V.G. Liulevicius: War Land on the Eastern Front

Titel
War Land on the Eastern Front. Culture, National Identity and German Occupation in World War I


Autor(en)
Liulevicius, Vejas Gabriel
Reihe
Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare 9
Erschienen
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
£37.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bert Hoppe, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Ludendorff und die Deutsche Leitkultur im Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg erscheint in der Forschung bislang als ein weitgehend "westliches" Phänomen: An der Westfront materialisierte zum einen das industrielle Töten in der bis dahin ungekannten Form des jahrelangen Stellungskrieges, der in Romanen wie Jüngers "In Stahlgewittern" und Remarques "Im Westen nichts Neues" seinen literarischen Niederschlag fand. Zum anderen wurde mit der Propagierung des "Geistes von 1914" der vermeintliche Gegensatz zwischen der rein technokratischen "Zivilisation" des Westens und der durchgeistigten deutschen "Kultur" thematisiert. Diese Blickrichtung brachte es mit sich, daß das Geschehen im Westen von Historikern mehr Aufmerksamkeit erfuhr, als der scheinbar "konventionellere" Krieg an der Ostfront 1.

Doch die Erfahrungen, die die Deutschen während des Krieges im Osten machten, so Vejas Gabriel Liulevicius in seinem Buch "War Land on the Eastern Front", waren auf ihre Weise ebenso bedeutsam, wie die Erfahrungen an der Westfront. Denn während vor Verdun der Mythos eines in den Schützengräben gehärteten Neuen Menschen entstand und das Bild des Erzfeindes Frankreich lediglich neue Facetten erhielt 2, stiessen die deutschen Armeen im Osten in ein Land vor, das den meisten Soldaten vollkommen unbekannt war und über das bestenfalls vage Vorurteile bestanden. Die in den Jahren des Krieges gewonnenen Eindrücke konnten sich daher besonders tief einprägen und bestimmten auch langfristig das Bild, das sich die Deutschen vom Osten machten. In diesen Fronterfahrungen sieht Liulevicius das "verborgene Vermächtnis" (S. 1) des Ersten Weltkrieges, das sich die Nationalsozialisten nutzbar machten und radikalisierten.

Den deutschen Soldaten an der Ostfront erschienen die nach der Wende durch die Schlacht von Tannenberg eroberten Gebiete nicht nur unbekannt und fremd, sondern auch befremdlich. Liulevicius beschreibt, wie verstört die Eroberer auf die unendlich scheinende Weite der Landschaft und die undurchdringlichen Urwälder reagierten. Mehr noch als über die überwältigende Natur wunderten sich die Deutschen jedoch darüber, daß die Bevölkerung in der Region offensichtlich gar nicht daran dachte, das sumpfige Brachland trockenzulegen und die Wälder wirtschaftlich zu nutzen. Hierin liegt für Liulevicius bereits ein wesentlicher Unterschied der Erfahrungen an West- und Ostfront: Während die Konfrontation mit Frankreich und England durch das Gegensatzpaar "westliche Zivilisation" gegen vermeintlich überlegene idealistische "deutsche Kultur" ausgedrückt wurde, schien es für die Deutschen in den eroberten Randgebieten des Russischen Reiches nicht einmal eine Zivilisation zu geben: Die Region war in ihren Augen ein "Unland", das erst kultiviert werden musste.

General Erich Ludendorff, Stabschef des Oberbefehlshaber Ost Paul von Hindenburg, sah darin eine Chance: Die deutsche Armee konnte nun beweisen, daß sie nicht nur in der Lage war, ein besetztes Gebiet zu kontrollieren, sondern auch ihr kreatives Potential vorführen, indem sie eine Ordnung nach den eigenen, militärischen Vorstellungen schuf. Das Ergebnis war die Gründung von "Ober Ost", eines streng abgeschotteten Militärstaates auf dem Gebiet von Litauen, Kurland und eines Teiles von Weissrussland, der dem Zugriff ziviler Instanzen entzogen war. Ludendorffs "militärische Utopie", so führt Liulevicius aus, ging weit über traditionellen Konservatismus hinaus. Ober Ost sollte ein Beispiel für eine moderne Regierungsform sein - bürokratisch, technokratisch, rationalisiert und ideologisch. Unter dem Slogan der "Deutschen Arbeit" sollten "Land und Leute" kultiviert, d.h. vollständig umgestaltet und für die ständige Inbesitznahme vorbereitet werden.

Liulevicius unterscheidet zwei Wege, auf denen die Militärverwaltung auf dieses Fernziel hinarbeitete: Die "Verkehrspolitik", deren Aufgabe es vorrangig war, die Ressourcen und die Bevölkerung des besetzten Gebietes rationell zu erfassen und zum Nutzen der Deutschen mobilisieren, wurde durch das "Kulturprogramm" ergänzt, mit dem deutschen Soldaten und Einheimischen eine spezielle Form der Arbeitsteilung eingebleut werden sollte - die Deutschen als Organisatoren und die Einheimischen als blosse Ausführende der "Deutschen Arbeit", d. h. der Umformung der besetzten Gebiete gemäss einer spezifischen deutschen Leitkultur. Diese Arbeitsteilung, die auf dem bereits lange vor 1914 konstatierten angeblichen "Kulturgefälle" gegenüber Russland basierte, wurde schliesslich zur wesentlichen Legitimationbasis der Deutschen für ihre Anwesenheit im Osten.

Wenn die Deutschen auch bei Kriegsende einen positiven "Ausbeutungssaldo" in Ober Ost verbuchen konnten und sich die Besetzung dieser Region somit vorteilhaft auf die deutsche Kriegswirtschaft ausgewirkt hatte, so scheiterte die deutsche Militärverwaltung doch mit ihrem Ziel, das Gebiet auch langfristig an das Deutsche Reich zu binden. Liulevicius sieht die Ursache für dieses Scheitern nicht nur in der militärischen Niederlage begründet, sondern auch als Folge der inneren Widersprüche, an denen Ober Ost von Anfang an gelitten hatte. Sowohl in der Verkehrs-, wie auch in der Kulturpolitik verhinderten die hochfliegende Pläne der Militärverwaltung einerseits und die Verachtung für die "primitive" einheimische Bevölkerung und ihre rücksichtslose Ausbeutung anderseits, daß sich die Deutschen an die Realitäten in Ober Ost anpassten, und führten dazu, daß sie systematisch die anfänglichen Sympathien von Teilen der Bevölkerung verspielten. Versuche der Militärverwaltung, den Menschen das deutsche Verständnis von Disziplin, Bürokratie, Autorität aufzuzwingen, wurden von dieser als Schikane aufgefasst. Auch in der Frage des nationalen Bewusstseins machte sich ein bemerkenswerter Wandel bemerkbar. Hatten deutsche Soldaten zu Beginn des Krieges auf die Frage nach der Nationalität noch häufig Antworten vernommen wie: "Ich bin Christ" oder "Ich bin von hier", so wurden schliesslich selbst Bauern für die nationale Frage sensibilisiert, wenn ihnen das letzte Pferd konfisziert wurde.

Während die Besetzten die ihnen zugewiesene Dienstbotenrolle also zurückwiesen und stattdessen ein stärkeres nationales Selbstbewusstsein entwickelten, vollzog sich nach Meinung von Liulevicius auf der Seite der Deutschen eine umgekehrte Entwicklung: Die Begegnung mit dem ethnischen Flickenteppich, den sie in ihren gewohnten Kategorien nicht fassen konnten, verunsicherte die Besatzer in ihrem nationalen Selbstverständnis. Die Deutschen verwirrte nicht nur, daß die Frage der Nationalität für die Einheimischen teilweise ohne Belang war, weil sie sich eher nach ihrer Religion definierten oder ihnen Ludendorffs Blick auf das "grosse Ganze" abging. Sonderbar war in deutschen Augen auch der Voluntarismus des Nationalitätsbegriffes: Da gab es national gespaltene Familien oder Personen, die von den einen als Polen, von anderen aber als Litauer gesehen wurden. Dieses Durcheinander machte den Deutschen, Liulevicius zufolge, zu schaffen, da ihre eigene nationale Identität noch ein junges Konstrukt war. Liulevicius sieht daher in dem Konzept der "Deutschen Arbeit" auch eine integrierende Funktion: Die Deutschen sollten durch die Umgestaltung von Ober Ost eine neue Identität als überlegende Gestalter erhalten.

Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese Verunsicherung tatsächlich so beherrschend war, zumal Liulevicius selbst zahlreiche Belege dafür anführt, daß die Besatzer durch die Konfrontation mit der nach ihrer Ansicht niedriger stehenden Kultur in den besetzten Gebieten sich in ihrer nationalen Identität eher gestärkt fühlten. So notierte beispielsweise Viktor Klemperer nach einem Besuch in einem ostjüdischen Schtetl: "Nie war ich so froh, ein Deutscher zu sein."

Bemerkenswert ist der Wandel des Bildes vom Osten, der sich vor dem Hintergrund der Beobachtungen in den besetzten Gebieten innerhalb der Militärverwaltung vollzog. So wurde der prägende erste Eindruck von Gewalt, Chaos und Krankheit vielfach weniger als Folge des Krieges, denn als ein dauerhaftes Kennzeichen von "Land und Leuten" gesehen. Die 1916 vom deutschen Oberkommando publizierte "Völkerverteilungskarte" suggerierte, daß Ober Ost ein Gebiet sei, das aufgrund seiner chaotischen ethnischen Struktur einer ordnenden - eben deutschen - Hand bedürfe. "Aus der ethnographischen Situation entstehen von ganz allein politische Probleme," hiess es im Vorwort zu der Karte, "Es bleibt dem Leser überlassen, die Schlussfolgerungen zu ziehen." (S. 94) Freiherr Wilhelm von Gayl, als Leiter der politischen Abteilung von Ober Ost die rechte Hand Ludendorffs, präsentierte der Reichsregierung in einem Memorandum 1917 seine Schlussfolgerungen. In seinem Bericht schlug er - mehr als zwanzig Jahre vor Theodor Schieder - die Verschiebung ganzer Bevölkerungsgruppen und die Schaffung kompakter Siedlungsgebiete für deutsche Wehrbauern vor.

Auf diese Weise wandelten sich die Kategorien, in denen der Osten gefasst wurde: Anstatt von "Land und Leuten", so Liulevicius, war nun von "Raum und Volk" die Rede, wobei Raum nun als etwas angesehen wurde, das tendenziell unendlich dehnbar war, sich also nicht mehr allein auf das engere Gebiet von Ober Ost beschränkte. Insbesondere nach dem Scheitern des Experimentes Ober Ost infolge der Niederlage Deutschlands sollten diese Kategorien ihre Wirkung entfalten. Überzeugt davon, "im Felde unbesiegt" gewesen zu sein, machten die deutschen Militärs, neben den innenpolitischen Gegnern, die gegenüber den kulturellen Errungenschaften der Deutschen undankbaren "Völkerschaften" in den besetzten Gebieten für ihre Niederlage verantwortlich und zogen daraus ihre Lehre, daß für ein "Volk ohne Raum" ein "Raum ohne Volk" vorteilhafter sei.

Der Wert der Untersuchung von Liulevicius liegt insbesondere darin, daß er es schafft, die Ursachen für den Wandel des Bildes, das sich die Deutschen vom Osten machten, zu analysieren und die Verbindungslinien zwischen den Vorstellungen der Militärverwaltung von Oberost und denen der späteren NS-Elite nachzuzeichnen. Auf diese Weise gelingt es ihm, die in den Erfahrungen während des Ersten Weltkrieges liegende Grundlage für die während des Zweiten Weltkrieges im "Generalplan Ost" gipfelnden Pläne aufzuzeigen, die in der Diskussion um die Rolle der Historiker als "Vordenker der Vernichtung" kaum erwähnt wurden.

Weniger gelungen erscheinen hingegen die Deutungen der Haltung und Sichtweisen der breiten Masse der deutschen Soldaten gegenüber dem Osten. So ist es beispielsweise zweifelhaft, ob das "going native" von deutschen Soldaten in abgeschiedenen Etappe im tiefen Litauen für die deutsche Militärverwaltung tatsächlich ein brennendes Problem war. Die Aufforderung an die Soldaten: "Bleibe deutsch! Wenn Du Dich erholen oder ausruhen willst, geh ins Soldatenheim." wird ihre Ursache kaum darin gehabt haben, daß Ludendorff fürchtete, dereinst eine Siegesparade mit litauisch sprechenden Soldaten anführen zu müssen. "Deutsch bleiben" war in diesem Fall wohl kaum wörtlich gemeint, sondern spielte eher auf die Freizeitalternativen der Soldaten an: Besuch im Bordell oder ein Abend im Lesezirkel. Lebensläufe wie die des Schriftstellers Viktor Jungfer, der aufgrund seiner Enttäuschung über die Praxis der deutschen Besatzungspolitik in Ober Ost nach dem Krieg die litauische Staatsbürgerschaft annahm und seinen Namen in Viktoras Jungferis änderte, dürften die absolute Ausnahme geblieben sein. Meistens lebten Besatzer und Besetzte weitgehend in parallelen Welten, die - wie Liulevicius selbst darlegt - kaum Berührungspunkte aufwiesen. Ein Problem des Buches stellt in dieser Hinsicht die einseitig ausgerichtete Quellengrundlage dar: Die von Liulevicius angeführten Tagebücher und Memoiren stammen in der Regel von Militärs in höheren Rängen und Intellektuellen und geben somit in erster Linie Auskunft über den Elitendiskurs, während Liulevicius beispielsweise kaum Feldpostbriefe einfacher Soldaten ausgewertet hat.

Schwerer wiegen jedoch die konzeptionellen Mängel, da Liulevicius augenscheinlich mit der Gliederung seines Stoffes Probleme hatte. Seine Darstellung vermag zwar Stimmungen und Eindrücke der deutschen Soldaten vor dem Leser lebendig werden lassen, doch fehlt dem Buch der notwendige Spannungsbogen: Vor allem in der ersten Hälfte des Buches entwickelt Liulevicius seine Thesen nicht kontinuierlich weiter - stattdessen kommt es zu thematischen Überschneidungen, was sich in teilweise wortgleichen Wiederholungen von einzelnen Passagen oder Zitaten äussert, die dem Leser so manches déjà-vu-Erlebnis bescheren. Zudem werden Widersprüche - wie die zwischen Irritation und Bestärkung der nationalen Identität der deutschen Soldaten durch ihre Erfahrungen im Osten - kaum thematisiert, geschweige denn diskutiert. Schliesslich finden sich eine Reihe überspitzter Interpretationen, bei denen Liulevicius über seine impressionistische Vorgehensweise stolpert, so beispielsweise, wenn er die Verwendung des Begriffes "Raum" in einen kausalen Zusammenhang mit dem Verb "aufräumen" setzt. Ein kritischerer Lektor hätte dem Buch gut getan.

Anfängliche Begeisterung weicht daher bald der Ernüchterung, so daß die Lektüre trotz einer Reihe von anregenden Thesen letztlich nicht befriedigt.

Anmerkungen:
1 Vgl. den als repräsentativen Querschnitt durch die Forschung angelegten Sammelband Wolfgang Michalka (Hg), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994.
2 Vgl dazu: Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension