Titel
Schillers Schädel.


Autor(en)
Schöne, Albrecht
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
110 S.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bardo Fassbender, Institut für Völker- und Europarecht, Humboldt Universität zu Berlin

Ausgangspunkt dieser kleinen Arbeit von Albrecht Schöne, der Druckfassung eines vor der Göttinger Akademie der Wissenschaften im November 2001 gehaltenen Vortrags, ist eine Eintragung Goethes in sein Tagebuch für den 24. September 1826: „Meldeten sich Schröter und Färber mit dem Schillerischen Schädel.“ Dieser knappe Bericht von einer in der Tat merkwürdigen Begebenheit bietet Schöne, emeritiertem Professor der Deutschen Philologie an der Universität Göttingen, Anlaß, mehrere Geschichten kunstvoll ineinander zu verweben: Geschichten von Schillers Grablegung und dem weiteren Schicksal seiner sterblichen Überreste, von Goethes Interesse eben daran vor dem Hintergrund seiner bekannten Scheu vor der Sphäre des Todes einerseits und seiner Beschäftigung mit einer am Ende des 18. Jahrhunderts verbreiteten Hirn- und Schädellehre andererseits; Geschichten schließlich von einer angeblichen Ermordung Schillers durch „Freimaurer und Juden“ und einer Goetheschen Mitwisserschaft sowie - etwas am Rande - vom Umgang der DDR mit Goethes Leichnam. Das alles mündet in eine ausführliche (S. 55-77) Interpretation des mit der Zeile „Im ernsten Beinhaus war’s wo ich beschaute“ anhebenden Gedichts Goethes vom September 1826, dem Eckermann 1833 in der Ausgabe letzter Hand eigenmächtig die Überschrift „Bei Betrachtung von Schillers Schädel“ gab, und das Schöne „das letzte der großen naturphilosophischen Altersgedichte Goethes“ nennt (S. 55).

Friedrich Schiller starb am 9. Mai 1805. Zwei Tage später wurde sein Leichnam bei Nacht und ohne jedes Zeremoniell in die Gruft des sogenannten Kassengewölbes auf dem alten Weimarer Jakobskirchhof herabgelassen. Als im Jahre 1826 im Kassengewölbe Raum für neue Beisetzungen geschaffen werden mußte, verfügte sein Eigentümer, das Landschaftskassen-Direktorium, es solle bei dieser Gelegenheit auch „der Sarg des Hofrats Schiller aus diesem Gewölbe wieder herausgehoben werden“ (S. 14). Dies geschah wohl, um dem Wunsch Charlotte von Schillers zu entsprechen, Friedrichs Überreste auf den 1818 eingerichteten neuen Friedhof zu verbringen, damit sie dereinst neben ihm bestattet werden könne, vielleicht aber auch, weil man die Bestattung des Dichters in einem Sammelgrab inzwischen als unangemessen empfand. Die Identifizierung der Überreste stellte sich aber als schwierig heraus, wie Schöne schreibt: In der feuchten unterirdischen Gruft waren die übereinandergestapelten Särge zerborsten und verfallen, die Leichen (wenigstens zweiundfünfzig waren hier vor Schiller beigesetzt worden, und nach ihm noch weitere vierundzwanzig) in Verwesung übergegangen. Nach einem Bericht des bei der Suche anwesenden Weimarer Bürgermeisters Karl Leberecht Schwabe durchwühlte man im März 1826 ein „Chaos von Moder und Fäulnis“, ohne „Gewißheit und Wahrheit darüber zu erlangen, welches hier die irdischen Überreste Schillers seien“. Schließlich ließ Schwabe dreiundzwanzig Schädel, die man hatte bergen können, in seine Wohnung tragen. Dort wurde dem Bürgermeister eine jähe Erleuchtung zuteil: „Ich stellte sie alle auf eine Tafel; kaum aber, daß dieses geschehen war, konnte ich auch schon ausrufen, auf den größten Schädel zeigend: ‚Das muß Schillers Schädel sein!‘“ Dieser Schädel nun wurde (zusammen mit einigen Schiller zugeordneten Knochen) auf Wunsch des Großherzogs Carl August in der Großherzoglichen Bibliothek in einem hölzernen Piedestal unter der lorbeerbekränzten Schillerbüste Heinrich Danneckers eingeschlossen. Schöne beschreibt das Geschehen - die wunderbare Auffindung des Schädels im Verwesungschaos, den Echtheitsbeweis durch die Erleuchtung des Bürgermeisters und die Zurschaustellung des Schädels in der Bibliothek - überzeugend als dem „Strukturmodell des christlichen Heiligen- und Reliquienkultes“ folgend (S. 21 f.).

Goethe, der die Oberaufsicht über alle Anstalten für Wissenschaft und Kunst des Großherzogtums führte, ließ den Schädel im September 1826 in sein Haus bringen, wo er ihn bis Ende August 1827 behielt, als ein Besuch König Ludwigs von Bayern in Weimar die rasche Rückführung in die Bibliothek erforderlich machte, wo der Schädel dem König präsentiert wurde. Offenbar war Ludwig von dieser Form der bibliothekarischen Verwahrung wenig angetan, denn am 27. September 1827 ordnete der Großherzog an: „Es wird so verschiedentlich über die Aufbewahrung der Schillerschen Relikten (...) auf hiesiger Bibliothèque hin und her geurteilt und meistens wohl mißbilliget, daß ich es für ratsam halten möchte, selbige in dem Kasten, in welchem sie liegen, (...) in die Familiengruft einstweilen setzen und aufheben zu lassen, welche ich für mein Geschlecht auf dem hiesigen neuen Friedhof habe bauen lassen (...)“ (S. 28 f.). So wurden Schädel und Knochen am 16. Dezember 1827 in die Fürstliche Begräbnisstätte überführt.

Im Haus am Frauenplan sah im Dezember 1826 Wilhelm von Humboldt den Totenschädel: „Jetzt liegt er auf einem blausamtenen Kissen, und es ist ein gläsernes Gefäß darüber, das man aber abnehmen kann. (...) Wir hatten einen Gipsabguß von Rafaels Schädel daneben.“ (Brief Humboldts an seine Frau vom 29. Dezember 1826). Bezeichnenderweise sah sich schon Humboldt veranlaßt, diesen Umgang Goethes mit den sterblichen Überresten seines Dichterfreundes zu verteidigen: „So, liebe Li, wirst Du auch nichts hierin finden, das irgendeine Zartheit verletzte.“ (S. 39) Schöne weist im einzelnen nach, in welcher Weise dieses Studium des Schädels von Goethes langjährigem Interesse an einer „vergleichenden Knochenlehre“ (das 1784 zu seiner Entdeckung des Zwischenkieferknochens geführt hatte) und seiner Beschäftigung mit der „Phrenologie“ (Schädellehre) des Wiener Arztes Franz Joseph Gall (1758-1828), welche die geistig-seelischen Anlagen des Menschen in äußeren Formeigentümlichkeiten von Schädel und Gesicht zu erkennen glaubte (Brockhaus), inspiriert war. Freilich sei, so Schöne, Goethes ursprüngliche Begeisterung für die Gallsche Lehre (Goethe nahm im Juli 1805 in Halle an Vorlesungen und Hirnuntersuchungen Galls teil) im Laufe der Jahre einer distanzierteren, „eher etwas spielerische(n)“ Haltung gewichen (S. 51 f.).

Im Jahre 1883 erwies eine „auf quantitative Morphologie gegründete Identifizierungstechnik“ den Schädel als unecht (S. 23). 1911 wurden aus dem mittlerweile zugeschütteten Kassengewölbe noch einmal dreiundsechzig Schädel ausgegraben. Nach aufwendigen Studien und Untersuchungen bezeichnete eine Gutachterkommission der Anatomischen Gesellschaft einen von ihnen als den Schillerschen. So befindet sich seit 1914 in der Weimarer Fürstengruft, wo „nebeneinander die Eichensarkophage Schillers und Goethes aufgestellt sind, (...) abseits und ohne Namensaufschrift, ein unscheinbarer Sarg mit diesem zweiten Schillerschädel und den ihm zugeordneten Knochenresten - wie man von Verdoppelungen, ja Vervielfachungen zumal bei kleinteiligen Reliquien eines Heiligen (...) weiß“ (S. 23). Eine DNA-Analyse, die heute wahrscheinlich die Echtheitsfrage lösen könnte, hat die Stiftung Weimarer Klassik bisher abgelehnt, wohl in der nicht unberechtigten Befürchtung, beide Schädel könnten sich als unecht erweisen.

Am Schluß des Textes, der mit ausführlichen Anmerkungen versehen ist (S. 81-110), steht, Zeile für Zeile, die Interpretation des anfangs genannten Gedichtes „Im ernsten Beinhaus war’s ...“, das Schöne nach einer im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv befindlichen Fotografie der Goetheschen eigenhändigen Reinschrift neu ediert hat (S. 78 f.). „Ausgelöst durch den ersten Anblick des Totenschädels ist da (am 25. und 26. September 1826) in wenigen Stunden aus der Mutterlauge all dessen, was sich über Jahrzehnte hin an Entdeckungen und Erfahrungen, Erlebtem und Bedachtem zusammengefunden hatte, in einem unerhörten Produktionsschub und Transformationsprozeß das letzte der großen naturphilosophischen Altersgedichte Goethes hervorgegangen.“ (S. 55) Es formuliert allgemeine Einsichten des Dichters, weshalb Schillers Name und die Vorgänge, die zu dem Gedicht Anlaß gaben, ungenannt bleiben (vgl. S. 60).

Szene des Gedichts ist ein „ernste(s) Beinhaus“ mit „in Reih‘ geklemmt(en)“ Schädeln, „kreuzweis‘“ liegenden „derbe(n) Knochen“ und „entrenckte(n) Schulterblätter(n)“. Schöne zeigt, daß Goethe sich hier an seine zweite Schweizer Reise und die Besichtigung des Beinhauses von Murten (französisch Morat) im Jahre 1779 erinnerte. In diesem Ort des Kantons Freiburg (Fribourg) waren die Gebeine von vielen tausend burgundischen Soldaten, die 1476 beim Sieg der Eidgenossen über Karl den Kühnen in der Schlacht von Murten gefallen waren, in ein 1485 vollendetes (und 1798 von den Franzosen wieder abgerissenes) „Beinhaus-Mahnmal“ (S. 57) verbracht worden. Goethe schrieb damals an Charlotte von Stein: „Wir kamen tüchtig im Regen nach Murten ritten aufs Beinhaus und ich nahm ein Stükgen Hinterschädel von den Burgundern mit.“ (S. 56)

Dieser erinnerte Ort wird Goethe zu einem Sinnbild der Vergänglichkeit und der Vergeblichkeit menschlicher Anstrengung: „was sie trugen?/ Fragt niemand mehr; und zierlich thätige Glieder,/ Die Hand, der Fuß zerstreut aus Lebensfugen.“ Doch „in Mitten solcher starren Menge“ wird nun dem lyrischen Ich eine Offenbarung zuteil (ähnlich der „historischen“ des Bürgermeisters Schwabe): Es „gewahrt“ „unschätzbar herrlich ein Gebild“, welches es „in des Raumes Moderkält und Enge (...) frey und wärmefühlend (...) erquickte/ Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge“. Im „Gebild“, einem bestimmten Schädel, erkennt der Dichter den Menschen wieder: „Wie mich geheimnißvoll die Form entzückte!/ Die gottgedachte Spur; die sich erhalten!“ Das „geheim Gefäß“ in der Hand haltend, den „höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend“, wendet sich das Ich „in die freye Luft, zu freyem Sinnen,/ Zum Sonnenlicht andächtig hin“ - zum Leben und zum Lebendigen also. Das Gedicht schließt mit vier Zeilen, die seine Haupt-Einsicht so fassen: „Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen/ Als daß sich Gott=Natur ihm offenbare/ Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen/ Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.“

Ein Erstdruck des Gedichts erfolgte, noch zu Lebzeiten Goethes, 1829 in Cottas Taschenausgabe von „Goethe’s Werke(n) - vollständige Ausgabe letzter Hand“ (Bd. 23, S. 285 f.). Hier sowie in Cottas Oktavausgabe letzter Hand von 1830 (Bd. 23, S. 283 f.) erscheint das Gedicht, so Schöne, „unvermittelt und für die Leser entschieden rätselhaft, am Ende der 2. Fassung von ‚Wilhelm Meisters Wanderjahren‘, (...) abgehoben von der Frakturschrift des Romans durch Antiquadruck“ (S. 103). In diesem Zusammenhang erkennt Schöne den Impuls, der das Gedicht hervorgebracht habe: „Gegen den Anblick des Schillerschen Totenschädels (...), gegen dieses makabre Sinnbild des Todes (...) befestigte er (Goethe) sich mit der Maxime seines ‚Wilhelm Meister‘-Romans: ‚Gedenke zu leben‘! Der Todesmahnung, dem Sterblichkeitsgedenken des altchristlichen ‚Memento mori‘ nachgebildet und entgegengerichtet, waren diese Worte in den ‚Lehrjahren‘ zu lesen, auf einer marmornen Schriftrolle an eben dem Ort, wo die Sarkophage der Verstorbenen aufgestellt waren, wo auch Mignon aufgebahrt wurde“ (S. 61). Diese Deutung Schönes findet ihre Bestätigung in der Stelle eines Briefes, den Goethe am 27. September 1826, also am Tag nach der Verfertigung des Gedichts, an den Botaniker Nees von Esenbeck richtete: „Man mag so gern das Leben aus dem Tode betrachten und zwar nicht von der Nachtseite, sondern von der ewigen Tagseite her, wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird.“ (S. 76)

Die Arbeit verbindet in vorbildlicher Weise historische Forschung, philologische Gelehrsamkeit und narrative Kraft mit etwas, das man Altersweisheit des Autors (Schöne ist 1925 geboren) nennen könnte. Trotz der vielen Ex- und Inkurse ist Albrecht Schönes Text ein dichter. Der Autor sucht Spuren, Indizien und Wechselbezüge auf und kombiniert sie einsichtsvoll; so rekonstruiert er anhand des einen Gedichtes „Im ernsten Beinhaus war’s ...“ den geistigen Kosmos Goethes. Nur gelegentlich scheint er mir dabei in seinem Bemühen, zum Teil zeitlich erheblich auseinander liegende Äußerungen des Dichters als sich widerspruchsfrei ergänzend nachzuweisen, zu weit zu gehen. Das Buch verlangt mehrfache Lektüre, das Vor- und Zurückgehen im Text und das Mitdenken des Lesers, der für solche Mühe reich belohnt wird - im glücklichsten Falle mit Gedanken, die die Geschehnisse des Jahres 1826 ganz hinter sich lassen und sein eigenes Leben angehen.

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