Titel
Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land


Autor(en)
Engler, Wolfgang
Erschienen
Berlin 1999: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
DM 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hedwig Richter, Freie Universität

Also doch: Die DDR hatte es geschafft, den Westen zu überholen ohne ihn einzuholen. Mit diesem Überholvorgang schuf sie zugleich den Übermenschen: den Ostdeutschen.

Der Autor selbst, der Soziologe und Dozent an der Schauspielschule "Ernst Busch" Wolfgang Engler, leistet nicht weniger Erstaunliches. Auf den gut dreihundert Seiten seines Buches liefert er neben rührenden Geschichten über die Ostdeutschen einen Kurzlehrgang über Sex und Liebe (endlich wissen wir, was "wahre Liebe" ist), eine ostdeutsche Architekturgeschichte, eine Abhandlung über das Wesen der Frau, einen Abriß der Oppositionsbewegung, eine DDR-Kulturgeschichte et cetera, et cetera. Seine Intention, so der Siebenundvierzigjährige, sei die Darstellung der ostdeutschen Gesellschaft von Innen, wie sie sich selbst geschaffen habe. Also eine Darstellung der Ostdeutschen unter Ausschluß der ostdeutschen Führung.

Doch ist das nicht ein Widerspruch? Die Gesellschaft einer Diktatur inklusive ihrer politischen Strömungen darzustellen und dabei die Diktatur selbst außer Acht zu lassen? Engler meint diesen Widerspruch zu lösen, indem er den Fehler bereits im Vorwort benennt: "Führt die Konzentration auf die Gesellschaft nicht notwendigerweise zu einer Beschönigung der DDR-Vergangenheit, zur Ausklammerung all dessen, was bedrückend und unerträglich war? - Daß eine auf den Alltag zielende Gesellschaftsgeschichte Gefahr läuft, zu verharmlosen, gemütlich, ja selbst süßlich zu werden, ist unbestreitbar." Das Problem ist nur: Wenn der Autor um einen Fehler weiß und ihn trotzdem nicht vermeidet, ist er damit nichts weniger als entschuldigt.

Englers Methode ist einfach, aber wenig überzeugend: Indem er die unübersehbaren Fehler sowohl seiner Vorgehensweise als auch des ostdeutschen Gesellschaftssystems erwähnt - letztere stets wie nebenbei -, sind sie für ihn auch schon abgetan. Für die menschliche Logik unüberbrückbare Widersprüche löst er mit einer originellen Dialektik. Wie ein roter Faden zieht sich diese durch das ganze Buch.

Schüleraufsätze, die Anfang 1946 in Berlin unter der Herrschaft der Sowjets abgefaßt wurden - und die möglicherweise durch Lehrer- oder Elternhand geglättet seien, so räumt der Soziologe ein - werden für bare Münze genommen. Wenn ein Schüler schreibt "ich wundere mich überhaupt, daß die Rote Armee so für uns sorgt, da sie es garnicht nötig hätte", ist das für Engler eine glaubhafte Quelle, mit der sich der Beginn der DDR-Geschichte erläutern läßt. Gut, es gab Vergewaltigungen und andere Ausrutscher, aber die neue Generation war ja nicht kleinlich: "Indem die Kinder ihr Bestes für ein neues Deutschland geben, begleichen sie die Rechnung, die sie, vorzüglich aber ihre Eltern bei den russischen Soldaten und deren Familien offen haben." Hier, wie in vielen anderen Passagen des Buches, weiß der Leser manchmal nicht mehr so ganz genau, ob gerade der Autor spricht oder eine Propagandaschrift zitiert wird. Daß die Deutschen allen Grund hatten, den Alliierten für die Befreiung dankbar zu sein, steht außer Frage. Doch wer war damals tatsächlich dankbar? Und später: War das DDR-Regime dankbar oder waren es die DDR-Bürger? Genau diesen Fragen geht Engler konsequent aus dem Weg, indem er das Regime scheinbar ausklammert, bei Bedarfsfall aber stillschweigend miteinbezieht.

Wie nebenbei ist so der Übermensch geboren. Er hebt sich schon zu Beginn der deutschen Teilungsgeschichte von den andern Deutschen dadurch ab, daß er Verantwortung für die Naziverbrechen übernimmt, sie bereut und konsequent für ein neues Deutschland arbeitet. Wer tat das? fragt sich der Leser, die Autorenintention im Hinterkopf. Betrieben die Ostdeutschen von unten die Entnazifizierung oder das Regime? Wie empfand der Normalbürger diesen Vorgang? Mußten nicht gerade die Ostdeutschen den Sowjets gegenüber verbittert enttäuscht sein, weil diese zum Beispiel ganze Industriekomplexe demontiert und die DDR systematische geplündert hatten? Hier kommt die Englersche Dialektik zum Tragen: Nein! Gerade deswegen war doch den Ostdeutschen ihre Schuld besonders deutlich vor Augen, gerade deswegen konnten sie besonders dankbar sein.

Das Regime wird erst dann benannt und explizit ausgeklammert, wenn es Dinge verbrach, die Engler nicht mehr gutheißen kann. Dann zieht der Soziologe ganz klar eine Grenze zwischen denen da oben und uns da unten. Die Konsequenz ist, daß wir da unten keinerlei Verantwortung für das tragen, was die da oben so treiben. Alles Gute hat der neue Mensch im Osten sich zu verdanken, alles Schlechte kommt von oben. - Wieviel Diktatur hat der Autor im Kopf? - Selbst die Oppositionsbewegungen, denen sich Engler ausführlich widmet, bestärken ihn in dieser Auffassung. Wo sie erfolgreich waren wie am 17. Juni 1953, trägt der neue Mensch die Verantwortung. Wo nicht, wie in den folgenden Jahrzehnten, war das Regime dran Schuld.

Die Englersche Interpretation der Oppositionsbewegung ist überhaupt bemerkenswert. 1953 forderten die Arbeiter zwar mehr Freiheit, aber, so der Autor, das haben die ja gar nicht so gemeint. In Wirklichkeit wollten sie nur eine bessere Versorgungslage und bessere Löhne. Um das wenige zu bekommen, haben sie mehr gefordert. Damit wurde denen da oben ein ordentlicher Schreck eingejagt - und die Arbeiter bekamen letztlich, was sie wollten. Die Opposition der Kulturschaffenden hingegen wurde vom Regime unterdrückt. Wobei den Oppositionellen und Reformern aus sehr hehren Gründen einfach auch die Kraft fehlte, sich durchzusetzen. Denn im Grunde war man ja für den Sozialismus und gegen den Imperialismus. Folgerichtig fielen die Repressionsmaßnahmen des Regimes nicht besonders bösartig aus.

Denn das DDR-Regime, das Engler uns zeichnet, wirkt auch da, wo es Verantwortung für Fehler übernehmen muß, nicht wirklich böse. Eher unbeholfen, linkisch, dumm, stillos. Verhaftungen und ähnlich Unerfreuliches werden nebenbei benannt; unterschwellig wenn auch nicht explizit klingt überall die Überzeugung durch: Eigentlich wollten die ja das Richtige, auch wenn sie oft das Falsche taten.

Und damit löst sich einer der Hauptwidersprüche des Buches: Wie konnte unter diesem fehlerhaften Regime der neue Mensch entstehen? Weil das Regime letztlich das richtige wollte, schaffte es Rahmenbedingungen, unter denen sich dieser neue Mensch entwickeln konnte. Ganz oben steht die Gleichheit. Die beginnt mit der Architektur. Über Seiten hinweg singt Engler das Hohelied der Ostarchitektur. Den stalinistischen Nachkriegsbauten in der Berliner Karl-Marx-Allee attestiert er eine oppositionelle Funktion, da ihre "vertrackte, selbstwidersprüchliche Art der Majestätsbeleidigung" die politischen Machthaber subtil kritisiert habe. Anhand vieler Berliner Vorzeigebauten der DDR-Regierung beweist Engler den Wert der ostdeutschen Architektur. Und wie dann die gepriesene standardisierte Architektur schließlich bei der breiten Masse ankam - der Gesellschaft also, um deren Beschreibung Engler es doch eigentlich geht - läßt der Autor immerhin anklingen: "Eine problematische Anonymisierung, zugestandenermaßen." Die Pervertierung der ursprünglich reinen Idee, als nur noch Platte an Platte gebaut wurde: Die wird freilich dem Regime zugeschrieben.

Doch Anonymisierung hin oder her, die Architektur beförderte die Gleichheit und damit den neuen Menschen. Engler zeichnet diesen Gleichheitsmenschen, den Ostdeutschen, als ehrlich, bescheiden, treu, gutmütig, kollektiv gesinnt. So ereignete sich Erstaunliches in der ostdeutschen Gesellschaft: "Der Arbeiter stand neben dem Intellektuellen oder dem Produktionsdirektor an der Theke und hielt mit seiner Meinung nicht zurück." Überhaupt, die Arbeiter, die Protagonisten der ostdeutschen Gesellschaft. Wehmütig betrachtet Engler einen Porträtbildband von DDR-Arbeitern aus dem Jahre 1989. Er gerät "sofort in den Sog jenes schier grenzenlosen Selbstbewußtseins [...] Noch der Hilfsarbeiter posiert vor der Kamera wie ein ungekrönter Herrscher im eigenen Revier. Die innere Erhabenheit über alles Dienstbare spricht in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit aus beinahe jedem Bild. Daß der stolze Gestus in genau dem Moment eingefangen wurde, in dem er historisch kippte, macht den wehmütigen Reiz des Bandes aus. So werden einfache Arbeiter nie wieder blicken."

Daß in dieser Gesellschaft auch das Geschlechterproblem überwunden wurde ist einleuchtend. Frauen waren nicht nur gleichberechtigt, sie holten sich noch mehr Rechte als die Männer. Belegt wird die Feststellung mit einer 1977 in der DDR veröffentlichten Dokumentation, in der Frauen und Männer über ihr Zusammenleben sprachen. Doch die Emanzipation der Frau in der DDR ist schon damit bewiesen, daß die Frauen arbeiteten, öfters als Männer die Scheidung einreichten und sexuell selbstbewußter waren. Die vielfach belegten Klagen der Frauen, sie seien doppelbelastet mit Haushalt und Arbeit, wischt Engler elegant beiseite: Das hat man den Frauen so oft vorgejammert, bis sie selbst dran glaubten.

Und auch das diffizilste Problem der Menschheit hatte der DDR-Mensch gelöst: Der Autor berichtet von "Orgasmusraten und -fähigkeiten", die den ostdeutschen Menschen weit über den westdeutschen erheben. "Die diesbezüglichen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen wirken bis in die Gegenwart nach".

Wie aber war unter diesen Übermenschen die "Stasi" möglich, ein System in dem der neue Mensch seinen neuen Mitmenschen unterdrückte? Ganz einfach: Unter den idealen Bedingungen der Gleichheit und sozialen Sicherheit waren die Menschen so gut und arglos geworden, daß sie dem Regime, das sie mit solchen Mitteln attackierte, wehrlos ausgeliefert waren. Für diejenigen aber, die mitgemacht haben, zieht Engler alle Register moralischer Entrüstung, die wir bisher vermißt haben: Die "Verräter" hätten "den Pakt mit dem Teufel, die existentielle Verneinung von Gesellschaft" zu verantworten. "Hier gibt es keine Wiedergutmachung, denn wer verrät, durchkreuzt die Gesellschaft, in der dieses Wort etwas bedeutet; kein Vergeben, weil niemand nur individuelle, sondern stets auch kollektive Züge trägt. Wo das verständnisvolle Individuum vergeben möchte, spricht das verletzte Gesellschaftswesen sein Verdammungsurteil." Engler jedenfalls kann ihnen nicht verzeihen, weil sie seine Vision vom Übermenschen durchkreuzen.

Bleibt die Frage: Wie konnten diese glücklichen Menschen sich freiwillig von einem Staat verabschieden, der sie so vollkommen geformt hatte? Hier kann Engler die Schuld nicht allein dem Regime geben. So lautet seine Antwort: Reformer und Oppositionelle wurden nicht nur von oben unterdrückt, sie hemmten sich auch gegenseitig. Diese Spaltung "legte die politische Initiative in die Hände der ungeduldigen Mehrheit. Geistig und strategisch führungslos, wandten sich die Menschen in ihrem Vereinigungswunsch der politischen Führung der Bundesrepublik zu [...] Darunter leidet der deutsch-deutsche Einigungsprozeß sachlich und gefühlsmäßig." Weil also die dumpfen Massen sich dem Westen ergeben hatten, so muß man Engler verstehen, ist und war die deutsche Einigung eine höchst problematische Sache. Engler zeigt uns hier zwar, was seiner Meinung nach die Intellektuellen wollten, was aber wollte die Mehrheit der Gesellschaft? Was trieb sie in die Arme des Westens? Warum wollten sie nicht den dritten Weg der Reformer und Intellektuellen?

Wolfgang Engler liefert uns kein Buch über die Ostdeutschen, sondern ein Buch über die Ostalgie. Statt eines Bildes über die ostdeutsche Gesellschaft findet der Leser ein buntes Konglomerat aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und Wunschvorstellungen. Der Autor gibt uns nicht Kunde von einem verlorenen Land, wie es der Untertitel des Buches verspricht, sondern Kunde von einem verlorenen Traum: dem dritten Weg, der Rettung des Sozialismus.

An einer Stelle schreibt der Soziologe über die Ostdeutschen, sie "widerriefen jede Zuschreibung, Fixierung, Benennung im Nu und erfüllten dank dieser Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit das Grundkriterium sozialer Freiheit - kein festes Wesen zu haben, mit mehreren existentiellen Möglichkeiten experimentieren zu können." Hätte Engler sich doch einmal nicht selbst widersprochen! Hätte er den Ostdeutschen ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit gelassen, die sie als der Spezies Mensch zugehörend nun einmal haben, dann wäre dieses Buch nicht so süßlich, gemütlich und verharmlosend.

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