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Titel
Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute


Autor(en)
Radkau, Joachim
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
533 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wengenroth, Technische Universität München

Nach 19 Jahren bietet uns Joachim Radkau eine, wie es im Klappentext heißt, „umfassend überarbeitete[n] und aktualisierte[n] Neuausgabe“ seiner im Jahre 1989 und lange darüber hinaus singulären Technikgeschichte Deutschlands seit dem 18. Jahrhundert. Das Buch ist in seiner Grundanlage unverändert. Neu hinzu gekommen sind drei Kapitel: ein der alten Einleitung vorgeschaltetes Kapitel mit dem Titel „Technik neu durchdenken – Apologie der Technikgeschichte“, ein am Schluss angefügtes Kapitel über „Deutsche Wege und Sackgassen in der Technikgeschichte der DDR“ und ein neues Resümee „Homo faber, homo ludens, homo sapiens – und die Frage der Synergie“. Zwischen diesen neuen Texten am Anfang und am Ende findet sich die vertraute „Technik in Deutschland“ in überarbeiteter und aktualisierter Form. Darauf konnte man gespannt sein. Was ist neu und was ist anders?

Wer hinter der Überschrift der neuen Einleitung „Technik neu durchdenken“ eine Integration neuer Forschungsfragen der Technikgeschichte seit dem Erscheinen der ersten Auflage erwartet hatte, sieht sich schnell korrigiert. Radkau macht seine Skepsis gegenüber Sozialkonstruktivismus und Diskursgeschichte sehr deutlich. Kulturhistorische Ansätze, die sich der Rezeption des kulturanthropologischen Relativismus und ethnomethodologischer Forschung in den Sozialwissenschaften verdanken, bleiben gänzlich unerwähnt. Genauso geht es der Geschlechtergeschichte und den diversen „turns“ von „linguistic“ bis „iconic“ oder auch allen Spielformen der Netzwerktheorien. Sie gehören nicht zu Radkaus Welt. Und viele TechnikhistorikerInnen, die in den vergangenen Jahren diesen Ansätzen in neue Forschungsfelder gefolgt sind, werden sich darum kaum in Radkaus Beschreibung der Zunft wiederfinden: „Der heutige Technikhistoriker bewegt sich gewöhnlich in einem Dreieck zwischen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Umweltgeschichte. Auch ich navigiere seit Jahrzehnten in diesem Dreieck.“ (S. 17) Kein Wunder, dass er die „heute modische Entmaterialisierung der Historie“ weit von sich weist (S. 16).

Radkau bleibt seinem alten Ansatz treu und sieht ihn in Werner Abelshausers „deutschem Produktionsregime“ kongenial aufgehoben, das nicht nur ein analytisch fruchtbares, sondern auch normativ begrüßenswertes Konzept sei: „Beide sind wir von dem Bewusstsein getragen, es mit deutschen Traditionen zu tun zu haben, die gegenwärtig unter Kurs gehandelt werden.“ (S. 18) Kritische Einwände gegen diese durchgängig positive Bewertung deutscher Technik, wie etwa auch die „Käfigthese“ des Rezensenten für die Zeit vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre, haben Radkau nicht überzeugt.

Radkaus große Erzählung der Technik in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert bleibt in Inhalt und Interpretation bei ihrer vertrauten Botschaft, spitzt sie allenfalls noch zu. So werden den Absätzen im inhaltlich kaum veränderten Text gelegentlich neue, bekräftigende Schlusssätze angefügt oder auch einfach nur ein Punkt durch ein Ausrufezeichen ersetzt. Doch viel Neues erfahren wir nicht. Auch die Durchsicht der Belege zeigt, dass wir es hier im Wesentlichen mit dem Literaturstand der Erstauflage zu tun haben. Nach meiner Auszählung wiesen nur deutlich weniger als 5 Prozent der Literaturnachweise zu den aus der 1989er Ausgabe übernommenen Kapiteln seit 1990 erschienene Titel auf. Die Überarbeitung wurde genutzt, um bekannte Fehler der ersten Ausgabe zu korrigieren, leider nicht immer mit großer Sorgfalt. So wurde z.B. zwar korrigiert, dass nicht die Kraftfahrzeugsteuer sondern die Mineralölsteuer eine Zweckbindung für den Straßenbau erhielt, doch noch im selben Satz heißt es nach dem Semikolon dann wieder fälschlicherweise „das wachsende Kfz-Steueraufkommen übte nunmehr einen permanenten Zwang zum Straßenbau aus“ (S. 344). Angemessener wäre hier sicher auch der Hinweis gewesen, dass die Mineralölsteuer nur zum Teil für den Straßenbau zweckgebunden ist und seit einigen Jahren vor allem die Rentenkassen stützt. So viel steuerrechtlicher Zwang zum Straßenbau, wie von Radkau immer noch nahegelegt, besteht eben doch nicht.

Ein weiteres Zeichen ungenügender Überarbeitung sind die unveränderten Hinweise auf „jüngste“ Entwicklungen, die sich auf das Jahr 1989 nicht aber auf das Erscheinungsjahr der vorliegenden Neuausgabe beziehen. So hat sich die Technikgeschichte nicht „in letzter Zeit“ mit Technik-Stilen beschäftigt (S. 41) sondern vor über 20 Jahren. Auch hat Wolfram Fischer nicht in „jüngster Zeit“ die Ergebnisse der Arbeitsproduktivitätstudien von Angus Maddison hervorgehoben sondern, wie der Beleg an dieser Stelle zeigt, das schon 1983 getan (S. 40, Anm. 1). Auch die Feststellung „In jüngster Zeit gilt ‚Combi-Tech’ … als deutsche Spezialität“ wurde ebenso unverändert aus der 1989er Ausgabe übernommen. Schließlich ist die „technikhistorische Forschung, so wie sie heute international etabliert ist“ ganz sicher nicht „zu einem Gutteil“ sondern nur noch in Ausnahmefällen „ein Produkt der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre“ (S. 41-42). Wenn letzteres zuträfe, dann hätte Radkau in der neuen Einleitung ja auch kaum einen Grund gehabt, sich gegen die nun wirklich jüngeren Tendenzen in der Technikgeschichte zu verwahren. Wir haben es also, abgesehen von Einleitung, Schlusskapitel und einem zusätzlichen Kapitel über die DDR, mit einer nur sehr wenig veränderten und kaum aktualisierten Fassung der Erstausgabe zu tun.

Wie Radkaus hervorgehobene Präferenz für das „Dreieck zwischen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Umweltgeschichte“ erwarten lässt, ist „Technik in Deutschland“ eine stoff- und produktionszentrierte Darstellung. Der im ersten, theoretisch orientierten Kapitel erläuterte „deutsche Weg“ wird vor allem anhand der im Vergleich zur Referenz Amerika sparsameren Rohstoffverwertung und Vermeidung maximaler Maschinisierung und Rationalisierung in der Produktion sowie einer insgesamt langsameren, „angepassten“ Entwicklung der Produktionstechnik dargestellt. Auch die am Ende dieses Kapitels diskutierten anthropologischen Kriterien werden ganz auf das Stoffliche konzentriert. „Ein technisch bedingter Wandel hat sich gerade in anthropologischen Qualitäten der Arbeit vollzogen. Daraus folgt nicht zuletzt die Bedeutung der Werkstoffe als ‚Leitfossilien’ der Periodisierung“. (S. 71)

Mit diesem Periodisierungsprinzip setzt die historische Erzählung im zweiten Kapitel ein. In der Kapitelüberschrift wurde im Zuge der durchgängig zu verzeichnenden Zuspitzung der Argumentation aus der „intensiven“ jetzt die „maximale Nutzung regenerativer Ressourcen“. Die vorindustrielle Zeit des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist das „hölzerne Zeitalter“, zu dem Radkau selbst ausführliche Forschungsergebnisse vorgelegt und in denen er sich vor allem gegen die in der früheren Literatur dominierende These von der Holzverknappung gewendet hat. In diesem hölzernen Zeitalter entstehen wichtige Voraussetzungen des späteren deutschen Produktionsregimes im Industriezeitalter. Dies sind Sparsamkeit und eine hohe Anpassungsfähigkeit neuer Technik an örtliche Gegebenheiten.

Das dritte Kapitel beschreibt die „formative Phase des deutschen Produktionsregimes“. In der ersten Ausgabe hieß es statt „Produktionsregime“ noch „Hochindustrialisierung“; der Inhalt ist jedoch nahezu identisch geblieben. Die „markante Zäsur“, die es rechtfertigt, von einer neuen Epoche zu sprechen, sieht Radkau darin, dass die „kinetische Energie der deutschen Industrialisierung […] sprunghaft zu[nahm]“ (S. 128). Ausgehend vom Eisenbahnbau sind die Techniker-Unternehmer in der bereits hoch spezialisierten Technik des Maschinenbaus, der Chemie und der Elektrotechnik die Protagonisten der neuen Zeit. Vor allem in Abgrenzung vom „Modell USA“ entwickelt Radkau hier die Spezifika deutscher Produktion, die nicht in die amerikanischen Dimensionen von Massenproduktion und Schnellbetrieb hineinwächst und stattdessen selbst in der Großindustrie stärker an handwerklichen Traditionen festhielt. „Die technische Spezialisierung entsprang mehr der Handwerker- als der Erfinder- und Unternehmermentalität“. (S. 203) Radkaus schon in der Einleitung betonte Skepsis gegenüber der historischen Triebkraft von Innovationen und überhaupt jedem Fortschrittsparadigma wird in diesem Kapitel besonders deutlich. Das deutsche Produktionsregime ist in seiner Darstellung eher traditionsgebunden als innovationsgetrieben. Gleichwohl versagt es auch gegenüber den nun auf breiter Front entstehenden Umweltproblemen der Produktion.

Die Zeit der Weltkriege konstituiert einen neuen „Zyklus“ in Radkaus Geschichte der deutschen Technik. „Die neue Technikgeneration ist nicht nur durch bestimmte Einzeltechniken, sondern auch durch Vernetzungen und Querverbindungen und durch Einbindung in Organisation und ‚System’ gekennzeichnet.“ (S. 239) Vor allem Elektrifizierung und chemische Synthese stehen für die Etablierung neuer „Technologiepfade“ und sich nach außen abschließender „communities“, in denen Radkau Vorboten jener technokratischen Starrköpfigkeit sieht, die dann das Fiasko der Kerntechnik in der Bundesrepublik herbeiführt. Der Amerikanismus von Massenproduktion und Rationalisierung findet bei Radkau keine Gnade. Das Menetekel der Unterauslastung und Arbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise wirkt schwerer als der Auftrieb des Massenkonsums in den 1920er-Jahren.

„An den Grenzen der Massenproduktion“ heißt das Kapitel deutscher Technikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Massenproduktion für den Massenkonsum ihre bislang größten Erfolge feierte. Radkau kommt es jedoch mehr auf die Grenzen dieses Phänomens an. In ihnen sieht er die Spezifika deutscher Technik besser repräsentiert. Ein Vierteljahrhundert industrieller Expansion gerade in der fordistischen Massenproduktion sieht er in einer Ergänzung zum alten Text in besondere Weise durch den Automatisierungsschub mittels der Mikroelektronik bedroht (S. 336). Gerade an solchen Stellen hätte man sich auch ein wenig Technikgeschichte des Konsums gewünscht, die Diskussion, was die damit einhergehende immense Steigerung des materiellen Wohlstandes außer Umweltschäden für die bundesdeutsche Gesellschaft, ihre kulturellen Werte und ihr Zusammenleben bedeutet hat. Selbst das Auto, expressive Konsumtechnik par excellence, figuriert nur als industrielles Produkt und Verursacher von Umweltveränderungen. Warum die Bundesbürger mit großer Begeisterung die im Vergleich zu ihren Einkommen immer billiger werdenden technischen Konsumgüter gekauft haben, was sie daran so begeisterte, warum das Eine mehr als das Andere, erfahren wir hier nicht.

Das neu angefügte, 17-seitige Kapitel über die Technikgeschichte der DDR kann angesichts des zwar deutlich besser werdenden aber letztlich immer noch problematischen Literaturstandes nur kursorisch sein. Etwas irritierend ist dagegen das neue Schlusskapitel über „homo faber, homo ludens, homo sapiens – und die Frage der Synergie“, das sich mit der jüngsten Entwicklung und aktuellen Problemen der deutschen Industrie beschäftigt. Es unterscheidet sich durch einen deutlich polemischeren Ton und vor allem in der zweiten Hälfte durch den häufigen Rückgriff auf die Tagespresse statt auf die gerade für die jüngste Vergangenheit wirklich zahlreiche wissenschaftliche Literatur von den aus der Erstauflage übernommenen Kapiteln. Radkau wettert, man kann es nicht anders bezeichnen, hier gegen die „Traditionsverachtung in der deutschen Industrie“ (S. 418ff.), die Aushöhlung und Zerstörung des von ihm so geschätzten deutschen Produktionsregimes durch Firmenzerschlagungen und den insgesamt unheilvollen Einfluss amerikanischen Finanzgebarens in der Wirtschaft. Achtundsechziger, rotgrüne Bundesregierung und Neoliberale stehen gemeinsam im Fokus seiner Kritik. Hier geht es sonst auch nicht mehr um Technikgeschichte sondern z.B. um die Unternehmensteuerreform, Entlassungen bei Konjunkturschwankungen und dergleichen. Bei aller Berechtigung von Polemik, die Positionen klarer werden lässt, muss man von ihr doch auch Konsistenz im Argument erwarten. Man weiß bisweilen nicht so recht, worüber man sich ärgern soll, wenn z.B. erst festgestellt wird, dass in der Bundesrepublik „die Krankenversicherungen nahezu unbesehen alle Therapien bezahlen“, um dann ein paar Zeilen weiter zu lesen, dass die Intensivmedizin „für den Durchschnittspatienten unbezahlbar wird“ (S. 416). Ein Unbehagen entsteht zudem bei solch anklagenden Sätzen: "Darf die Gesellschaft für das verlängerte Sterben der Greise hundertmal mehr ausgeben als für die Gesundheitserziehung der Kinder?" (S. 416) Dass ein Beleg für die "Rechnung" fehlt, stört dabei noch am wenigsten.

„Technik in Deutschland“ handelt unverändert von Produktion und Stoffen, jenem „Dreieck zwischen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Umweltgeschichte“, in dem die Wissenschaft der Wirtschaft dient und auf diesem Wege die Umwelt belastet. Wer diese stoffzentrierte Perspektive verfolgen will, wird Radkaus Synthese nach wie vor schätzen. Insofern ist „Technik in Deutschland“ ganz die Alte geblieben und, mit den genannten Einschränkungen für das Schlusskapitel, unvermindert lesenswert. Wer den neueren „Moden“ verfallen ist, findet dagegen keine vergleichbare Synthese.

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