Cover
Titel
Transit Marseille. Filmgeschichte einer Mittelmeermetropole


Autor(en)
Winkler, Daniel
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin Lange, Global and European Studies Institute i.G., Universität Leipzig

Als "ville noire" ist Marseille in zahlreichen international erfolgreichen Filmproduktionen bekannt geworden. Kriminalfilme präsentieren die Stadt oftmals mit Blick auf soziale und kulturelle Konflikte, als eine exotisch anmutende Stadt am Rande Europas. Lange Zeit schien dieses Image Marseilles das wirkmächtigste zu sein, welches auch über das Genre Film hinaus weiter transportiert wurde. Daniel Winklers detaillierte Analyse der Tradition lokalen Filmschaffens fördert jedoch eine Vielzahl alternativer Themen und Annäherungen an die Stadt zutage, deren Bogen sich vom erfolgreichen Operettenfilm der 1930er-Jahre bis zum Migrationsfilm des 21. Jahrhunderts spannt. Winkler gelingt damit zweierlei: Die Darstellung Marseilles als Filmstadt, sowie eine kulturhistorisch äußerst lesenswerte Einordnung der Stadt in einen globalen Kontext.

In einer dicht geschriebenen Einleitung schärft der Romanist Daniel Winkler den Blick auf das hegemoniale Verhältnis von Paris gegenüber Marseille/ Südfrankreich und plädiert dafür, die historischen innerfranzösischen Homogenisierungsprozesse als eine Form der Binnenkolonisation zu betrachten (S. 19). Er definiert Marseille in diesem Sinne als nationale Peripherie. Marseille sei eine 'Second City' 1 im klassischen Sinne, die sich als Gegenpol zur Hauptstadt begreife (S. 17). Aufgrund der wichtigen Rolle der Stadt innerhalb der französischen Kolonialgeschichte ergeben sich interessante Ambivalenzen. Am Rande Frankreichs gelegen, fungierte Marseille als Tor zur neuen Welt, als wichtiger Standort des Kolonialhandels. Verortet man Marseille in einem mediterranen Raum, wird die Stadt damit zum Zentrum. Mit dieser differenzierten Perspektive auf das Verhältnis zwischen Peripherie und Zentrum schließt Winkler an eine Forschungsrichtung an, die unter postkolonialer Perspektive innereuropäische Beziehungen fokussiert 2. Er eröffnet einen transnationalen Untersuchungsraum, der nationale Grenzen transzendiert und mit der Öffnung Marseilles gegenüber dem Mittelmeer einen neuen Raum erschließt. Dadurch entsteht ein heterogenes Bild Frankreichs, welches die Eigenständigkeit der Regionen betont (S. 20).

Die Identifikation mit Marseille und der Region Südfrankreich spiegeln sich im lokalen Filmschaffen in und über Marseille. Im Zentrum des Buches stehen die Repräsentation des urbanen Raumes und die enge identitätsstiftende Verknüpfung von Film und Stadt. Konzeptionell hat sich Daniel Winkler dabei auf vier Cineasten, die das lokale Filmschaffen besonders geprägt haben, konzentriert: Marcel Pagnol, Paul Carpita, René Allio und Robert Guédiguian. Winkler gelingt nicht nur ein Porträt dieser vielseitig tätigen Regisseure, Produzenten und Künstler, sondern auch ein Stück französischer Filmgeschichte über einen langen Zeitraum von circa 1930 bis heute.

Für die Anfänge des Tonfilms in Marseille steht Marcel Pagnol, der bis heute als eine der prägendsten Figuren des Marseiller Regionalkinos gilt. Pagnols Perspektive auf Marseille ist eine nostalgische, die in den 1930er-Jahren das Genre des ''film méridional'' prägte und ein idyllisch anmutendes Marseille der Vorkriegszeit zeigt. Im Mittelpunkt seiner international erfolgreichen ''Triologie marseillaise'' stehen der alte Hafen und die traditionellen pittoresken Viertel. Ein solcher Mikrokosmos, der die Arbeiter- und Immigrationsviertel der Stadt bewusst ausklammert, kennzeichnet das Kino Pagnols als ein konservatives, provenzalisches, welches vor allem auf vergangene Bilder rekurriert.
Interessant sind die cinematographischen Räume bei Pagnol, die die kulturelle Identität der Provence auf der einen, und das Mittelmeer als lateinischen Raum auf der anderen Seite inszenieren. Pagnol bringt seine eigene Zugehörigkeit zur südfranzösischen Region ein und thematisiert den innerfranzösischen Exotismus. Gleichzeitig favorisiert er ein „lateinisches“ Kino, mit dem Mittelmeer als verbindendem Kulturraum, der einer eurozentristischen Perspektive eine Alternative gegenüberstellt (S. 75).
Winkler porträtiert mit Marcel Pagnol einen Cineasten, der bis heute für eine Identifikation mit Marseille steht und die Eigenheiten der Stadt in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat. Das urbane Imaginäre, die mediale Repräsentation der Stadt, ist eng verbunden mit der Tradition der Bildsprache Pagnols.

Die politischen Auseinandersetzung der 1950er- und 1960er-Jahre, besonders um die Kolonialkriege in Algerien und Indochina, spiegeln sich im filmischen Werk und der Rezeption der Filme von Paul Carpita. Dessen erster Spielfilm ''Le Rendez-vous des quais'' (1953/54) verarbeitet den historischen Generalstreik der Hafenarbeiter von Marseille gegen den Vietnamkrieg im Jahr 1950. Die Rezeptionsgeschichte des Films, der zensiert und bis 1988 als verschwunden galt, dokumentiert die Rolle Marseilles in der französischen Kolonialgeschichte. Carpita sei mit diesem Film in der Nähe eines ''cinéma militant'' kommunistischer Prägung zu verorten, so Winkler (S. 136). Er zeigt ein anderes urbanes Imaginäres – das einer revolutionären Hafenstadt. Carpita, der international kaum bekannt war, wurde vor allem mit seinen Kurzfilmen zum Vertreter eines marginalisierten Marseille im Gegensatz zur Pagnolschen Idylle.

Eine weitere Figur, die die Cinématographie Marseilles über einen langen Zeitraum geprägt hat, ist René Allio. Dieser steht für ein stark literarisch geprägtes Autorenkino, für eine ästhetische Auseinandersetzung mit der Stadt. Winkler zeigt am Beispiel Allios den vielfältigen Umgang mit Marseille und der Region seit den 1960er-Jahren. Bei René Allio steht der Alltag im Vordergrund, oftmals wählt er einen Zugang über individuelle Geschichten gebrochener Charaktere. Einer seiner erfolgreichsten frühen Filme, ''La vieille dame indigne'' (1964), eine Literaturverfilmung von Bertolt Brechts ''Die unwürdige Greisin'', verknüpft einen individuellen Lebensweg mit der Stadtgeschichte Marseilles. Weitere Spielfilme, wie ''L'heure exquise'' (1980) und der an Anna Seghers gleichnamigen Roman angelehnte Film ''Transit'' (1990) verweisen auf das immer wiederkehrende Thema der Migration, das mit der Geschichte der Stadt eng vebunden ist.
Der Name René Allio steht außerdem für das Engagement, Marseille für junge Filmschaffende attraktiv zu machen. Die Gründung des ''Centre méditerranéen de création cinématographique'' (CMCC) unter der Regie Allios südlich von Marseille ist diesbezüglich trotz des kurzen Bestehens (1980-1987) ein wichtiger Abschnitt künstlerisch kreativen Austauschs und internationaler Öffnung, auf den Winkler hinweist.

Was sich bei Allio andeutet, setzt sich in den späten 1980er-Jahren fort: eine sich ausdifferenzierende Landschaft von Zugängen und eine neue Attraktivität Marseilles, die sich an international erfolgreichen Produktionen, wie zum Beispiel Luc Bessons ''Taxi'' Komödien ablesen lässt. Mit Robert Guédiguian stellt Winkler einen weitere Cineasten vor, der zu den erfolgreichsten Produzenten der 1990er-Jahre gehörte. Guédiguian wird als Vertreter eines ''accented cinémas'' charakterisiert, welches aktuelle Themen wie Arbeitslosigkeit und Globalisierung aufgreift und urbane lokale Identitäten in ihrer Komplexität zeigt.

Der Vervielfältigung der Themen vermag die Konzeption des Buches nicht ganz gerecht zu werden. Die Pointierungen, die mit den Autorenporträts bei Pagnol, Carpita und Allio gelingen, mögen bei Guédiguian nicht mehr zu überzeugen. Möglicherweise wäre hier eine Darstellung entlang relevanter Genres, die das französische Kino seit den 1990er-Jahren prägen, übersichtlicher gewesen. Eine vertiefende Analyse des ''accented cinema'', des ''cinéma de banlieu'', oder des ''Migrationskino'', die von Winkler oftmals anhand von Einzelbeispielen eingebracht werden, wäre interessant gewesen.

Daniel Winkler hat ein äußerst vielseitiges Werk vorgelegt, das kulturwissenschaftliche Ansätze erprobt und neue Forschungsfragen und Perspektiven entwirft. Das Buch bietet einen detaillierten Zugang zum regionalen Kino und eine differenzierte Annäherung an die Metropole Marseille. Auch für Nichtcineasten also eine lohnende Lektüre, die das wachsende Interesse an Hafenstädten und an der Mittelmeerregion spiegelt.

Anmerkungen:
1 Vgl.: Maiken Umbach, A Tale of Second Cities. Autonomy, Culture, and the Law in Hamburg and Barcelona in the Late Nineteenth Century, in: The American Historical Review 110 (2005) 3, S.659-692.
2 Wolfgang Müller-Funk / Birgit Wagner (Hrsg.), Eigene und andere Fremde. »Postkoloniale« Konflikte im europäischen Kontext, Wien 2005.

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