Titel
Ritual und Gewalt: Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften.


Autor(en)
Hauschild, Thomas
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Maren Tomforde, Ethnologin bei der Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg

Das Buch „Ritual und Gewalt“ des Ethnologen Thomas Hauschild zählt zu den bisher wenigen Versuchen, wissenschaftstheoretische Erkenntnisse ethnographischer Mikrostudien zur Analyse der neuen globalen sicherheitspolitischen Herausforderungen heranzuziehen. Der Verfasser steigt sehr unvermittelt in sein 258 Seiten umfassendes Werk ein. Erst nach 12 Seiten Abhandlung über die mangelnde wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem terroristischen Anschlag vom 11. September 2001 und über die Anwendbarkeit der politischen Performanztheorie auf das Phänomen von Selbstmordattentätern kommt Thomas Hauschild auf die Grundannahmen und zentralen Fragestellungen seines Buches zu sprechen. Eine dieser Grundannahmen lautet, dass sich der Westen durch „spezielle Formen ritualistischer Fundamentalismen“ (S. 20) bedroht sehe und sich mittels eines postkolonialen Überlegenheitsdiskurses gegenüber dem als rückständig wahrgenommenen Osten verschließe. Die Moderne würde westlich datiert und zivilgesellschaftliches Potenzial nur dem eigenen Lebensmodell zugebilligt. Thomas Hauschild verlangt aus diesem Grunde nach einer vergleichenden und materialistischen Kulturforschung, die er durch die westliche Abschottung gegenüber allem Fremden allerdings als verhindert sieht. Etwas problematisch erscheint, dass der Autor für eine differenziertere Sichtweise plädiert, gleichzeitig aber selbst plakativ vom einem vermeintlich einheitlichen „Westen“ schreibt, der sich gegen den Rest „der“ (vor allem islamischen) Welt abgrenzt.

Eine weitere Grundannahme des Buches besagt, dass bestimmte kulturelle Traditionen ihre Anhänger mittels Ritualen zur Gewalt zwingen könnten. Dies träfe nicht nur auf extremistische Gruppen außerhalb der westlichen Welt, sondern auch auf unsere eigenen Gesellschaften zu, in denen ebenfalls rituell eingebetete Gewaltphänomene zu beobachten seien. Hauschild versteht dabei Rituale als „künstlerische und religiöse Übertreibung und Zentrierung, als eine Art Theorie des Althergebrachten im Konflikt mit neuen Anforderungen“ (S. 29). Der Begriff der Gewalt wird keiner expliziten Definition unterzogen.

Thomas Hauschild geht davon aus, dass „keine noch so friedfertig angelegte Ritualistik [...] in der praktischen Anwendung völlige Gewaltlosigkeit auf Dauer garantieren“ könne (S. 24). Obwohl auch in unseren eigenen Gesellschaften Gewalt und Ritual miteinander in Verbindung stehen können (wie am Beispiel der sizilianischen Mafia gezeigt wird), würde von der westlichen Welt laut Hauschild das Rituelle (welches angeblich im Ehrenmord, Tribalismus und Fundamentalismus Ausdruck findet) als Gegensatz zur hochmodernen Technologie, dem Text und dem westlichem Wohlstand konstruiert. Anhand religiöser Praktiken in Südeuropa / im mediterranen Raum wird aufgezeigt, dass magische Praktiken allerdings auch in den Zentren der Säkularisierung hartnäckig weiter bestehen beziehungsweise als Krisenphänomene neu entstehen (S. 108). Thomas Hauschild bezieht sich hier auf Süditalien, um die Wirkkraft der Rituale zu verdeutlichen, die nicht in der absoluten Fremde, sondern in der uns „vertrauten Fremde“ (S. 30) stattfinden. Es gilt den vermeintlichen Gegensatz zwischen Religion, Romantik, Aufklärung und Rationalismus zu relativieren und sich dem klassifizierenden Denken zu entziehen (S. 92).

Hauptziel des Buches ist es, dem Ritual und dem Körper im Gegensatz zur postmodernen Herangehensweise an Text und Vernunft mehr Raum zu geben und sich durch eine „dezidiert nichtkulturalistische Perspektive“ (S. 25) von der moralisierenden Bewertung kultureller Phänomene zu befreien. Anhand ethnologischer Mikrostudien über scheinbar unwichtige alltagskulturelle Details wie Kleidung, Amulette, gesprochene Texte, Tränen während Gebeten etc. sollen Ursachen, Varianten und Effekte von Ritualen aufgezeigt werden. Die Schlussfolgerungen, die letztendlich auch zu einem besseren Verständnis terroristischer Vereinigungen wie al-Qa’ida führen könnten, würden sich, so Hauschild, durch Vergleiche und den Bezug auf die regionale/globale Ebene ganz von selbst einstellen (S. 26).

Der Verfasser beklagt, dass wir z.B. nicht die Parallelen der Handlungen von RAF und al-Qa’ida erkennen würden, da wir durch unsere „Schriftfixiertheit“ (S. 46) nicht die religiösen Praktiken unserer eigenen Kultur einer detaillierten Untersuchung unterziehen würden. Um die Anhänger von al-Qa’ida „von ihrem Weg abzubringen, bedarf es der Forschungen und sozialen Experimente jenseits der Texte, einer neuartigen Kultur des konflikthaften Dialogs.“ (S. 46) Immer wieder wird im Verlaufe des Buches die Textversessenheit westlicher Kulturen angeprangert, die nicht nur den Wert außereuropäischer Texttraditionen, sondern auch und insbesondere den oraler Überlieferungen übersehen und unterschätzen würde. Hauschild argumentiert darüber hinaus gegen einen extrem ausgelegten kulturellen Relativismus und den „Glauben an westliche kulturelle Überlegenheit“ (S. 68) und fordert eine Kulturwissenschaft jenseits dieser Dichotomien. Hauschild hält richtig fest, dass sein Ziel das „Ziel aller Ethnologen“ (S. 68) sei, wenn er die akribische Untersuchung lokaler Alltagspraktiken und materieller Zusammenhänge (auch in unseren eigenen Gesellschaften) fordert, die prinzipiell Gegenstand jeder ernstgemeinten Ethnographie sein sollten.

Nicht immer wird der Verfasser den Ansprüchen, die er diskutiert, auch selbst gerecht. Im vierten Kapitel werden z.B. die Produktionsweisen der Mafia diskutiert. Vorwiegend werden hier unterschiedliche Beschreibungen des Phänomens der Mafia nur aneinander gereiht. Es wird kein „robustes Wissen über Beziehungen zwischen Gewalt, Tradition und sozialen Netzwerken in Europa“ (S. 150) geliefert, wie vom Autor selbst gefordert. Immer wieder plädiert Thomas Hauschild für die mikroskopische Perspektive (der Mafia, al-Qa’ida) und eine akribische Untersuchung dieser gewalttätigen Organisationen, ohne selbst in seinem Buch einen erkennbar neuen Beitrag z.B. zur Erforschung von al-Qa’ida zu liefern und ohne auf die methodischen Herausforderungen / Unmöglichkeiten einzugehen, die eine ethnographische Untersuchung gewalttätiger Organisationen jenseits von Texten und von außen Beobachtbarem nach sich ziehen würden. Anhand seiner al-Qa’ida-Untersuchungen versucht Hauschild zu verdeutlichen, welche kulturrelevanten Informationen über die „gewaltsame Durchsetzung des Islam [...] und die (Er)Findung einer Tradition“ (S. 174) den Videobotschaften von Terroristen entnommen werden können. Dabei wird allerdings nicht auf die Tatsache hingewiesen, dass Videobotschaften nur einen Bestandteil einer für die Öffentlichkeit bestimmten Inszenierung und damit nur einen kleinen Ausschnitt kultureller Praktiken darstellen. Undiskutiert bleibt, wie weitere Bereiche von Organisationen wie al-Qa’ida ethnographisch untersucht werden können, die von der Öffentlichkeit abgeschirmt werden, aber tiefere Einblicke bezüglich der Motivation und soziokultureller Praktiken der Anhänger erlauben würden

Weitaus überzeugender gelungen ist Hauschild die Kritik der deutsch-türkischen Konstruktion des "Ehrenmords". Ehrenmorde werden als hybride Erscheinungsform und kulturalistische Projektion skizziert, durch die alles Kultur ist und allen Phänomenen eine kulturspezifische Bedeutung zugeschrieben wird. Das „Kulturmerkmal der Ehre“ (S. 186) würde so verdreht und den eigenen Bedürfnissen angepasst, dass eigentliche sozio-ökonomische Ursachen für Gewalttaten überdeckt würden. Laut Hauschild existiert kein statischer, auf alten Traditionen beruhender Ehrenkodex, der z.B. türkische Männer dazu zwingen würde, Frauen aus der eigenen Verwandtschaft im Falle einer „Ehrverletzung“ zu töten. Insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren wurde auch von deutscher, rechtsstaatlicher Sicht der Standpunkt eines Kulturalismus vertreten, fremde kulturspezifische Normen in die Beurteilung von Gewalttaten mit einfließen zu lassen. Außer Acht gelassen wurden dabei die Aspekte der „kulturellen Flexibilität“ und der „Handlungsermächtigung des Einzelnen“ (S. 189), die durch eine eigenmächtige Auslegung des Ehrkonzepts eine Durchsetzung eigener Interessen oder die Kompensation fehlender sozialer Kontrollmechanismen ermöglichen.

Trotz hochinteressanter Fragestellungen und einiger guter Textabschnitte bzw. Kapitel wird das Buch seinen eigenen Ansprüchen nicht durchgängig gerecht. Bevor der Autor sich auf eine tiefergehende ethnologische Analyse des Untersuchungsgegenstandes eines Kapitels einlässt, begibt er sich bereits zum nächsten Themenblock. Die Ausführungen zu den Themenkomplexen verbleiben zum Teil an der Oberfläche oder konzentrieren sich auf die Erörterung lediglich eines Phänomens – ein Gesamtzusammenhang zum Thema des Kapitels oder gar des Buches wird nur selten hergestellt.
Es wird immer wieder deutlich, dass sich das Buch aus Vorträgen und bereits veröffentlichten Aufsätzen zusammensetzt (die einzeln zum Teil durchaus lesenswert sind) und die ethnologischen Studien Thomas Hauschilds z.B. zur Hexenverfolgung, die katholischen Heiligenkulte in der Basilikata bis hin zu Ehrenmorden zusammenfasst. Es ist legitim und wünschenswert, wenn ein Autor auf seinen reichen Wissensfundus und seine diversen Forschungen der Vergangenheit zur Erklärung soziokultureller Phänomene zurückgreift. Schwer nachvollziehbar wird dies allerdings, wenn es dem Autor wie in dem vorliegenden Werk nicht gelingt, einen plausiblen Zusammenhang zwischen den einzelnen Studien und Forschungsergebnissen herzustellen.

Trotz der mangelnden Stringenz des Buches, zeigt das Werk den Weg auf, der gegangen werden könnte, um Phänomene wie Selbstmordattentate holistisch zu erfassen und zu verstehen. Es werden die richtigen Fragen gestellt, auf die zum Teil die Antworten noch fehlen. Es scheint nicht Anspruch des Verfassers zu sein, diese Fragen zu beantworten. Vielmehr möchte er sowohl einen Forschungsbedarf als auch theoretische und methodische Grundannahmen für die Schließung von der von ihm aufgezeigten Forschungslücke diskutieren. Sehr positiv anzumerken ist das Anliegen des Verfassers auf der Basis ethnographischer Studien und ethnologischer Ansätze einen fachspezifischen Beitrag zu den sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit zu leisten. Es ist bedauernswert, dass es Thomas Hauschild nur bedingt gelingt, Rückschlüsse von der lokalen auf die globale Ebene zu ziehen und damit den Wert ethnographischer Daten und Methoden auch für die Erklärung globaler Phänomene unter Beweis zu stellen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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