L. Gall (Hrsg.): 150 Jahre Historische Kommission

Titel
"...für deutsche Geschichts- und Quellenforschung". 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften


Herausgeber
Gall, Lothar
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
382 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Berg, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Geschichte der Geschichtswissenschaften in Deutschland, in den vergangenen zwei Jahrzehnten Gegenstand einer regelrechten Forschungskonjunktur, wurde und wird aus durchaus nachvollziehbaren Gründen weit überwiegend anhand der Biographien bedeutender Historiker erzählt. Die Anzahl geschichtswissenschaftlicher Institutionen, denen eine selbständige Untersuchung gewidmet wurde, blieb überschaubar.1 Dass nun, anlässlich des 150. Jahrestages ihrer Gründung, die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sich ihrer Institutionsgeschichte zuwendet, ist umso erfreulicher. Der von Lothar Gall, seit 1997 Kommissionspräsident, herausgegebene Sammelband behandelt die Geschichte der Kommission in vorwiegend ihren Forschungs- und Editionsprojekten gewidmeten Aufsätzen.

In seinem den Band eröffnenden Beitrag mustert Lothar Gall die hundertfünfzigjährige Geschichte der Kommission in einem gerafften Überblick, weitgehend orientiert an den Editionsprojekten sowie den prägenden Persönlichkeiten der Historischen Kommission. Ranke, Sybel, Meinecke, Marcks, auch der heute fast vergessene Moriz Ritter – es wird schnell deutlich, dass in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens die Historische Kommission der geschichtswissenschaftlichen Elite Deutschlands weitgehend entsprach. Einsetzend bereits in den 1920er-Jahren, minderte spätestens die Auffächerung der Universitäts- und Forschungslandschaft in der frühen Bundesrepublik diese Vorrangstellung. Zudem war früh deutlich geworden, dass die umfänglichen, immer wieder ergänzten Editionsvorhaben zur deutschen Geschichte nicht von der Kommission allein zu bewältigen waren. Mit einem dezidiert selbstkritischen Blick widmet sich Gall dem Weg der Kommission bis ins 21. Jahrhundert. Zwar lassen sich in einem fünfzig Seiten umfassenden Überblick einer 150-jährigen Institutionsgeschichte aus vielerlei Perspektiven Lücken markieren, in der Summe informiert der Beitrag jedoch ausgewogen und angemessen über die allgemeinen Entwicklungslinien der Kommissionsgeschichte.

Rudolf Schieffer widmet sich gesammelt den Arbeiten der Historischen Kommission zur „Mittelalterlichen Geschichte“. Vor allem in der Frühphase der Kommission von einigem Umfang, sei bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so Schieffer, eine „fühlbare Erschöpfung“ (S. 71) diesbezüglicher Forschungen zu konstatieren. Sowohl der mittelalterlichen wie auch der Geschichte der Frühen Neuzeit zuzurechnen – und von anhaltender Bedeutung für die Tätigkeit der Kommission – war (und ist) die Edition der „Deutschen Reichstagsakten“. Als eines der bedeutendsten und teilweise für die Gründung der Kommission konstitutiven Forschungsvorhaben erfährt diese im Beitrag von Eike Wolgast die entsprechende Beachtung. Wolgast stellt sowohl die formulierten Ansprüche wie auch deren tatsächliche Realisierung ausführlich dar, und gibt zudem Auskunft zu den nur scheinbar profanen Herausforderungen der Editionstätigkeit, seien es die orthographischen Editionsprinzipien oder die vielfältigen Probleme der Drucklegung. Methodische Diskussionen, Arbeitskrisen, die Tätigkeit der Mitarbeiter und ihre teils prekäre Einkommenssituation, auch der besondere Einfluss des langjährigen Leiters Ludwig Quidde – im Beitrag Wolgasts wird am Beispiel der Reichstagsakten die Editionstätigkeit, eine der Hauptaufgaben der Historischen Kommission, plastisch und nachvollziehbar dargestellt.

Über die Forschungs- und Editionsprojekte zur „Territorial- und Herrschergeschichte als Reichsgeschichte im 16. und 17. Jahrhundert“ informiert der Beitrag von Helmut Neuhaus. Eher am Rande, und doch nicht minder von Interesse, legt sein Beitrag am Beispiel Moriz Ritters auch einen nicht ungewöhnlichen „Karriereverlauf“ innerhalb der Kommission offen: Als Mitarbeiter 1862 beginnend und später zum außerordentlichen und ordentlichen Mitglied gewählt (1883/1898), wurde Ritter 1901 Abteilungsleiter und schließlich 1908 Kommissionspräsident. Er blieb dies bis zu seinem Tod 1923, von seinen 83 Lebensjahren hatte er immerhin 61 in der Kommission verbracht. Folgend befasst sich Heinz Duchhardt mit den „wissenschaftlichen Aktivitäten der Historischen Kommission zum ‚langen‘ 18. Jahrhundert“, bereits im Titel fragend, ob dieses als „vernachlässigte Epoche“ anzusehen sei. Die selbst gestellte Frage bejaht Duchhardt und berichtet von einer Reihe gescheiterter, aber gleichwohl zur Geschichte der Kommission zu zählender Forschungsvorhaben. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts initiierte die Kommission einige nicht nur geplante, sondern tatsächlich durchgeführte Projekte zum „langen“ 18. Jahrhundert. Dass sich dieser Wandel, wie Duchhardt überzeugend darlegt, nicht zuletzt dem Interesse und der Durchsetzungsfähigkeit führender Kommissionsmitglieder verdankt, verweist auf einen die Geschichte der Kommission wie den hier besprochenen Band durchziehenden, im Grunde banalen Befund: die „freie Gelehrtenvereinigung“ steht und fällt mit dem Rang, den Positionen und den Vorlieben der ihr angehörenden Gelehrten. Vielleicht, so ist anzumerken, wäre eine fortgesetzte Untersuchung der Kommissionsgeschichte noch stärker biographisch zu grundieren.

Als ausgesprochen kritische Zwischenbilanz hat Dieter Langewiesche seinen Beitrag über die sozialgeschichtlichen Editionen der Historischen Kommission angelegt. Die „Widrigkeiten ihrer Realisierung“, so Langewiesche bereits im Titel, begleiteten die wesentlich von Werner Conze initiierten Editionen von Beginn an. Vor allem, so Langewiesche, war die Finanzierung durch vorwiegend kurzfristige Drittmittel nicht mit dem Vorhaben einer langjährig zu erarbeitenden, Konstanz auch in der Mitarbeiterschaft erfordernden Edition zu vereinen. Auch avancierten andere Unternehmungen, in diesem Falle vor allem der „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“, zu den Zentren aktueller fachlicher Debatten. Die auf Editionen angelegte Tätigkeit der Historischen Kommission konnte hiermit nicht konkurrieren. Jedoch verortet Langewiesche die Schwierigkeiten bei der Realisierung sozialgeschichtlicher Editionen keineswegs nur extern, auch die Kommission selbst erhält mitnichten nur gute Noten. Zwar gesteht Langewiesche zu, dass der Forschung durchaus „grundlegendes Datenmaterial“ (S. 171) zur Verfügung gestellt wurde, spricht aber für den Bereich der Sozialgeschichte auch unmissverständlich von einem „Bedeutungsverlust“ der Kommission (S. 175). Im Grunde legt Langewiesche den Finger in eine bis heute offene Wunde: „[L]angfristige Aufgaben müssen mit Mitteln kurzer Dauer finanziert werden“. Was in anderen Lebensbereichen als „unseriös“ gelten würde, ist in „notorisch unterfinanzierten Wissenschaftsbereichen“ (S. 193) mittlerweile Normalität. So sehr der schonungslose Beitrag Langewiesches im Rahmen einer Jubiläumsschrift erstaunt, so sehr gereicht er eben dieser auch zur Ehre, denn er identifiziert an einem Forschungsbereich der Historischen Kommission die Genese eines strukturellen Problems, das die Geschichtswissenschaft seitdem in zunehmendem Maße beschäftigt.

Mit den „Deutschen Geschichtsquellen“ wendet sich Klaus Hildebrand einem der prominentesten Editionsprojekte der Historischen Kommission zu. Dieses sollte nicht zuletzt für die Kommission in der als krisenhaft wahrgenommenen Kriegssituation um 1916 ein „zweites Zentrum ihrer Existenz neben der Edition der Reichstagsakten“ (S. 199) begründen. Bei allen Zugeständnissen, Abstrichen und Modifikationen ist dies durchaus gelungen, wie Hildebrand überzeugend zeigen kann, auch wenn der am Beginn stehende, umfassende Gesamtplan zu keinem Zeitpunkt umsetzbar war. Aus dem Kontext der „Geschichtsquellen“ gingen zudem seit den 1960er-Jahren neu initiierte „Erfolgsprojekte“ wie die Edition der „Akten der Reichskanzlei“ oder die der „Protokolle des Bayerischen Ministerrats“ hervor. Der Beitrag Hans Günter Hockerts` umfasst anhand der Entwicklung der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB) und der Neuen Deutschen Biographie (NDB) nochmals die gesamte, hundertfünfzigjährige Kommissionsgeschichte. Bereits bei der Gründung der Kommission 1858 in Aussicht genommen, wurde die ADB im 19. Jahrhundert zum „nationalen Denkmal“ stilisiert. Gemäß der Kommission selbst sollte die ADB zur „nationalen Bewußtseinsbildung und zur Entwicklung des Nationalgefühls“ beitragen (S. 232). Hockerts hebt besonders den Wert der ADB als wissenschaftsgeschichtlich ergiebiges „Zeitdokument“ hervor. Ihre kaum überraschende Zeitgebundenheit verdeutlicht er sehr aufschlussreich am Umgang der Kommission mit der in den 1920er-Jahren auf den Plan tretenden „Deutschen Akademie“ bzw. mit deren biographisch orientiertem Vorhaben zum „Auslandsdeutschtum“. Eine längst überfällige Neubearbeitung der ADB wurde, wesentlich geprägt von Walter Goetz, noch während des Zweiten Weltkriegs in Angriff genommen. Diese ersten Schritte zur Begründung der NDB skizziert Hockerts vorsichtig, aber überzeugend als ein Projekt des Übergangs, als Vorgriff auf eine noch weitgehend unklare Nachkriegszeit. Deren Verwerfungen verschonten auch die geplante NDB nicht, doch gelang schließlich – nicht zuletzt unterstützt vom ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss – ihre Etablierung. Mit der Darstellung neuerer, durchweg anspruchsvoller Herausforderungen an biographische Lexika beschließt Hockerts seinen informativen und spannenden Beitrag. Komplettiert wird der Band durch eine von Karl-Ulrich Gelberg erarbeitete Aufstellung der Mitglieder der Historischen Kommission, ihrer Präsidenten, Sekretäre und Abteilungsleiter sowie sämtlicher Veröffentlichungen.2

Die Beiträge des Bandes informieren zuverlässig und präzise über wesentliche Editions- und Forschungsprojekte der Historischen Kommission zwischen 1858 und 2008. Obwohl als Jubiläumsschrift konzipiert, bleiben kritische Perspektiven keineswegs ausgespart. Die Darstellung von Krisen, gescheiterten Projekten, Irrwegen und Desideraten ist vielmehr wissenschaftshistorisch als besonders gewinnbringend anzusehen. Nun ist der vorliegende, überaus gelungene Band nicht an Ansprüchen zu messen, die er für sich selbst nicht erhoben hat. Wenn gleichwohl eine monographische Kommissionsgeschichte als wünschenswert zu bezeichnen ist, so zählt dies zu den Ergebnissen dieses Bandes, der dezidiert auf die Unternehmungen der Kommission konzentriert ist, aber zu weiteren Überlegungen anregt. Denn es sind durchaus in allen Beiträgen des Bandes kennzeichnende, jedoch in dieser Form nicht zu verknüpfende Aspekte der Kommissionsgeschichte zu identifizieren, die eine eigenständige Untersuchung lohnend erscheinen lassen: sei es der fachliche Wandel innerhalb der Geschichtswissenschaft, die ausdrückliche Orientierung auf öffentliche Wahrnehmung oder der für die Geisteswissenschaften noch wenig thematisierte Begriff der Grundlagenforschung. Auch die Rolle der Kommissionssekretäre als Organisatoren des alltäglichen Geschäfts – insbesondere vor der Zeit allgegenwärtiger Kommunikation – könnte gewinnbringend betrachtet werden. Doch sind diese Überlegungen, wie gesagt, lediglich als Anregungen zu verstehen. Schließlich verdeutlicht die hundertfünfzigjährige Geschichte der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften auch, vielleicht ein Trost für die Gegenwart, dass die heute so virulenten Krisenfragen schlicht Wiedergänger sind. Nach der Krise, so scheint es, ist immer auch vor der Krise.

Anmerkungen:
1 Hingegen Matthias Middell, Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890-1990, Leipzig 2005.
2 Ergänzend hinzuweisen ist auf eine ausführliche, von Helmut Neuhaus erstellte Chronik: Ders., 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Eine Chronik, München 2008.