K. von Greyerz (Hrsg.): Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit

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Titel
Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive


Herausgeber
Greyerz, Kaspar von
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
S. 201
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Rohrschneider, Universität zu Köln

Der vorliegende Sammelband vereint zehn Aufsätze und eine Einleitung des Herausgebers, die auf ein Kolloquium zurückgehen, das im Juni 2004 im Historischen Kolleg in München stattfand. Er ist der Quellengattung der Selbstzeugnisse gewidmet, die in der jüngeren Frühneuzeitforschung fächerübergreifend starke Beachtung gefunden hat. Wie Kaspar von Greyerz in seiner Einleitung ausführt, zielt der Band in konzeptioneller Hinsicht darauf ab, „frühneuzeitliche Vorgänge der Individualisierung als personale oder gruppenspezifische Individualisierungsweisen aus der Perspektive interdisziplinärer Fragestellungen in ihrer ganzen Komplexität auszuloten“ (S. 1). Es geht dabei also um frühneuzeitliche Personenkonzepte und Individualisierungsweisen im Plural, nicht um das Individuum oder die Individualisierung im Singular, sondern um die vielfältigen Bestandteile frühneuzeitlicher Individualisierungsprozesse, die im Unterschied zur älteren Historiografie eben nicht mehr auf der Grundlage eines evolutionistisch oder teleologisch geprägten Vorverständnisses, etwa im Sinne einer bloßen Vorgeschichte moderner Individualität, erforscht werden sollten.

Gabriele Jancke untersucht Patronagebeziehungen in autobiografischen Schriften von Gelehrten des 15. und 16. Jahrhunderts, wobei sie zunächst einen ausführlichen Fragenkatalog erstellt, der künftigen Forschungen inhaltliche Positionsbestimmungen darüber ermöglichen soll, was unter Individualisierung eigentlich konkret zu verstehen ist. Anhand ihres akteurszentrierten Fallbeispiels der Patronagebeziehungen, wie sie in autobiografischen Schriften gelehrter Autoren greifbar werden, gelangt sie zu dem Ergebnis, dass in diesem Kontext zutage tretende Individualisierungsweisen, wozu sie explizit auch das autobiografische Schreiben selbst rechnet, ganz maßgeblich mit Machtbeziehungen und vor allem auch mit Verfügungsgewalt über Ressourcen verknüpft waren.

Zwei Beiträge sind speziell persönlichen Briefen als Selbstzeugnissen gewidmet. Rudolf Dekker untersucht Briefe, die während der vier Kriege zwischen der Republik der Vereinigten Niederlande und England im 17. und 18. Jahrhundert von den Engländern auf eroberten niederländischen Schiffen beschlagnahmt wurden und die heute im Public Record Office in London aufbewahrt werden. Es handelt sich dabei um Schreiben, die Seeleute an Bord niederländischer Schiffe entweder selbst verfassten oder von anderen verfassen ließen bzw. die von Familienangehörigen an ihre Verwandten auf See geschickt wurden. Der besondere Quellenwert besteht gerade darin, dass diese Briefe oftmals von Menschen stammten, die gar nicht oder kaum schreibkundig waren.

Sara H. Mendelson befasst sich mit den Briefen, die Anne Dormer, eine Frau aus der wohlhabenden und gebildeten englischen gentry des späten 17. Jahrhunderts, an ihre jüngere Schwester Elizabeth Trumbull richtete. Diese brieflichen Selbstzeugnisse ermöglichen einen intensiven Einblick darin, wie die Verfasserin ihr Leben an der Seite ihres tyrannischen Ehemannes konkret wahrnahm und im Prozess des Schreibens verarbeitete.

Einer gänzlich anderen Quellengruppe, nämlich den bisher kaum systematisch untersuchten Identitätsdokumenten, wie zum Beispiel Ausweisen, personalisierten Empfehlungsschreiben oder auch offiziellen Geleitbriefen, widmet sich Valentin Groebner, und zwar ausgehend von der eingangs seines Beitrages gestellten reizvollen Frage: „Wer braucht wieviel Individualität im 16. Jahrhundert?“ (S. 158) Er weist explizit auf das Problem der Authentizität derartiger Identitätsdokumente hin und gelangt zu der pointierten Aussage, dass Individualisierung nicht als Prozess im Sinne einer zielgerichteten historischen Entwicklung zu verstehen ist, sondern letztlich als ein Feld von Machtbeziehungen. Dieser Befund korrespondiert in auffälliger Weise mit den Ergebnissen, die Gabriele Jancke im Hinblick auf den von ihr untersuchten Zusammenhang von Patronagebeziehungen und Individualisierungsweisen erzielt hat.

Es kommt dem Band sehr zugute, dass zwei Beiträge aufgenommen wurden, welche die Thematik des Kolloquiums aus Sicht der osmanischen und der jüdischen Geschichte beleuchten. Suraiya Faroqhi korrigiert die Behauptung der älteren Forschung, dass osmanische Selbstzeugnisse aus der Frühen Neuzeit ausgesprochen selten seien. Sie verweist exemplarisch auf das Tagebuch des Istanbuler Derwisch-Scheichs Seyyid Hasan und betont besonders den Erkenntniswert dieses Tagebuchs für die Erforschung der Alltagsgeschichte Istanbuls im 17. Jahrhundert.

Rotraut Ries setzt sich intensiv mit dem Terminus „Individualisierung“ auseinander und wendet dieses Interpretament vornehmlich im Hinblick auf Selbstzeugnisse frühneuzeitlicher Juden an, die gebildeteren Schichten bzw. der Wirtschaftselite angehörten. Sie vermag überzeugend das breite Spektrum aufzuzeigen, das im Hinblick auf die Individualisierungsweisen frühneuzeitlicher Juden zu konstatieren ist und das zum Beispiel persönliche Rechenschaft, Identitätswechsel, Vereinzelung oder auch die konkrete Bewusstwerdung des jeweiligen Ich umfasste. Zudem verweist sie explizit auf die Operationalisierbarkeit soziologischer Individualisierungsbegriffe, die eben nicht im Stile der älteren Geschichtsschreibung die Vorstellung eines gewissermaßen automatischen Prozesses hin zu einem Mehr an Autonomie des Individuums voraussetzen.

Maike Christadler begibt sich in ihrem kunstgeschichtlichen Beitrag auf die Suche nach den „Spuren des Künstlers in der Kunstgeschichte und in seinem Werk“, wie es im Untertitel ihrer Untersuchung heißt. Sie arbeitet diejenigen Strategien frühneuzeitlicher Künstler heraus, die zur Visualisierung ihrer jeweiligen Autorschaft im Bild dienten. Insbesondere definierten sich die von ihr behandelten Künstler in der deutschen Grafik um 1500 über ihre jeweiligen Signaturen und Monogramme, die als integrale Bestandteile eines Bildes und „Ort der Thematisierung des Ich“ (S. 75) Strategien der Repräsentation des frühneuzeitlichen Selbst darstellen.

James S. Amelang wirft in seinem Beitrag „Saving the Self from Autobiography“ einen kritischen Blick auf die Möglichkeiten einer fächerübergreifenden Kooperation zwischen historischer und literaturwissenschaftlicher Selbstzeugnisforschung. Er plädiert nachdrücklich dafür, Interdisziplinarität nicht um ihrer selbst willen zu betreiben und bestehende Differenzen zwischen den einzelnen Disziplinen nicht künstlich einzuebnen.

Von besonderer Bedeutung wird es nach Überzeugung des Rezensenten für die zukünftige Forschung sein, sich mit der Positionsbestimmung auseinanderzusetzen, die Gudrun Piller vorgenommen hat. Auf der Grundlage der Auswertung von fünfzig nicht edierten, handschriftlichen Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts, die in Archiven der deutschsprachigen Schweiz aufbewahrt werden, gelangt sie zu dem Ergebnis, dass gerade die getroffene Entscheidung zur Heranziehung von ungedruckten Texten zu dem Forschungsansatz führt: „Selbstzeugnisse nicht mehr als Textsorte mit formal bestimmbaren Kriterien aufzufassen, sondern das Selbstzeugnisschreiben als eine kulturelle Praxis zu verstehen.“ (S. 59) Anhand ihrer Ausführungen zu zwei ausgewählten Quellen, nämlich der Autobiografie des Zürcher Kaufmanns und Bürgermeisters Johann Caspar Escher und des Haus- oder Familienbuchs des Zürcher Totengräbers Hartmann Wirz, vermag sie eindrucksvoll die „Normalität“ der Praxis des Selbstzeugnisschreibens aufzuzeigen. Dies ist zweifelsohne ein Ansatzpunkt, den es künftig noch weiter auszuloten gilt.

Den Abschluss bildet der Beitrag von Peter Becker über Inschriften und Zeichnungen von Häftlingen im Wiener Gefangenenhaus um 1920. Damit ist der eigentliche Untersuchungszeitraum des Bandes deutlich überschritten. Puristen mögen dies kritisieren; für die Gesamtthematik sind die Ausführungen Beckers, etwa zu den Fremd- und Selbstbildern der Häftlinge, indes von nicht geringem Interesse, sodass die durch die Aufnahme dieses spätneuzeitlichen Beitrags bedingte Inkohärenz nicht weiter negativ ins Gewicht fällt.

Der vorliegende Sammelband macht insgesamt gesehen eines deutlich: Die Forschung zu frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen und Individualisierungsprozessen ist bei weitem noch nicht an ihr Ende gelangt. Viele Fragen sind, wie etwa der Beitrag von Gabriele Jancke zeigt, gerade erst gestellt und noch lange nicht beantwortet. Auch ist festzustellen, dass der neu eingeführte Terminus „Individualisierungsweisen“ noch weiter konturiert werden muss, um tatsächlich inhaltliche Prägnanz zu erlangen. Dies ist eine wichtige Aufgabe zukünftiger Forschung, und man darf gespannt sein, ob sich dieser Begriff letztlich durchsetzen wird. Einige der Beiträge (insbesondere Jancke und Ries) haben in dieser Frage immerhin erste inhaltliche Annäherungen vorgenommen, während andere auf das Oberthema der Individualisierungsweisen kaum oder gar nicht eingegangen sind (z.B. Dekker und Faroqhi).

In einer Hinsicht vermag der perspektivenreiche Sammelband, der durch ein Personen- und ein Ortsregister gut zu erschließen ist, jedenfalls zu überzeugen: Gemeint ist die Tatsache, dass die Autoren zumeist ausgesprochen quellennah argumentieren. Künftige Forschungen zu den komplexen und facettenreichen Individualisierungsprozessen in der Frühen Neuzeit sollten diesem Beispiel unbedingt folgen.

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