J. Mittag: Kleine Geschichte der Europäischen Union

Cover
Titel
Kleine Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur Gegenwart


Autor(en)
Mittag, Jürgen
Reihe
Aschendorff Paperback
Erschienen
Münster 2008: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jacob Krumrey, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz

Noch vor wenigen Jahren fiel die Suche nach Einführungswerken zur Geschichte der europäischen Einigung schwer. Gerhard Brunn, Franz Knipping und Jürgen Elvert haben die Lücke mittlerweile geschlossen.1 Als englischsprachiges Überblickswerk ist besonders Desmond Dinans Buch zu nennen.2 Nun hat Jürgen Mittag, Historiker und Politikwissenschaftler, eine „Kleine Geschichte der Europäischen Union“ veröffentlicht, und fast könnte man fragen: noch ein Handbuch zur Integrationsgeschichte?

Mittag beginnt mit einem ideen- und begriffsgeschichtlichen Aufriss, der bis in die Antike zurückgeht und mit den Europa-Vorstellungen während des Zweiten Weltkrieges endet. Die folgenden beiden Kapitel behandeln die Europabegeisterung in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren, den Wettstreit unterschiedlicher Einigungskonzepte, die enttäuschende Entwicklung des Europarates und schließlich den alternativen Weg vom Schuman-Plan über die gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft bis hin zu den Römischen Verträgen von 1957/58. Als weitere Eckpunkte der Erzählung folgen die „Aufbaujahre“ mit ersten Erfolgen und ersten Schwierigkeiten in den 1960er-Jahren, die „Gratwanderung zwischen Krise und Reform“ in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren, schließlich die Gründung der Europäischen Union in Maastricht Ende 1991. Mittag geht insbesondere darauf ein, wie die überraschende deutsche Vereinigung einen besonderen Anreiz zu dieser deutlichen Vertiefung der Integration schuf. Die Darstellung reicht bis in die Gegenwart hinein: Mittag erörtert einerseits die Chancen und Risiken, die die Osterweiterung der Jahre 2004/07 mit sich brachte – aus naheliegenden Gründen bleibt die Diskussion knapp und vorläufig. Andererseits behandelt er das Zustandekommen, die Arbeitsweise und die Ergebnisse des Verfassungskonvents im Jahr 2004 sowie die anschließende Ratifikationskrise.3

Die Darstellung ist ausgeglichen und lässt sich keiner bestimmten Schule der Integrationshistoriographie zuordnen. Ein aufmerksamer Leser spürt zwar, dass Mittag die europäische Einigung eher für eine Erfolgsgeschichte hält, aber diese Einschätzung, ohnehin subtil vorgetragen, führt keinesfalls zu einer allzu geradlinigen Perspektive. Mittag sieht durchaus Rückschläge oder die Kehrseiten des Erfolges, etwa die schleichende Entmachtung nationaler Parlamente. Andererseits bemüht er sich um einen differenzierten Blick auf gängige Negativ-Wertungen und schließt sich mit Blick auf die 1970er-Jahre nicht diskussionslos herkömmlichen Etiketten wie „Eurosklerose“ oder „dark ages“ an.4

Was bietet dieses Handbuch, was andere nicht bieten? Mittag hält sich im Großen und Ganzen an die etablierte Gliederung der Integrationsgeschichte und greift auf die bewährten Sichtachsen von Vertiefung und Erweiterung zurück. Abweichungen gibt es nur im Detail, und sie dürften nicht allzu kontrovers sein: Die Aufbaujahre beispielsweise lässt Mittag bis zur Etablierung des Europäischen Rates 1974 dauern, während andere Autoren entweder den Haager Kongress 1969 oder den Beitritt Großbritanniens 1973 als Wendepunkt wählen. Insgesamt ist die Darstellung nicht sonderlich originell – aber kann man das einem Buch vorhalten, das ausdrücklich eine „Kleine Geschichte“ sein will?

Für Studenten jedenfalls ist das Erscheinen dieses Überblicks eine gute Nachricht, denn Mittag nimmt seine erklärte Zielgruppe besonders ernst: Studenten im Grundstudium, Schüler und Lehrer. Mittags Buch ist kompakter als etwa die Arbeiten Dinans oder Knippings (die dafür beide freilich etwas mehr Tiefe bieten). Insgesamt erinnert es an ein Text Book, wie es im englischsprachigen Raum verbreitet ist. Mittags Überblick ist verständlich geschrieben, beschränkt sich auf verdauliche Portionen und führt den Leser mit pointierten Überschriften und wertenden Zusammenfassungen. An ein Text Book erinnert auch die Aufmachung, die mit vielen Tabellen und Schaubildern zur Übersichtlichkeit beträgt. Am Ende eines jeden Abschnitts gibt es eine Auswahlbibliographie, die ein Student in dieser Ausführlichkeit und Benutzerfreundlichkeit in anderen (deutschsprachigen) Einführungen vergeblich sucht.

In gewisser Weise steht Mittags Buch im Wettbewerb mit Elverts Geschichte der europäischen Einigung, die sich, vor zwei Jahren in der Reihe „Geschichte kompakt“ erschienen, ebenfalls als ein Lehrbuch für Studenten versteht. Mittag braucht den Vergleich nicht zu scheuen – zwar fällt bei ihm der Kontext des Kalten Krieges kürzer aus als bei Elvert, doch bietet Mittag einen anderen und wichtigen Vorzug: Sein Handbuch ist stärker interdisziplinär angelegt, verweist ausführlich auf politikwissenschaftliche Literatur und erwähnt zumindest skizzenhaft die juristischen Probleme, die die Rechtssetzung auf europäischer Ebene aufwarf und aufwirft. Mittag behandelt das Brüsseler Demokratiedefizit, spricht die Frage nach einer europäischen Identität an und geht auch auf die Brüsseler Kulturpolitik ein. All das sind Themen, die, wenn überhaupt, in anderen Überblicken knapper vorkommen. Das sehr schöne Schlusskapitel bietet einen Forschungsüberblick zur geschichts- und politikwissenschaftlichen Literatur gleichermaßen – schon dies lohnt für Studenten die Lektüre.

Das Erscheinen eines Handbuchs stellt zudem einen guten Anlass dar, einige Wünsche an die Integrationshistoriographie zu richten. Wie die allermeisten anderen Arbeiten ist Mittags Darstellung angetrieben von dem Bemühen, das erstaunliche Phänomen Integration zu verstehen und einzuordnen. Die Wertungen orientieren sich meist daran, wie stark integriert oder re-nationalisiert wurde. Weil das der Perspektive entspricht, aus der die Geschichte der europäischen Einigung im Grundstudium gelehrt wird, trägt Mittag den Interessen der Zielgruppe vollauf Rechnung. Kürzer kommt dagegen, was in der Politikwissenschaft als eine Art europäischer Innenpolitik gilt. Hier sollen ausdrücklich ein paar Beispiele genannt werden, die es nicht erst seit Maastricht gegeben hat: die Agrarpolitik, die Handelspolitik, die Außen-Beziehungen zu den afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten sowie deren Folgen in Mitglieds- wie Drittstaaten. Ähnliches Desinteresse wird dem Regierungs- und Verhandlungsalltag in Brüssel zuteil. Auch für Studenten könnte es nützlich sein, darüber mehr zu erfahren. Denn erst das, was sich am besten mit dem englischen Begriff ‚policies‘ fassen lässt, verdeutlicht, wie man sich das Wechselspiel von Mitgliedsstaaten und werdender europäischer Staatlichkeit konkret vorzustellen hat.

Zudem waren es auch die Mühen der Ebene, die manche „Scharnierphase“ (S. 321) erklären helfen. Ein Beispiel wäre die „Krise des leeren Stuhls“, die erste große Gemeinschaftskrise in den Jahren 1965/66, bei der die französische Regierung unter de Gaulle ihre Minister aus den Brüsseler Gremien abzog und so die Arbeit für Monate mehr oder minder blockierte. Mittag charakterisiert diesen Boykott als eine „Verfassungskrise“ (S. 135), in der einmal mehr verhandelt worden sei, wie viel Bundesstaat oder Staatenbund das Brüsseler Europa sein dürfe. Die neuere Forschung argumentiert dagegen, dass es auch und womöglich gar noch stärker die angesprochenen ‚policies‘ waren, die die Partner gegeneinander aufbrachten.5

Ein grundsätzlicheres Desiderat betrifft den Zugang zur Integrationsgeschichte überhaupt: Auch an Mittags Handbuch zeigt sich, dass Historiker der europäischen Einigung sich bislang vornehmlich auf diplomatie- und politikgeschichtliche Fragen konzentriert haben. Dabei lassen sich durchaus auch sozial- und kulturgeschichtliche Fragen stellen, und eine vielfältigere Perspektive wäre zudem geeignet, die Geschichte der europäischen Einigung im engeren Sinne auf eine breiter verstandene europäische Geschichte zu beziehen, die den Integrationsprozess als Teil der Nachkriegs-Geschichte des Kontinents erzählt. Für einen solchen Ansatz steht zum Beispiel Tony Judts „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“.6

Doch diese weiterführenden Bemerkungen sind nicht als unmittelbare Kritik am Autor zu verstehen. Mittag bietet zwar keinen überraschenden Blick auf 50 Jahre europäische Einigung, aber den anderen erwähnten Einführungen hat er ein ebenso handliches wie lesenswertes Buch hinzugefügt.

Anmerkungen:
1 Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Stuttgart 2002; Franz Knipping, Rom, 25. März 1957. Die Einigung Europas, München 2004; Jürgen Elvert, Die europäische Integration, Darmstadt 2006.
2 Desmond Dinan, Europe Recast. A History of European Union, Basingstoke 2004.
3 Eine Bemerkung am Rande: Rechtlich gesehen, gab es die Europäischen Union, auf die sich das Buch im Titel bezieht, erst seit 1993, als der Maastrichter Vertrag in Kraft trat. Als Vision entstand sie erstmals auf einem Pariser Gipfeltreffen im Jahre 1972. Große Teile des Buches sind insofern eine Vorgeschichte der Europäischen Union.
4 Robert O. Keohane / Stanley Hoffmann, Institutional Change in Europe in the 1980s, in: dies. (Hrsg.), The New European Community. Decisionmaking and Institutional Change, Boulder 1991, S. 1-39, hier S. 8.
5 N. Piers Ludlow, The European Community and the Crises of the 1960s. Negotiating the Gaullist Challenge, London 2006.
6 Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006.

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