Transit Migration Forschungsgruppe (Hrsg.): Turbulente Ränder

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Titel
Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas


Herausgeber
Transit Migration Forschungsgruppe
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Adèle Garnier, Universität Leipzig; Macquarie University, Sydney

„Heute über Migration nach Europa zu reden, heißt fast immer von der ‚Festung Europa’ zu sprechen (…) Selten jedoch verlassen Forscher, Journalisten oder Politiker die abgesteckten Pfade dieses Mythos und fragen, was eigentlich wirklich an der Grenze, in der Migration aber auch in den angeblichen Zitadellen der Macht vor sich geht.“ Das interdisziplinäre, wenn auch stark kulturwissenschaftlich orientierte Autorenkollektiv von Transit Migration 1 macht erfreulicherweise nicht, was dieser Umschlagstext vermuten lässt. Wir werden nicht die wirkliche, verborgene Wahrheit über die Auβengrenze der Europäischen Union erfahren. Stattdessen wird angestrebt, eine neue Wissensordnung in der deutschen Migrationsforschung zu etablieren: die „Autonomie der Migration“. Dieses Konzept wird vor allem auf Südosteuropa angewendet, eine, so die Autoren, kaum erforschte Grenzregion – die Analyse des Standes der Forschung dazu bleibt allerdings kursorisch. Das Konzept der Autonomie der Migration seht im Vordergrund mehrerer Beiträge 2, prägt aber fast jeden Aufsatz von „Turbulente Ränder“. Diese Konsistenz unterstützt durchaus das Ziel, die Notwendigkeit der „Autonomie der Migration“ zu demonstrieren (Sehrat Karakayalı und Vassilis Tsianos, S. 14).

Einleitend ordnen Karakayalı (Universität Frankfurt/Main) und Tsianos (Universität Hamburg) das Konzept in die Forschungslandschaft ein. Methodisch seien sowohl die klassische, vom Staat- Einzelmigrant-Dualismus geprägte Migrationsforschung, als auch der Transnationalismus-Ansatz der 1990er Jahre durch die Vorstellung des Raumes als Container gekennzeichnet. 3 Neben dieser „Territorialisierungsnorm“ beherrsche der „Integrationsimperativ“ die deutsche Migrationsforschung (S. 8). Jenseits der Methode wird hier die theoretische Annahme des „methodologischen Nationalismus“ bemängelt, die politische Identitäten nur innerhalb geschlossener Gemeinschaften konzipiere und somit die Möglichkeit multipler, grenzüberschreitender Identitäten negiere. Karakayalı und Sabine Hess (LMU München) kritisieren in ihrem Beitrag eine weitere Annahme der klassischen Migrationsforschung: die Vorstellung des Migranten als homo economicus [S. 39].

Mit dem Konzept der Autonomie der Migration schlagen die Autoren vor, sich methodisch auf die Handlungsmöglichkeiten der Migrationsakteure zu konzentrieren. Nicht nur die agency der Migranten seht im Vordergrund, sondern auch die der Institutionen, die Migration zu regulieren vorhaben. Diese methodische Perspektive sei durch die Beobachtung der Europäisierung der Migrationspolitik entstanden. In diesem Prozess versuche eine wachsende Anzahl an supra- und para-staatlichen Akteuren, die steigende Ankunft von Migranten zu steuern, sowohl an der Auβengrenze der EU als auch jenseits dieser Grenze (dazu Hess und Tsianos, Hess und Karakayalı). Diese dynamische Handlungsverflechtung wird als Regime (im Laufe der Aufsätze abwechselnd Migration- und Grenzregime), die empirische Herangehensweise als ethnographische Regimeanalyse bezeichnet (S. 15). Auch wenn die meisten Beiträge den Ansatz auf die südöstliche Auβengrenze der EU anwenden, werden auch institutionelle Grenzen thematisiert. Der methodische Fokus auf die Handlungsfähigkeit der Migrationsakteure erlaube es, die Vorstellung der EU als Festung zu überwinden sowie Migranten jenseits von Viktimisierung bzw. Heroisierung zu erfassen. Hier knüpfen die Autoren an Forschungsarbeiten an, die eine dezentrale Perspektive auf Akteure der Migrationspolitik anbieten, um somit Veränderungen staatlicher Souveränität zu untersuchen 4. Allerdings geht es Transit Migration nach eigener Aussage weniger darum, Wandlungen der Souveränität nachzuzeichnen, als machtkritisch, sich auf dem Foucaultsche Gouvernementalitätsansatz stützend die Dynamik zwischen Mobilität und deren Regulierungsbestreben zu erläutern. 5 Betont wird vor allem wie zahlreiche Institutionen Mobilität, die in erster Linie als Mobilität der Arbeit verstanden wird, durch Kategorisierungen regierbar machen wollen (siehe vor allem Hess und Karakayalı).

Theoretisch richtet sich der Blick mehrerer AutorInnen auf die Untersuchung der Möglichkeiten eines praktischen Kosmopolitismus in Europa. Für Regina Römhild (Universität Frankfurt/Main) beginnt dieser praktische Kosmopolitismus im Alltag der Migranten, die bewusst staatliche Grenzen unterwandern, auch wenn dies nicht unbedingt in eine grenzüberschreitende Solidarität münde und durchaus als Anpassungsfähigkeit am grenzenlosen Kapitalismus interpretiert werden könne. Manuela Bojadžijev (Berlin) widmet ihren Aufsatz Anerkennungskämpfen von Migranten und entrechteten Bürgern in Slowenien und Serbien-Montenegro. Bojadžijev zeigt, wie Prekarisierung in alltäglichen Praktiken ausgehandelt wird – nicht nur in der politischen Arena wie im slowenischen Fall der „Ausgelöschten“, sondern auch im dichten sozialen Netz des Billigwarenmarktes „Blok 70“ in Belgrad. 6 Die Autorin deutet ebenfalls auf den zunehmenden Einfluss internationaler und Nichtsregierungsorganisationen in der Verwaltung der Mobilität im westlichen Balkan hin, die zur Transformation der Staatlichkeit beitragen.
Die Möglichkeit, das Narrativ einer „Festung Europa“ mittels des Konzepts der Autonomie der Migration zu widerlegen wird besonders im Beitrag von Efthimia Panagiotidis (Universität Hamburg) und Vassilis Tsianos veranschaulicht. In ihrer Studie der Transitlager der Evros-Region zwischen Türkei und Griechenland widersprechen die Autoren Agambens Konzeptualisierung des Lagers als Verkörperung des Schmittschen Souveränitätsimperativs, über den Ausnahmezustand entscheiden zu können. 7 Zum einen gebe es keine einheitliche Souveränität, da die Migrationspolitik an dieser Grenze von einer Vielzahl an Akteure nicht nur implementiert, sondern auch lokal produziert werde. Dieses Geflecht sei von Widersprüchen gekennzeichnet. So berufen sich zahlreiche, oftmals EU-finanzierte, NGOs auf EU-Konventionen um die Rechtspraxis der Staaten und der EU-Institutionen an der Grenze zu kritisieren. Die Lagerinsassen seien keinesfalls diesem Regulationsgefüge passiv ausgesetzt und tragen durch ihre eigenen Handlungen zur Produktion des Migrationsregimes bei. Sich stützend auf grenzüberschreitende soziale Netzwerke passen Migranten ihre behauptete Identität sowie ihre Migrationsrouten an die aktuellsten Regulierungen an. Schließlich sollten Verortung und Historisierung der untersuchten Lager nicht vernachlässigt werden. Die Bevölkerung der Evros-Region, die in den Interaktionen mit Migranten und Grenzinstitutionen eine entscheidende Rolle spiele, habe ihr eigenes Fluchtnarrativ, das auf dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei 1923 basiere. Abschließend beschreiben Panagiotidis und Tsianos Transitlager als „Entschleunigungsmaschinen“ (S. 83) – die temporäre Bremsung der Mobilität trage zu ihrer Klassifizierung bei. Die Regulationsakteure verwalten somit vielmehr die Porosität der Grenze denn ihre Schließung (ibid.).

Weitere Beiträge betonen die Wichtigkeit der Historisierung, um alternative Migrationserzählungen sichtbar zu machen. Ramona Lenz (Universität Frankfurt/Main) zeigt, wie Gastarbeiter und Migranten im touristischen Wahrnehmungsbild Griechenlands kaum eine Rolle spielen. Marion von Osten (Akademie der bildende Künste, Wien) dokumentiert die Produktion der Ausstellung „Projekt Migration“, die 2005 als Teil des Transit Migration-Projekts unterschiedliche Zugänge zur Migration nach Deutschland präsentierte. 8 Ferner bietet Lenz eine Version des Konzepts der Autonomie der Migration an, die sich auf die Visualisierung konzentriert und die Rezeption der Ausstellung durch die Besucher mitberücksichtigt. Die Visualisierung ist auch Gegenstand der Aufsätze von Peter Spillmann (Zürich), der sich der Kartographie der Migration widmet, sowie von Brigitta Kuster (Berlin), die Filme über die Grenze analysiert. Spillmann präsentiert das Projekt MigMap, das ebenfalls Transit Migration verbunden ist. 9 MigMap umfasst vier Karten, die „das soziale Raum des Grenzregimes“ sichtbar machen (S. 156). Das Projekt will mehr als eine alternative Version der traditionellen Kartographie sein, welche Territorien und Bevölkerungen objektiviere. Sowohl die subjektive Wissensproduktion der Kartenhersteller als auch die Funktion der zahlreichen Akteure des europäischen Grenzregimes sollen reflektiert werden, um letztere kritisierbar zu machen, aber auch um die Unmöglichkeit einer objektiven Darstellung der Migration zu vermitteln. Ähnlich attestiert Kuster die Schwierigkeit der visuellen Vermittlung subjektiver Transiterfahrungen in Filme über Grenzorte und –praktiken.

Rutvica Andrijašević (Oxford University), die Anti-Trafficking-Kampagnen der International Migration Organization (IOM) in Osteuropa untersucht, scheint weniger die methodologische Perspektive der Autonomie der Migration anzunehmen. Andrijašević untersucht zwar die Modalitäten einer binären Täte-Opfer-Kodierung, die in IOM-Plakaten vermittelt werde und somit die agency der Frauen negiere, sagt aber nichts zur Wahrnehmung (und potenziellen Subversion) dieser Kampagnen in deren jeweiligen lokalen Kontexten .

„Turbulente Ränder“ bietet sowohl auf theoretischer, methodischer sowie empirischer Ebene eine sehr empfehlenswerte Bereicherung der Forschungslandschaft zur Migration und Europäisierung. Einige Aspekte scheinen aber Bojadžijev und Karakayalı Recht zu geben, die das Konzept der Autonomie der Migration „in der Entwicklungsphase“ sehen (S. 203). Jenseits der erwähnten oberflächlichen Analyse der Forschungslage machen die Beiträge keinen erkennbaren Unterschied zwischen den Begriffen des Migration- und des Grenzregimes - hier wäre eine Klärung wünschenswert. 10 Eine Auseinandersetzung mit Ansätzen, die die Auβengrenze der EU als Institution konzipieren, könnte auch bereichernd sein. 11 Die methodologische Fokussierung auf die Pluralität der Akteure des Migration- oder Grenzregimes scheint nur konsistent auf den Europäisierungsprozess angewendet zu werden – die Fixierung klassischer Migrationstheorien auf den einheitlichen Staat wird teilweise reproduziert. Ein Beispiel davon ist die MigMap-Karte der Akteure des europäischen Migrationsfeldes, die jede europäische Institution einzeln präsentiert, jedoch Staaten als Einheiten darstellt. Pluralismus gibt es aber auch nach Innen und innerstaatliche Kämpfe tragen dazu bei, die Internationalisierung der Migrationspolitik zu erklären, nicht nur in Europa. 12 Hier erscheint eine stärkere Historisierung der Europäisierung der Migrationspolitik angebracht. Außerdem, wie im Umschlagtext oder im Beitrag von Andrijašević deutlich, gibt es durchaus Textstellen, in welchen die Herangehensweise objektivierender Forschungsansätze zu spüren ist.
Schließlich könnte die empirische Unterfütterung der These zum praktischen Kosmopolismus weiter herausgearbeitet werden - dies würde die Position der Autoren bestärken, nach welcher weit mehr als eine andere Methode möglich ist.

Anmerkungen:
1 Das Projekt Transit Migration besteht aus Kulturwissenschaftern, Politikwissenschaftern, Ethnologen, Soziologen, Künstlern und Ausstellungsmachern.
2 Das Konzept der Autonomie der Migration wird vor allem in den Beiträgen von Sehrat Karakayalı und Vassilis Tsianos, Sabine Hess und Tsianos, Hess und Karakayalı, Manuela Bojadžijev und Karakayalı (die 10 Thesen zur Autonomie der Migration formulieren, S. 203-209) sowie von Regina Römhild präsentiert. ‚Autonomie der Migration“ wird als „Methode“ betrachtet, beinhaltet aber durchaus theoretische Aspekte.
3 Karakayalı und Tsianos unterscheiden hier nicht zwischen der neoklassischen und der systemtheoretischen Migrationsforschung, kritisieren aber vor allem erstere (vgl. Faist, Thomas, The Volume and Dynamics of International Migration and Transnational Social Spaces, Oxford 2000, S.11ff.) Die Autoren lehnen ihre Kritik des Transnationalismus an Bommes an, vgl. Bommes, Michael, Migration, Raum und Netzwerke. Über den Bedarf einer gesellschaftstheoretischen Einbettung der transnationalen Migrationsforschung, in: Oltmer, Jochen (Hrsg.), Migrationsforschung und interkulturelle Studien, Osnabrück 2002.
4 Vgl. Guiraudon, Virginie; Lahav, Gallya, A Reappraisal of the State Sovereignty Debat. The Case of Migration Control, in: Comparative Political Studies 33 (1999) 2, S. 163-195; Lavenex, Sandra, Shifting Up and Out. The Foreign Policy of European Immigration Control, in: West European Politics 29 (2006) 2, S. 329-350.
5 Foucault, Michel, Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt am Main 2004.
6 Die „soundscapes“, bzw. die Geräusche und Stimmen von Blok 70 werden im Beitrag des kalifornischen Künstlerkollektivs Ultra-Red analysiert.
7 Vgl. Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Sovereign power and bare life, Stanford 1998.
8 Vgl. www.projektmigration.de.
9 Vgl. www.transitmigration.org/migmap/index.html
10 Zwischen den Begriffen von Migration und Mobilität wird ebenso wenig unterschieden, allerdings erscheint diese Unentschiedenheit im Rahmen eines Konzepts, das Kategorisierungen von Migranten zu dekonstruieren beabsichtigt, nachvollziehbar.
11 Vgl. Monika Eigmüller, Grenzsoziologie – die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006.
12 Vgl. Guiraudon und Lahav (wie Anm. 4); Joppke, Christian, Immigration and the nation-state. The United States, Germany, and Great Britain, Oxford 1999.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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