Cover
Titel
Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch


Herausgeber
Muhle, Susanne; Richter, Hedwig; Schütterle, Juliane
Erschienen
Berlin 2008: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beatrix Bouvier, Studienzentrum Karl-Marx-Haus Trier, Friedrich-Ebert-Stiftung

Anders als der Untertitel „Lesebuch“ suggerieren mag, handelt es sich nicht um eine „pädagogisch wertvolle“ Zusammenstellung von Texten, wie sie aus der Schule erinnerlich sind. Auch wenn der Band nicht ohne pädagogische Absichten ist, gehört sein Anliegen doch in den Aufgabenbereich der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“, der Auftraggeberin des Bandes. Dass der Band zum 10. Jubiläum der Stiftung Aufarbeitung erschien, soll nicht unerwähnt bleiben. Er ist das Ergebnis ihrer Nachwuchsförderung und wird der Öffentlichkeit in höchst lesbarer Form präsentiert. 28 Stipendiatinnen und Stipendiaten der Stiftung Aufarbeitung präsentieren ihre zu „Geschichten“ verdichteten Forschungsergebnisse über sehr unterschiedliche Aspekte der DDR-Geschichte, die durchaus skurril wirken können. Und es ist wohl diese Skurrilität, die medial aufgegriffen wird.1 Das ist verständlich, zumal die Texte durch ein hervorragendes Lektorat der Falle einer manchmal ungenießbaren Wissenschaftssprache entkommen sind. Eine solche Leistung kann nicht hoch genug bewertet werden, und sie ist es auch, die den Band zum „Lesebuch“ macht. Unter anderen Umständen würde man die Geschichten als Abstracts von Dissertationen oder Forschungsprojekten allenfalls zur Kenntnis nehmen. Gerade die Lesbarkeit erreicht ihr Ziel, nämlich den Wunsch zum Weiterlesen, in vielen Fällen jedenfalls. Damit ist nichts über eine unterschiedliche Qualität der Arbeiten insgesamt gesagt, nur etwas über Interessen.

Schwerpunkte muss jeder Leser selber setzten, wobei die Großüberschreibungen oder Kapitel „Herrschaft im Alltag – Alltag der Herrschaft“ (unter anderem Inszenierung der Volkswahlen, Pflichtstudium des ML, Kampfgruppen, Grubenunglück im Uranerzbergbau, Reichsbahn, private Landwirtschaft), „Aufbrüche und Ausbrüche“ (unter anderem über das Kreuzfahrtschiff „Fritz Heckert“, Mode, Jugend und die sozialistische Provinz), „Grenzüberschreitungen“ (unter anderem Leipziger Buchmesse, Wissenschaftler-Treffen, gesamtdeutsche Olympia-Mannschaft), „Reflexionen und Wahrnehmungen“ (unter anderem das Desinteresse der Westdeutsche an der DDR, bildende Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik, Darstellung der Arbeiterbewegung in den frühen Heimatmuseen der DDR, Brecht, Erinnerungsliteratur über Speziallager) zwar das Inhaltsverzeichnis gliedern, aber nicht wirklich weiterhelfen. Das ist das Schicksal auch dieses Sammelbandes, auf dessen kurze Einzelbeiträge inhaltlich nicht eingegangen werden kann.
Auch Ralph Jessen versucht mit seinem Essay „Eine Vorschau auf die Rückschau“ nicht, die Beiträge zusammenzubinden. Er verweist vielmehr auf den 20. Jahrestag des Mauerfalls, ein Jubiläum, das eine Bilanz nach zwanzigjähriger neuer DDR-Forschung nach sich ziehen könne, womit keine Schlussbilanz gemeint sei, wohl aber eine Art Zwischenbilanz. Ihm geht es darum, die Rahmenbedingungen zu skizzieren, die den Kontext auch der Studien bilden, aus denen die Miniaturen des vorliegenden Bandes stammen. Dabei wird darauf verwiesen, dass die Zeitgeschichtsschreibung mehr als andere historische Disziplinen in außerwissenschaftliche Deutungs- und Sinngebungsprozesse einbezogen ist. Dies umso mehr, als es sich bei den Ereignissen und Folgen von 1989/90 um tief greifende Prozesse handelt. Ungeachtet einer Bewertung im Einzelnen ist Jessen der Meinung, dass man sich mit drei Grundsachverhalten beschäftigen müsse. Erstens mit der Vielfalt der Einrichtungen, dem „Gründerboom“ der Neunzigerjahre oder der „institutionellen Ko-Evolution von Wissenschaft und Aufarbeitungsgeschäft“, wie Jessen es nennt (S. 304). Es entstanden Gedenkstätten, Museen und andere „Orte des Erinnerns“2, die teilweise Einrichtungen der politischen Bildung mit einem dezidierten geschichtspolitischen Auftrag sind. Doch auch wissenschaftliche Einrichtungen wurden ausgebaut oder neu eingerichtet, so etwa an der FU der „Forschungsverbund SED-Staat“, das „Institut für Zeitgeschichte“ mit seiner Berliner Außenstelle, das „Zentrum für Zeithistorische Forschung“ in Potsdam, aber auch die Behörde des/der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR mit ihrer Bildungs- und Forschungsabteilung sowie die aus den beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages hervorgegangene „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ mit ihrem historisch-politischen Bildungsauftrag und ihrer Forschungsförderung. Diese Einrichtungen sorgen allein mit ihrer Unterschiedlichkeit für Vielfalt und Kontroversen, müssen allerdings bei knapper werdenden Ressourcen Konflikte bzw. entsprechende Verteilungskämpfe austragen. Zu hoffen ist, dass genau dies der Mythenbildung entgegenwirkt und Entlastungslegenden als solche kennzeichnet. Dem dient auch das vorliegende Lesebuch.

Als zweiten Sachverhalt, der reflektiert werden sollte, nennt Jessen das Resultat des Forschungs- und Erinnerungsbooms (S. 306). Zu Recht stellt er fest, dass „wir“ (vermutlich die Interessierten oder Historiker) über die DDR-Vergangenheit in mancherlei Hinsicht besser unterrichtet seien als über die Geschichte der Bundesrepublik. Die intensive Thematisierung der DDR-Geschichte stehe in deutlichem Gegensatz zur verbreiteten Tabuisierung der NS-Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass dies keine Besonderheit der jungen Bundesrepublik war und auch nicht allein für nachkommunistische Staaten Osteuropas gilt. Zu erinnern ist beispielsweise an das Schweigen über die Brutalitäten des Franco-Regimes in Spanien oder die in Frankreich sehr spät einsetzende Debatte über den Algerienkrieg. Im heutigen Russland schließlich sehen wir eine Mischung aus Tabuisierung und Rehabilitierung des Stalinismus und vor allem der Person Stalins als dem Sieger des Zweiten Weltkrieges, der die Sowjetunion als Weltmacht etablierte.

Das freilich sollte nach Jessen nicht zu Überlegenheitsgefühlen führen, diesmal „alles richtig“ gemacht zu haben, sondern berücksichtigen, wie viel Erfahrungen mit kritischer Geschichtskultur während der Siebziger- und Achtzigerjahre am Beispiel der NS-Vergangenheit hatten gesammelt werden können. Die Zugänglichkeit der Akten, finanzielle Ressourcen und nicht zuletzt qualifizierte Zeithistoriker, interessierte Journalisten und professionelle Ausstellungsmacher seien nicht zu vergessen. Die überzeugten Anhänger des SED-Regimes hatten nicht wirklich Einfluss, denn die Auseinandersetzung – politisch und wissenschaftlich – mit der kommunistischen Vergangenheit fand eben – anders als in den osteuropäischen Staaten – nicht in einer demokratisierten DDR, sondern im wiedervereinigten Deutschland statt. Dieses Deutschland mit dem institutionellen, kulturellen, personellen und materiellen Gewicht der alten Bundesrepublik schuf die Voraussetzungen für die Aufarbeitung und Erforschung der DDR-Vergangenheit. Das allerdings sorgte und sorgt für Spannungen, die nicht unterschätzt werden sollten, ist es doch auch denkbar, dass Aufarbeitungsbemühungen die Adressaten gar nicht erreichen. Wer überhaupt sind die Adressaten? Das ist zwar eine hier nicht zu diskutierende Frage, wohl aber eine, die sich nach zwanzigjähriger Forschungsarbeit und Geschichtspolitik stellen mag. Jessen will keine Indizien dafür sehen, dass der deutsche Forschungs- und Aufarbeitungsboom das Gegenteil von dem erreichen könnte, was er erreichen will.

Einen dritten zu berücksichtigenden Sachverhalt führt Jessen an, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen „den Erinnerungen der Zeitgenossen, dem wissenschaftlichen Wissen der Historiker und den politischen Deutungen der Vergangenheit“ (S. 308). Da sich nicht wenige frühere Bürger der DDR durch ihr Erinnerungswissen für Experten in eigener Sache halten, schirmen sie sich häufig gegen die Deutungsversuche und -ansprüche von Historikern ab. Dies umso mehr, wenn diese aus dem Westen stammen. So mancher, die Rezensentin eingeschlossen, hat eine solche Erfahrung nicht nur mit Zeitzeugen gemacht, sondern auch bei der Vorstellung und Diskussion von Forschungsergebnissen vor einer breiteren Öffentlichkeit in den neuen Bundesländern.

Unabhängig von den medialen Wellen, die der „Ostalgie“ nicht selten Vorschub leisten, bleibt die Beobachtung einer Kluft zwischen kollektivem Gedächtnis und der erforschten – und gelehrten – Geschichte. Ob sie – wenigstens annäherungsweise – zu vermindern ist, muss die Zeit zeigen. Umso wichtiger ist es, die DDR in all ihren Facetten weiter zu untersuchen und sich nicht einseitig auf Herrschaftsstrukturen und Unterdrückungsapparat zu beschränken, so wichtig dies auch ist. Das Lesebuch mit seinen Geschichten, die mehr sind als Skurrilitäten oder Absurditäten, auch wenn die Titel (z. B. „Mit »Blitz« und »Donner« gegen den Klassenfeind“, „Mit dem Rollschinken nach Utopia“, „Die Geschichte der individuellen Kuh“) so etwas suggerieren. Erreicht wird damit Neugier, was sich dahinter verbergen mag. Die Untertitel sagen es dann schon. Den Herausgeberinnen und/oder dem Lektorat sei auch dafür gedankt. Nicht zuletzt dadurch ist ein Lesebuch und kein wissenschaftlicher Reader entstanden. Auch so kann man also wissenschaftliche Ergebnisse präsentieren (und vermitteln?).

Anmerkungen:
1 So z. B. über die Jugendmode Ende der Sechzigerjahre, in: FR-online.de, 19.07.2008; oder auch über das Kreuzfahrtschiff „Fritz Heckert“, in: Spiegel-online, 18.12.2008.
2 Vgl. Anette Kaminsky (Hrsg.), Orte des Erinnerns: Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Bonn 2004.

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