogenität gerade nicht über ein gemeinsames ‚kulturelles Erbe’ verfügen – und das dürfte so ziemlich jede heutige Gesellschaft betreffen. Die Fragestellung ist auch deswegen von einiger Brisanz, weil das Konzept eines ‚kulturellen Erbes’ bzw. ‚kulturellen Gedächtnisses’ historisch eng mit Ideologie und Realisierung homogen gedachter Nationalstaaten verbunden ist.

Im ersten Teil des sehr didaktisch angelegten Buches werden zunächst theoretische Fragen erörtert. So werden verschiedene Lesarten des ‚Multikulturalismus’ vorgestellt, der sich nicht nur als Ideologie, sondern auch als politische Praxis sowohl inklusiv als auch exklusiv gerieren kann. Auf alternative Modelle wie ‚Hybridität’ wird ebenfalls eingegangen. Dankenswerterweise wird außerdem an nicht-ethnisch begründete Differenzkriterien wie ‚Klasse’ und ‚gender’ erinnert, die in der Diskussion um ‚kulturelles Erbe’ oft unterbelichtet bleiben.

Anschließend erläutern die Autoren das Paradigma des ‚heritage’ auch mit Blick auf dessen Komponenten ‚Identität’ und ‚Ort’ (‚place’). Sie weisen in diesem Zusammenhang auf eine – trotz postmodernistischen Globalisierungsdiskursen andauernde – menschliche Disposition zur Identifikation mit ‚Orten’ hin, die dementsprechend weiterhin relevant für identitätspolitische Bemühungen bleiben. Empirisch seien jüngst zunehmend Versuche zum Beispiel von Regierungen und Kommunen zu beobachten, erwünschte Identitäten durch die Gestaltung von Orten und Räumen zu institutionalisieren (S. 63ff.).

Im zweiten und dritten Hauptteil des Buches werden schließlich fünf verschiedene Formen einer Definition und Organisation des ‚kulturellen Erbes’ innerhalb differenzierter Gesellschaften (plural societies) schematisch beschrieben und mit Beispielen illustriert: Zielt eine Gesellschaft vor allem auf Assimilation, so wird ein hegemoniales Narrativ als gemeinsame Geschichte verbindlich repräsentiert. Schmelztiegel-Gesellschaften, das heißt Siedlergesellschaften oder postkoloniale Nationalstaaten, erschaffen und repräsentieren ein neues Narrativ für alle Mitglieder der zu stabiliserenden Gemeinschaft. Gesellschaften mit ‚Leitkultur’ lassen teilweise zu, dass (anerkannte) ‚nationale Minderheiten’ ihr ‚kulturelles Erbe’ parallel institutionalisieren. Außerdem gibt es Gesellschaften, in denen im Sinne eines ‚Säulen-’ bzw. ‚Salatschüsselmodells’ offiziell verschiedene (meist ‚ethnische’) ‚kulturelle Erbschaften’ nebeneinander existieren.

Die Autoren sind sich bewusst, dass die von ihnen beschriebenen Modelle sich teilweise überschneiden bzw. in vielen Gesellschaften parallel vorkommen (S. 86f.). Die angeführten Beispiele bleiben oft etwas oberflächlich und scheinen auf die Untermauerung des zuvor theoretisch Gesagten zugeschnitten zu sein – gerade angesichts der komplexen Fragen, die im Buch immer wieder aufgeworfen werden, wünscht man sich gelegentlich eine dezidiertere Analyse nicht zuletzt der Konflikte, die um jeweilige Orte und Narrative geführt werden. Obwohl die Autoren in ihrem Resümee anmerken, dass „pluralism itself an elusive concept“ sei (S. 207), fehlt die Erörterung eines diskursiven Modells, in dem ‚Pluralismus’ und ‚Integration’ gleichsam zur ‚Leitkultur’ erklärt werden, wobei gleichzeitig umso undurchsichtiger wird, wer ideell und strukturell trotzdem ausgeschlossen bleibt.

Insgesamt aber ermöglichen es die vorgestellten Modelle und Beispiele dem Leser, über ein komplexes und zweifellos äußerst virulentes Problem einmal systematisch nachzudenken. Für Naivität und „platitudes of the multicultural debate“ (S. 212) bleibt dabei kein Platz: Jedes der vorgestellten theoretischen Modelle birgt Konfliktpotenzial, jedes ‚kulturelle Erbe’ ist potentiell exklusiv, Relativismus zweifellos auch keine Lösung: „[H]eritage is, contradictorily, a key force for [social] cohesion but also fragmentation.“ (ebd.)

Hinter all dem verbirgt sich einmal mehr das Spannungsverhältnis zwischen Universalismus und Partikularismus. ‚Kulturelles Erbe’ bleibt jedoch trotz seiner materiellen Realität letztendlich immer etwas, was gedeutet und verhandelt werden muss – ein ‚leerer Signifikant’, um mit Ernesto Laclau zu sprechen: „Society generates a whole vocabulary of empty signifiers whose temporary signifiers are the result of a political competition.“6

Im akademischen Diskurs ginge es also zunächst einmal darum, die eminent politische Bedeutung unseres ‚kulturellen Erbes’ zu reflektieren – ‚Gedächtnisorte’ mithin nicht als Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses über Vergangenheit zu begreifen, sondern sie als Repräsentationen jeweiliger Ideologien und Machtverhältnisse zu analysieren. Dabei muss immer auch kontrafaktisch gedacht werden: Wer oder was wird nicht repräsentiert?

Anmerkungen:
1 <http://www.humboldt-forum.de/main> (3.8.2009).
2 Wilhelm von Boddien, Geschäftsführer des ‚Fördervereins Berliner Schloss’, in: Berliner Extrablatt, hrsg. vom Förderverein Berliner Schloss, 5/2007, S. 13.
3 So die Gruppe ‚Alexandertechnik’, die im Juli 2009 eine ‚Veranstaltung zum selektiven Rückbau des Humboldt-Forums’ organisiert hat: <http://www.humboldtforum.info> (3.8.2009).
4 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die Gedächtnisorte, in: ders., Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998, S. 11-42, hier S. 40.
5 J.E. Tunbridge / G.J. Ashworth, Dissonant Heritage. The Management of the Past as a Resource in Conflict, Chichester 1996; Brian Graham / G.J. Ashworth, A Geography of Heritage. Power, Culture and Economy, London 2000.
6 Ernesto Laclau, Universalism, Particularism and the Question of Identity, in: ders., Emancipation(s), London 2007, S. 20-35, hier S. 35.