L. Hölscher (Hrsg.): Political Correctness

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Titel
Political Correctness. Der sprachpolitische Streit um die nationalsozialistischen Verbrechen


Herausgeber
Hölscher, Lucian
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
228 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralph Jessen, Historisches Seminar I, Universität zu Köln

„Politik mit der Erinnerung“ (Peter Reichel), „Geschichtspolitik“ (Edgar Wolfrum) oder „Erinnerungskultur“ (Aleida Assmann) – Begriffe zur Art und Weise, in der sich die Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen, sind mittlerweile Legion. Brauchen wir jetzt auch noch „Sprachpolitik“ und „Political Correctness“? Ja, meint Lucian Hölscher in seiner Einleitung zum vorliegenden Band, denn in den vergangenen Jahrzehnten habe sich „Sprachpolitik“ – also der Streit „über den richtigen, den angemessenen Gebrauch der Sprache in der Öffentlichkeit“ (S. 7) als neues politisches Handlungsfeld etabliert. Im sprachpolitischen Streit um „Political Correctness“, so die Feststellung, würden die Grenzen des politischen Grundkonsenses ausgelotet, dessen „Anerkennung als Voraussetzung der Teilnahme am politischen Diskurs der Bundesrepublik gilt“ (S. 14). Insbesondere in der deutschen Sonderform der „historischen Korrektheit“, mit der die Grenzen des „politisch Sagbaren hinsichtlich der nationalsozialistischen Vergangenheit“ (S. 15) gezogen würden, erfüllten Kontroversen um „Political Correctness“ eine ähnlich fundamentale Integrationsfunktion, wie sie „zivilreligiöse Traditionen“ in Frankreich oder den USA zustande brächten. Das ist eine gewichtige These. Aber ist sie überzeugend?

In drei Kapiteln liefern die Autoren des Bandes Beobachtungen und Argumente, die sie stützen sollen. Gunnar Sandkühler rechnet den „historischen und politischen Grundlagen der Political Correctness in der frühen Bundesrepublik“ erstens die sprachkritischen Bemühung der vierziger und fünfziger Jahre zu, die den typischen Sprachgebrauch des NS-Regimes beschrieben und verdammten. Victor Klemperers Lingua Tertii Imperii ist sicherlich das bekannteste Beispiel dieses Genres. Ein zweiter Schritt sei die strafrechtliche Sanktionierung der Holocaust-Leugnung gewesen (warum der Autor in diesem Zusammenhang auch die Verjährungsdebatten des Bundestages behandelt, ist nicht recht nachvollziehbar) und ein dritter die Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker am 8. Mai 1985, in der dieser „die seither unhintergehbar gültige Rahmenerzählung für die Geschichte(n) des Dritten Reiches gesetzt“ (S. 56) habe. Obwohl die Autoren die diskursive, kontroverse Konstruktion sprachpolitischer Grenzziehungen und damit letztlich auch ihre Relativität betonen, bringen Sandkühlers Beispiele eine recht normative Lesart in die Analyse. Waren die verhüllende Rede von der „Deutschen Katastrophe“ und den „Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“, das notorische „Schweigen“ der fünfziger Jahre oder – auf östlicher Seite – das kommunistische „Faschismus“-Konzept denn nicht ebenfalls massive „sprachpolitische“ Setzungen, die zeitgenössisch die „Grenzen des Sagbaren“ bestimmten? Wenn man „Political Correctness“ (PC) tatsächlich als analytischen Begriff nutzen will, müsste man diese Frage wohl ohne weiteres bejahen.

Der Beitrag von Thomas Mittmann legt allerdings nahe, „PC“ nicht analytisch zu überfrachten, sondern vor allem als einen historisch spezifischen Kampfbegriff der politischen Sprache zu verstehen. In den USA dient er neokonservativen Agitatoren seit Anfang der 1990er-Jahre dazu, liberale Anti-Diskriminierungspolitik als Ausdruck freiheitsfeindlicher Sprech- und Denkverbote zu denunzieren. Die Etikettierung als „politically correct“ wird seither mit durchweg negativer, oft karikierend ironischer Konnotation gebraucht, wenn aus dem rechten Lager gegen angebliche linke Deutungshegemonie geschossen wird. Die gleiche Konstellation findet sich in der Bundesrepublik. Die Kampfvokabel wurde in den 1990er-Jahren von konservativer Seite wohl auch deshalb so rasch aus den USA adaptiert, weil schon in den 1970er-Jahren einflussreiche Autoren wie Biedenkopf oder Noelle-Neumann („Schweigespirale“) begonnen hatten, politische Auseinandersetzungen als Sprachkonflikte neu zu definieren. Mittmann geht eine Reihe wohlbekannter geschichtspolitischer Streitfälle seit den späten achtziger Jahren durch – vom „Historikerstreit“ des Jahres 1986 bis zum „Fall Hohmann“ im Jahre 2003 – und analysiert sie als Auseinandersetzungen um die „Grenzen des Sagbaren“ im Umgang mit der NS-Vergangenheit. Gut kann man verfolgen, wie sich auf konservativer Seite der PC-Vorwurf als Argumentationsstereotyp etablierte, das immer gleich funktioniert: Inhaltliche Auseinandersetzungen über die Beurteilung der NS-Vergangenheit werden zu Problemen des Sprachregimes umdefiniert, NS-affirmative oder relativierende Deutungen mit der emanzipatorischen Attitüde des Tabubruchs vorgetragen, Vertreter revisionistischer Positionen präsentieren sich als Opfer einer angeblichen linken Gesinnungsdiktatur. „Political Correctness“ Vorwürfe wurden und werden fast ausschließlich im Rahmen einer Strategie rhetorischer Selbstviktimisierung und Argumentationsverweigerung vorgebracht, da inhaltliche Deutungen der NS-Vergangenheit nicht inhaltlich vertreten, sondern als Ausdruck legitimer Auflehnung wider vorgebliche Denkverbote gegen Kritik immunisiert werden. Es fragt sich allerdings, wieweit man hierin tatsächlich eine neue Qualität von „Sprachpolitik“ sehen kann, mit der über die „Grenzen des politisch Sagbaren“ zur NS-Vergangenheit gerungen wird. Ist es nicht eher so, dass die schon immer kontroverse Deutung des Nationalsozialismus von einer Seite bewusst zur Frage des erlaubten Sprechens stilisiert wird, um die mühselig erreichte „normative Internalisierung“ (Lepsius) der NS-Vergangenheit in die politische Kultur der Bundesrepublik in Frage zu stellen, ohne dafür politisch einstehen zu müssen?

Im dritten Teil des Buches dokumentiert Tilmann Bendikowski dreizehn Interviews mit Personen in Multiplikatorenberufen, die Auskunft über ihre Erfahrungen mit und Meinungen zu den sprachlichen Grenzen des Sagbaren im Zusammenhang mit der NS-Vergangenheit geben. Da sich keine rechten PC-Kritiker unter den Befragten befinden, fehlen dezidierte Positionen aus dieser Richtung. Bei den meisten wird ein sehr ernsthaftes Bemühen um die „angemessene“ Form der Thematisierung der NS-Vergangenheit erkennbar, allerdings oft auch Unsicherheit, ob und wo Grenzen gezogen werden sollten, die über die strafrechtliche Sanktionierung der Holocaustleugnung hinausgehen. Immerhin meinte rund die Hälfte der Befragten, dass nicht alles, was man über den NS denkt, auch öffentlich „sagbar“ seien sollte. Einen speech code wollte zwar keiner, aber zu viel Meinungsfreiheit schien manchem problematisch. Also doch eine heimliche Sehnsucht nach Political Correctness?

Man liest das Buch von Lucian Hölscher und seinen Mitautoren mit viel Gewinn, denn es zeigt sehr detailreich, wie sich rechte Intellektuelle und einige politische Akteure die Argumentationsfigur von der Political Correctness „aneigneten“, um den seit Mitte der 1980er-Jahre bestehenden normativen Konsens über die Bewertung und den Stellenwert der NS-Vergangenheit indirekt in Frage stellen zu können, ohne sich in inhaltlichen Begründungszwang begeben zu müssen. Nicht folgen mag man dagegen der theoretischen Überladung des PC-Wortes zum analytischen Begriff. In der ganzen Debatte geht es weniger um irgendwelche „Grenzen des Sagbaren“, als um ganz handfeste geschichtspolitische Kontroversen, die von einer Seite mit treuherzigem Augenaufschlag als Streit um die richtigen Worte und die Grenzen der Meinungsfreiheit verkauft werden.

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