Titel
Unzivilisierte Kriege im zivilisierten Europa?. Die Balkankriege und die öffentliche Meinung in Deutschland, England und Irland 1876-1913


Autor(en)
Keisinger, Florian
Reihe
Krieg in der Geschichte 47
Erschienen
Paderborn 2008: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
201 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Boeckh, Osteuropa-Institut Regensburg / Ludwig-Maximilians-Universität München

Ist der Balkan unzivilisiert? Natürlich ist er das. Jedenfalls gelangt man zu diesem Urteil, wenn man die Tageszeitungen verfolgt – das ist heute nicht anders als vor hundert Jahren. Presse beeinflusst Meinung und „macht“ sie öffentlich. Aber heutzutage wie in früheren Zeiten sind es Berichte von Gräueltaten, Katastrophen und anderen Schauerlichkeiten, die eine Leserschaft sichern und Auflagen garantieren. Kein Wunder also, dass Krieg, wie er auf dem Balkan immer wieder aufflammte, ein wesentlicher Bestandteil der medialen Berichterstattung war und ist – und auch die Projektionsfläche bildet, auf der Keisinger Eigenheiten westeuropäischer Presseerzeugnisse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nachspürt.

Die vorzustellende Arbeit entstand innerhalb des Sonderforschungsbereichs „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ in Tübingen, in dem der Autor zwischen 2005 und 2008 tätig war. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Pressegeschichte in Deutschland, Großbritannien und Irland, die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan treten dabei in den Hintergrund und werden nur en passant angedeutet. Es geht um die Staatsbildungs- und Expansionskriege auf dem Balkan, in denen die dortigen Kleinstaaten ihre territorialen Besitzstände auszuweiten und zu sichern suchten, in erster Linie auf Kosten des noch präsenten Osmanischen Reiches, aber auch auf Kosten jeweiliger christlicher Nachbarstaaten: Zunächst ist der Krieg gegen die Osmanen zu nennen, der zum Berliner Kongress 1878 führte, auf dem die europäischen Mächte den Balkanstaaten ihre politische Souveränität zugestanden. Dann folgte 1885/86 die Auseinandersetzung zwischen Bulgarien und Serbien, aus der sich letzteres nur durch die Hilfe Wiens ohne größere Blessuren retten konnte. Der Krieg um Kreta 1897 zwischen Griechenland und dem Osmanischen Reich endete mit einem Sieg der Osmanen. Der erste Balkankrieg 1912–1913 sah zunächst eine Allianz der Balkanstaaten gegen die Hohe Pforte, die sich dann aber im zweiten Balkankrieg 1913 auflöste und gegeneinander ins Feld zog. Diese Kriege, aber auch der internationale Konflikt infolge des Ilinden-Aufstandes in Makedonien 1903 sowie infolge der Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn 1908 riefen europäische Presseberichterstatter auf den Plan, die aus den Hauptstädten auf dem Balkan und, soweit möglich, aus den Kampfregionen berichteten.

Das länderübergreifende und grundsätzliche Interesse der europäischen Presse an den Kriegen in Südosteuropa rührte daher, dass man durch die „orientalische Frage“ und durch die Rivalität Russlands mit Österreich-Ungarn auf dem Balkan durchaus realistisch den Frieden in Europa gefährdet sah. Bei der Diskussion über mögliche politische Reaktionen in dieser Lage gaben die Zeitungen je nach ihrer Ausrichtung unterschiedliche Ansichten wieder, wie Keisinger herausstellt: Nationalistisch eingestellte irische Zeitungen plädierten ebenso wie liberale englische dafür, die Türkei aus ihren europäischen Territorien hinauszudrängen und die unabhängigen Nationalstaaten in der Region zu stärken. Hingegen gingen konservative Blätter in Großbritannien, Deutschland und Irland davon aus, dass die Aufrechterhaltung der osmanischen bzw. türkischen Herrschaft auf dem Balkan den europäischen Frieden sichern würde.

Das Quellenmaterial, auf dem die Analyse basiert, besteht aus 21 wichtigen deutschen, britischen und irischen Zeitungen und Zeitschriften, die regelmäßig militärische Vorgänge und politische Hintergründe aus ihrer Sicht beleuchteten, darunter die „Vossische Zeitung“, die „Neue Zeit“, „Germania“, „Daily Telegraph“, „Sunday Times“ sowie „Irish Freedom“, „Irish Times“, „Irishmen“ und andere. Als weitere Quellen dienen die schriftlichen Schilderungen westlicher Zeitzeugen, die sich während der genannten Kriege auf dem Balkan – oft in Uniform – mit auf den Schlachtfeldern befunden hatten.

Dass Zeitungsreportagen aus Deutschland, Großbritannien und Irland in das Blickfeld genommen werden, liegt daran, dass diese Länder in der untersuchten Zeit in keine Kriege verwickelt waren – mit Ausnahme kolonialer Auseinandersetzungen und der 1912 sich hochschaukelnden irischen Revolution. Weiter ist hier von einer weitgehend freien, pluralistischen und ausdifferenzierten Presse auszugehen mit einem Spektrum, das von nationalistischen (irisch-unionistischen) über konservative bis zu liberalen Blättern reichte.

Die Publikation gliedert sich in drei größere Teile. Der erste („Medien – Politik – Öffentlichkeit. Das Problem der Kriegsberichterstattung vom Balkan“) schildert unter anderem grundsätzliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Presselandschaft der drei untersuchten Länder und geht auf den Einfluss von in der Presse konstruierten medialen Realitäten auf den Prozess der politischen Entscheidungsfindung ein.

Der zweite Teil („Near Eastern-European Question: England und Deutschland“) behandelt die Kriege und Unruhen auf dem Balkan aus der Sicht von englischen und deutschen Zeitungen und analysiert, wie verschiedene Standpunkte bezüglich der „orientalischen Frage“ diskutiert wurden.

Der sicher mit interessanteste Teil der Publikation ist der dritte („Near Eastern-, Near Western Question: Irland“), der zeigt, wie die politische Lage Irlands und der Bürgerkrieg dort mit den nationalen Befreiungskriegen auf dem Balkan konfrontiert wurden. Dabei kam es zu einer spezifisch irischen Sicht auf die Balkanregion, fühlte man sich doch ebenfalls – aus irisch-nationalistischer Perspektive – als „small and oppressed nation“, die auf der Seite der Balkanstaaten Freiwillige in den Kampf gegen die Türkei im ersten Balkankrieg ziehen ließ. Unionistische Blätter hingegen waren nicht bereit, das Streben der Balkanstaaten nach nationaler Unabhängigkeit anzuerkennen.

Der letzte Abschnitt, „Epilog“, verdient diese Bezeichnung eigentlich nicht, denn es kommen noch einmal Überlegungen zum Tragen, die eine neue Ebene der Betrachtung einführen. Dazu gehört, inwieweit der Erste Weltkrieg in den Presseorganen antizipiert wurde und welche Erwartungen an einen „künftigen europäischen Krieg“ gestellt wurden. Dabei war man sich in der deutschen und auch britischen Publizistik zunächst einig, dass die Politik der Großmächte eine Zivilisierung des Krieges erreicht habe, da von diesen das Völkerrecht auch in Kriegen verbindlich anerkannt werde und klare Regelungen über die Behandlung von Zivilisten bestünden. Mit der Zeit jedoch traten Zweifel an dieser Haltung ein, so dass um 1912 angenommen wurde, dass Kriege wie die Balkankriege 1912-1913 mit ihren Exzessen auch auf dem übrigen Kontinent auftreten könnten.

Die Darstellung vermittelt eine Fülle von Eindrücken zur Arbeitsweise, zu Interessen und zur Wahrnehmung von Krieg und Gewalt auf dem Balkan durch westeuropäische Journalisten. Dazu gehörte auch die permanente Auseinandersetzung mit der Militärzensur, die oftmals nur zuließ, dass die Korrespondenten lediglich weit hinter den Frontlinien arbeiten durften. Dies führte dazu, dass auch Banalitäten des Alltags oder Falschmeldungen in die Heimat gekabelt wurden, um den dort wartenden Redaktionen überhaupt etwas zu liefern.

Obwohl die Kriege auf dem Balkan insbesondere wegen ihrer Grausamkeiten an Zivilisten die westeuropäischen Zeitgenossen eher an mittelalterliche Kriege erinnerten als an eine „normale europäische Kriegsführung“ (S. 115), dürfte manchem Journalisten bald, nämlich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, klar geworden sein, dass die Gesichter des Krieges auf dem Balkan und auf dem sonstigen europäischen Terrain durchaus ähnliche Züge trugen. Die Darstellung dieser facettenreichen Desillusionierung ist ein Resultat des lesenswerten Bandes.